Das erste Weihnachtsfest nach dem Krieg — ein Fest der Hoffnung

Das ers­te Weih­nachts­fest nach dem Krieg” ist eine Erin­ne­rung an eine schlim­me Zeit, die ein Leser der Monats­zeit­schrift Stadt­BILD in Gör­litz erlebt und nun für die Aus­ga­be 12/2012 nie­der­ge­schrie­ben hat. Und die­se “Weih­nachts­ge­schich­te” möch­te ich Euch nicht vorenthalten.

Nein, lei­der funk­tio­niert mein PC nach wie vor nicht. Ich habe müh­sam mit mei­nem Smart­phone geschrie­ben, ver­zeiht mir also bit­te Schreibfehler.

Das ers­te Weih­nach­ten nach dem Krieg! Es ist auch nach bei­na­he sie­ben Jahr­zehn­ten noch deut­lich in mei­ner Erin­ne­rung gegen­wär­tig. Ein Weih­nach­ten in völ­li­ger Armut und unter dürf­tigs­ten Ver­hält­nis­sen, wie sie heu­te in Deutsch­land kaum noch vor­stell­bar sind.

Mei­ne Mut­ter ohne Mann mit drei Kin­dern, aus­ge­wie­sen aus dem Sude­ten­land. Wir hat­ten eine klei­ne Woh­nung in Klein­bies­nitz (immer­hin eine eige­ne Woh­nung!) und brauch­ten nicht in einer frem­den Woh­nung in einem abge­tre­te­nen Zim­mer unter­krie­chen. Da wir unweit der frü­he­ren Dru­cke­rei im Schat­ten der ers­ten Buchen der Lan­des­kro­ne wohn­ten, fiel es uns nicht schwer, unter dem dort ver­streut her­um­lie­gen­den Plün­de­rungs­gut eini­ges sicher­zu­stel­len, was den Grund­stock unse­rer Möblie­rung bil­de­te. Aber der ein­zi­ge Kachel­ofen in unse­rer Woh­nung mit den natür­lich ein­fach ver­glas­ten Fens­tern kam nicht an gegen die Käl­te, zumal nas­se Braun­koh­le und Holz nicht das rich­ti­ge Fut­ter für ihn waren.

Und wovon leb­ten wir in einer Zeit, in der es kei­ner­lei kom­mu­na­le oder staat­li­che Unter­süt­zung gab. Das weni­ge Bar­geld, das wir auf der Flucht geret­tet hat­ten, war bald ver­braucht. Mein sie­ben­jäh­ri­ger Bru­der ging nach lan­gen Mona­ten wie­der zur Schu­le; für mei­ne sieb­zehn­jäh­ri­ge Schwes­ter und für mich, sech­zehn­jäh­rig, stand aus finan­zi­el­len Grün­den ein wei­te­rer Schul­be­such über­haupt nicht zur Debat­te. Wir muß­ten arbei­ten, irgend­wie Geld verdienen.

Mei­ne Schwes­ter fand eine Stel­le bei einer Schnei­de­rin, bei der sie für ein paar Pfen­ni­ge Arbei­ten erle­dig­te, die jedes Mäd­chen in ihrem Alter beherrsch­te. Ich konn­te nach lan­ger Suche beim Bäcker­meis­ter Dorn in der Salo­mon­stra­ße im Sep­tem­ber eine Leh­re begin­nen. Ein wah­rer Glücks­fall in die­ser Zeit, in der Satt-essen-kön­nen ein Pri­vi­leg war. Jeden­falls war ich zuhau­se „aus dem Fut­ter“, und zu frie­ren brauch­te ich auch nicht, weder in der Back­stu­be noch in der über dem Back­ofen gele­ge­nen Schlaf­kam­mer. Wenn ich sonn­abends nach der Arbeit, meis­tens erst am Abend, nach Hau­se kam, stand mir zwar eine kal­te Nacht bevor, aber mit dem Vier­pfund­brot, das mir der Meis­ter jedes Mal mit­gab, brach­te ich drei Augen­paa­re zum Leuchten.

Mei­ne Mut­ter, die in die­ser schwe­ren Zeit sehr schnell ein gro­ßes Talent im „Orga­ni­sie­ren“ und „Tau­schen“ ent­wi­ckel­te, hat­te dann bald auch eine alte Näh­ma­schi­ne in der Woh­nung ste­hen und ver­dien­te sich mit dem Nähen und Ändern von Klei­dung etwas Geld.

So rück­te die Weih­nachts­zeit her­an, eine Zeit, in der die Frau­en die aus­ge­sto­che­nen Pfef­fer­ku­chen­plätz­chen und den Teig zur Auf­be­rei­tung der Stol­len zum Bäcker brach­ten, denn wer hat­te damals schon einen E‑Herd in der hei­mi­schen Küche? Nun könn­te man den­ken, dass in einer Zeit, in der es nicht mal das Nötigs­te zum Leben gab, kei­ne Kuchen geba­cken wur­den. Weit gefehlt. Ein schle­si­sches Weih­nachts­fest ohne Stol­len und Pfef­fer­ku­chen war undenk­bar, und so hat­ten die Haus­frau­en von dem Weni­gen, was es auf Lebens­mit­tel­kar­ten gab, schon Wochen vor­her immer etwas gespart. Aus gestop­pel­ten oder manch­mal auch stie­bitz­ten Zucker­rü­ben war in der hei­mi­schen Küche Sirup für die Pfef­fer­ku­chen gekocht wor­den. Zu Hau­se in Bies­nitz stand die Pfan­ne, in der der Rüben­saft ver­dampft und ein­ge­dickt wur­de, tage­lang auf dem Gaskocher.

Wer zu den Glück­li­chen zähl­te, kein Flücht­ling zu sein und die eige­ne Woh­nung unbe­schä­digt über den Krieg geret­tet hat­te, ging aufs Land und tausch­te wert­vol­les Por­zel­lan, über­schüs­si­ge Wäsche und alles, was sich in Tru­hen und Schrän­ken fand und nicht unbe­dingt selbst gebraucht wur­de bei den Land­wir­ten gegen But­ter, Mehl, Quark, Mohn oder Win­ter­äp­fel ein.

In den Tagen vor Weih­nach­ten muss­ten sich die Frau­en im Laden der Bäcke­rei Dorn einen Ter­min zum Brin­gen ihrer Haus­bä­cke­rei geben las­sen, denn anders war der Ansturm in der Back­stu­be nicht zu bewäl­ti­gen. Da waren mit­un­ter auch Kuchen dabei, bei denen in einer Spring­form eine Teig­mas­se aus unde­fi­nier­ba­ren Zuta­ten zusam­men­ge­rühr wor­den war, von der erwar­tet wur­de, dass sie sich mit Hil­fe der bei­gefüg­ten Hefe zu einem anseh­li­chen Kuchen ent­wi­ckeln wür­de. Doch wie lan­ge die Spring­form auch im Ofen stand, der Teig ging nicht auf, beweg­te sich nicht von der Stel­le. Ich sehe im Geis­te noch das ent­täusch­te Gesicht einer Frau vor mir, die einen sol­chen Kuchen abhol­te und die der Meis­ter Dorn teil­neh­mend frag­te, was sie denn da zusam­men­ge­mischt habe, und die dann rot wur­de und etwas von gemah­le­nen Buch­eckern flüsterte.

Auch mei­ne Mut­ter hat­te gespart und „gehams­tert“ und mir die Zuta­ten für Pfef­fer­ku­chen und einen Stol­len mit­ge­ge­ben, so dass ich unter den Augen des Meis­ters mei­ne Weih­nachts­bä­cke­rei erle­di­gen konnte.

So kam Weih­nach­ten her­an. Nun hät­te der Hei­li­ge Abend ja sehr trau­rig wer­den kön­nen, wenn mei­ne Mut­ter und wir drei Geschwis­ter allein gewe­sen wären, uns weh­mü­tig an ver­gan­ge­ne Weih­nachts­fes­te erin­nert und des Vaters, von dem wir nicht wuß­ten, wo er war, gedacht hät­ten. Und so hat­ten wir schon vor län­ge­rer Zeit mit drei Jugend­li­chen unse­res Alters aus der Nach­bar­schaft — Flücht­lin­ge oder Ver­trie­be­ne wie wir — abge­macht, uns zu Hei­lig­abend bei uns zu einer Spie­le­run­de zusam­men­zu­set­zen. Wir hat­ten zwar kein Spie­le­sor­ti­ment, wie es heu­te in jedem Kin­der­zim­mer zu fin­den ist, aber immer­hin einen Satz fran­zö­si­sche Spiel­kar­ten, mit dem wir aller­lei anzu­fan­gen wuß­ten. Mei­ne Mut­ter schloss sich unse­rer Run­de an, und wir hat­ten viel Spaß und viel zu lachen, und so stimm­ten wir auch aus vol­lem Her­zen „O du fröh­li­che, o du seli­ge, gna­den­brin­gen­de Weih­nachts­zeit…“ und ande­re Weih­nachts­lie­der an. Ja, es war eine Gna­de, dass ich wäh­rend der letz­ten Kriegs­ta­ge dem Schick­sal ent­gan­gen war, das vie­le mei­ner Jahr­gangs­ka­me­ra­den hinwegraffte.

Ich kann noch heu­te das Gefühl von Dank­bar­keit und Hoff­nung in mir wach­ru­fen, das mich damals in der weih­nacht­li­chen Run­de beseel­te. Ich emp­fand es als Gna­de, dass wir nicht mehr Krieg hat­ten, und die Hoff­nung, dass nun unser Leben in eine fried­vol­le Zeit mün­den wür­de. Die­se Hoff­nung hat mich dann auch über die Jah­re hin­weg in die Zukunft getra­gen, auch wenn der Weg sehr stei­nig war.

Viel­leicht ist es auch noch einem ande­ren Umstand zu ver­dan­ken, dass ich mich die­ses Hei­li­gen Abends noch so gut erin­ne­re. In eines der Mäd­chen, das mit in unse­rer Run­de saß, habe ich mich näm­lich damals ver­liebt. Aber es zog mit sei­nen Ver­wand­ten schon weni­ge Tage nach Weih­nach­ten wei­ter in Rich­tung Wes­ten, und so blieb mir von die­ser kur­zen Ver­liebt­heit nur die Erin­ne­rung an einen ein­zi­gen Kuss.

Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Stadt­BILD-Ver­la­ges Görlitz

 

 

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