Kategorie: Geschichte

Europäischer Tag der Jüdischen Kultur” im Deutschen Auswandererhaus

Am Sonn­tag, 4. Sep­tem­ber 2016, wird in rund 30 Län­dern der “Euro­päi­sche Tag der Jüdi­schen Kul­tur” began­gen. Das Deut­sche Aus­wan­der­er­haus Bre­mer­ha­ven bie­tet an die­sem Tag Ein­füh­run­gen in die Kabi­nett­aus­stel­lung „Deutsch und Jüdisch“ des Leo Baeck Insti­tuts New York | Ber­lin an.

"Europäischer Tag der Jüdischen Kultur"

Der Gedenk­tag erin­nert an die Geschich­te und die Gegen­wart der Juden in Euro­pa. Die Aus­stel­lung des LBI New York-Ber­lin zeugt von der tra­di­ti­ons­rei­chen Ver­gan­gen­heit deutsch­spra­chi­ger Juden, die als Bestand­teil der deut­schen Geschich­te zu ver­ste­hen ist. Die Kabi­nett­aus­stel­lung zeigt All­tags­ob­jek­te, die das jüdi­sche Leben in Deutsch­land reprä­sen­tie­ren, dar­un­ter zwei Scho­ko­la­den­tas­sen aus dem Nach­lass des Nobel­preis­trä­gers Albert Einstein.

Am „Euro­päi­schen Tag der Jüdi­schen Kul­tur“ öff­net das Deut­sche Aus­wan­der­er­haus die Schau „Deutsch und Jüdisch“ an drei Ter­mi­nen für Inter­es­sier­te zu einem kos­ten­lo­sen Besuch. Treff­punkt ist um 11.00, 15.00 und 17.00 Uhr im Muse­ums­foy­er. Außer­halb die­ser Ter­mi­ne kann die Kabi­nett­aus­stel­lung nur in Kom­bi­na­ti­on mit der Dau­er­aus­stel­lung des Deut­schen Aus­wan­der­er­hau­ses besucht wer­den. Eine Anmel­dung wird auf­grund der begrenz­ten Teil­neh­mer­zahl emp­foh­len unter der Ruf­num­mer 0471/90220–0 oder an der Kasse.

Die Kabi­nett­aus­stel­lung „Deutsch und Jüdisch“ des Leo Baeck Insti­tuts New York | Ber­lin ist bis Sams­tag, 10. Sep­tem­ber 2016 im Deut­schen Aus­wan­der­er­haus zu sehen.
Wei­te­re Informationen:
www.dah-bremerhaven.de
Deut­sches Auswandererhaus
Colum­bus­stra­ße 65
27568 Bremerhaven
E‑Mail:
presse@dah-bremerhaven.de

Historischer Stadtrundgang durch das “alte Leherheide” — 2

Das „moder­ne Leher­hei­de“: Leher­hei­de-West
und aktu­el­le Entwicklungen

alte Leherheide

Wäh­rend des drit­ten Rund­gan­ges wen­den wir uns Leher­hei­de-West zu, das dem Stadt­teil (seit 1971) Leher­hei­de seit den 1960ern ins­be­son­de­re durch die vor allem von der GEWOBA gestal­te­ten Neu­bau­ge­bie­te ein neu­es Gesicht gege­ben hat. Wir begin­nen bei der Hein­rich-Hei­ne-Schu­le, einer der ers­ten inte­grier­ten Gesamt­schu­len Deutsch­lands, beschäf­ti­gen uns mit der Stadt­teil­bi­blio­thek, die im Zuge der Umge­stal­tung des Juli­us-Leber-Plat­zes 2011 ein neu­es Gebäu­de erhal­ten hat, und gehen am Heid­jer-Stein vor­bei Rich­tung Frei­zeit­treff. Der Rund­gang endet am Her­bert-Rit­ze-Weg, wo wir uns mit den aktu­el­len Ent­wick­lun­gen des Stadt­teils Leher­hei­de beschäf­ti­gen.
Treff­punkt:
Frei­tag, 19. August 2016, 15–17 Uhr
Hein­rich-Hei­ne-Schu­le, Hans-Böck­ler-Str. 30, Haupteingang

Refe­ren­ten:
Wolf­gang Schmidt, His­to­ri­ker und Autor der „Stadt­teil­ge­schich­te Leher­hei­de“
Dr. Julia Kah­leyß, Stadt­ar­chiv Bremerhaven

Historischer Stadtrundgang durch das “alte Leherheide”

Von den “Mecklenburgern” bis zur Fritz-Husmann-Schule: Einblicke in das “alte Leherheide”

das "alte Leherheide"Die Rund­gän­ge über Leher­hei­de begin­nen mit den Anfän­gen der Besied­lung der “Leher Hei­de” ab Mit­te des 19. Jahr­hun­derts. Behan­delt wer­den die Häu­ser der Brei­ten­bach­stra­ße, Gut Blu­men­au und die Häu­ser am Meck­len­bur­ger Weg. Zur frü­hen Geschich­te gehö­ren auch die Leh­rer Johan­nes Fli­cken­schildt und Fritz Hus­mann und ein wach­sen­des Ver­eins­le­ben, die das kul­tu­rel­le und sozia­le Mit­ein­an­der in Leher­hei­de stark präg­ten. Zum Schluss des Rund­gan­ges lädt die Fritz-Hus­mann-Schu­le zu einer Füh­rung über das Schul­ge­län­de ein.
Treff­punkt:
Don­ners­tag, 11. August 2016, 15–17 Uhr
Deb­sted­ter Weg/Einmündung Breitenbachstraße

Refe­ren­ten:
Wolf­gang Schmidt, His­to­ri­ker und Autor der “Stadt­teil­ge­schich­te Leher­hei­de”
Dr. Julia Kah­leyß, Stadt­ar­chiv Bremerhaven

Erich Sturk: Erinnerungen an die Humboldtschule in Geestemünde

Erin­ne­run­gen an die Hum­boldt­schu­le in Geest­e­mün­de” – das ist eine Chro­nik des Auf­bau­zu­ges der Hum­boldt­schu­le des Jahr­gan­ges 1943 – 1947 aus der Feder des ehe­ma­li­gen Schü­lers Erich Sturk. Zunächst erin­nert Erich Sturk an die Pla­nung und an den Bau der Hum­boldt­schu­le in Geest­e­mün­de. Anschlie­ßend erzählt er in beein­dru­cken­der und oft­mals in bedrü­cken­der Wei­se, was er dort als Schü­ler erlebt hat. 

Die Humboldtschule in Geestemünde

Im Jah­re 1924 wur­de von der soge­nann­ten Volks­schul­de­pu­ta­ti­on der Stadt Geest­e­mün­de der Bau einer Volks­schu­le in der Schil­ler­stra­ße in Geest­e­mün­de beschlos­sen. Die­sem Beschluss ging eine Pla­nungs­pha­se vor­aus, die sich bis in die Zeit vor dem 1. Welt­krieg zurück erstreckt. Der Plan begrün­de­te sich auf der Not­wen­dig­keit, die Klas­sen­fre­quenz in den vor­han­de­nen Schu­len Geest­e­mün­des zu sen­ken und gleich­zei­tig das Bil­dungs­an­ge­bot zu erhöhen.

Die lan­ge Pla­nungs­pha­se erklärt sich aus dem Aus­bruch des 1. Welt­krie­ges und der nach­fol­gen­den Infla­ti­on, die den Bau­be­ginn wie­der­um ver­zö­ger­te. Unter der Lei­tung von Stadt­bau­rat Dr. Wil­helm Kunz ent­stan­den die Vor­ent­wür­fe und die Kos­ten­schät­zun­gen. Im Jah­re 1928 konn­te mit den Vor­ar­bei­ten begon­nen wer­den. Die ein­set­zen­de Wirt­schafts­kri­se Ende der zwan­zi­ger Jah­re ver­zö­ger­te den Bau­be­ginn erneut, da die erfor­der­li­chen Gel­der für den Bau der Schu­le von der Stadt nicht auf­ge­bracht wer­den konnten.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Dank der Bewil­li­gung einer bean­trag­ten Staats­hil­fe konn­te die Schu­le im April 1930 durch den dama­li­gen Ober­bür­ger­meis­ter Wal­ter Deli­us der Öffent­lich­keit über­ge­ben wer­den. Unter der Lei­tung von Rek­tor Graue ent­schloss sich das dama­li­ge Schul­kol­le­gi­um, der neu­en Schu­le den Namen Hum­boldt­schu­le zu geben.

Es war von vorn­her­ein beab­sich­tigt, der Volks­schu­le geho­be­ne Bil­dungs­klas­sen für einen mitt­le­ren Bil­dungs­gang anzu­glie­dern. So ent­stan­den 1933 vier geho­be­ne Klas­sen, die soge­nann­ten G‑Klassen. Die Auf­nah­me­be­din­gun­gen für den G‑Zweig und die Leis­tungs­an­for­de­run­gen waren schon damals sehr hoch. Die Wie­der­ho­lung eines Schul­jah­res war aus­ge­schlos­sen, wer die Anfor­de­run­gen nicht erfüll­te, muss­te den Zweig ver­las­sen und zur Volks­schu­le zurückkehren.

Die Humboldtschule in Geestemünde

In der dama­li­gen Stadt Weser­mün­de gab es in den drei­ßi­ger Jah­ren drei Schu­len mit dem G‑Zweig. Die­ses waren in Geest­e­mün­de die Hum­boldt­schu­le, in Mit­te die Pes­ta­loz­zi­schu­le und in Lehe die Kör­ner­schu­le. Die Schü­ler­schaft für die­sen Zweig kam bei der Hum­boldt­schu­le aus den bestehen­den Geest­e­mün­der Volks­schu­len, der Her­mann-Löns-Schu­le, der Alt­geest­e­mün­der Mäd­chen­schu­le, der Neu­markt­schu­le, der All­mers­schu­le und aus dem Volks­schul­zweig der Hum­boldt­schu­le. Gleich­zei­tig stand der Zweig begab­ten Schü­lern aus den Wuls­dor­fer Schu­len und den Schu­len des süd­li­chen Land­krei­ses offen.

Am 15. Dez. 1939 wur­de auf Anord­nung des Reichs­mi­nis­ters für Wis­sen­schaft, Erzie­hung und Volks­bil­dung der G‑Zweig in den soge­nann­ten Auf­bau­zug umge­wan­delt. Das Ziel die­ser Schul­re­form war es, eine Alter­na­ti­ve zu den Ober­schu­len und Gym­na­si­en zu bil­den und den Schul­ab­gän­gern damit bes­se­re Berufs­chan­cen zu bie­ten. Die Vor­aus­set­zun­gen für die­se Plä­ne war ein hoch­qua­li­fi­zier­ter Lehr­kör­per und ein Lehr­plan, der erhöh­te Anfor­de­run­gen an die Fächer Deutsch, Lei­bes­er­zie­hung, Lebens­kun­de , Geschich­te und Musik beinhal­te­te. Im Zuge des dama­li­gen Zeit­geis­tes kam die poli­ti­sche Erzie­hung hinzu.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Für uns Schü­ler der Gebur­ten­jahr­gän­ge 1930/31 waren die Vor­aus­set­zun­gen für die Auf­nah­me in den Auf­bau­zug ein guter Noten­quer­schnitt und sowie eine Emp­feh­lung des Schul­lei­ters als Ver­merk im letz­ten Schul­zeug­nis der Volks­schu­le. Gleich­zei­tig muss­te der Nach­weis über die erfolg­rei­che Teil­nah­me an einem zwei­jäh­ri­gem vor­be­rei­ten­den Eng­lisch­un­ter­richts­kur­sus an der Volks­schu­le erbracht werden.

Im Auf­bau­zug wur­de als Erzie­hungs­form die Koedu­ka­ti­on prak­ti­ziert, d. h. Jun­gen und Mäd­chen wur­den gemein­sam unter­rich­tet. Die­se Form war für uns neu, da die Volks­schu­le nur eine nach Geschlech­tern getrenn­te Erzie­hung kann­te. Der Anteil an Jun­gen und Mäd­chen hielt sich die Waa­ge, die Sitz­plät­ze waren jedoch durch einen Gang getrennt.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Der Lehr­kör­per des Jah­res 1943 bestand unter der Lei­tung von Rek­tor Graue aus den Damen Rothe (Zwie­bel), Beck­mann (Isa­bel­la), von Zobel (Zo — obel), die Eng­lisch­un­ter­richt erteil­ten, den Damen Mül­ler für Turn­un­ter­richt der Mäd­chen und Pas­sier für Musik, sowie den Her­ren Hage­mann (Ferd) als Klas­sen­leh­rer und Fach­leh­rer für Deutsch, Geschich­te und Erd­kun­de, Bra­se für Raum- und Natur­leh­re und Gabrich als Lei­ter der Leibeserziehung.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Die vor­ste­hend genann­ten Fächer­be­zeich­nun­gen waren neu und stell­ten eine Ein­deut­schung der Begrif­fe wie Mathe­ma­tik, Phy­sik und Bio­lo­gie usw. dar. Beson­de­rer Wert wur­de auf die Lei­bes­er­zie­hung gelegt, die para­mi­li­tä­ri­schen Cha­rak­ter hat­te. Zu Beginn des Unter­richts muss­te die Klas­se antre­ten und der Klas­sen­äl­tes­te mach­te dem Leh­rer Mel­dung über die Zahl der ange­tre­te­nen Schü­ler und die Begrün­dung der Krank­mel­dun­gen. Ent­spre­chend hart war der Umgangs­ton. Wur­de ein Schü­ler beim Spre­chen mit dem Nach­barn oder bei einer ande­ren Unauf­merk­sam­keit erwischt, muss­te er mit der Auf­for­de­rung “Du robbst, Du Schwein, Du Sau­pe­sel.….” drei Ehren­run­den auf dem Bauch rob­bend um die Turn­hal­le dre­hen. Die glei­che stren­ge Erzie­hung herrsch­te beim Schwimm­un­ter­richt im dama­li­gen Mari­en­bad. Nach dem vor­an­ge­hen­den Duschen wur­de ange­tre­ten und der Kör­per auf Sau­ber­keit kon­trol­liert. Waren die Kri­te­ri­en nicht aus­rei­chend erfüllt, lau­te­te der Spruch “Du hast Dich wohl seit Dei­ner Geburt nicht gewa­schen. Zurück unter die Dusche, marsch, marsch… .”

Musik­un­ter­richt hat­ten wir bei Frau Pas­sier, die sich sehr enga­gier­te. Er fand im Musik­zim­mer der Schu­le statt, wo ein gro­ßer schwar­zer Flü­gel stand. Wenn wir kei­ne Lust zum Sin­gen hat­ten, baten wir Frau Pas­sier, uns den Erl­kö­nig vor­zu­tra­gen. Sie setz­te sich dann an den Flü­gel und sang und spiel­te, und ich habe es als wun­der­vol­le Inter­pre­ta­ti­on in Erinnerung.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Die Unter­richts­zeit betrug an fünf Tagen der Woche jeweils sechs Ein­hei­ten á 45 Minu­ten und ging von 8.00 — 13.45 Uhr. Bei nächt­li­chen Flie­ger­alarm nach 22.00 Uhr begann der Unter­richt um 9.30 Uhr und die Ein­hei­ten wur­den in Kurz­stun­den umge­wan­delt, wobei die Fächer­kom­bi­na­ti­on bestehen blieb. Aber auch tags­über wur­de der Unter­richt oft durch alli­ier­te Bom­ber­ver­bän­de, die über die Deut­sche Bucht ein­flo­gen, unter­bro­chen, und der Luft­schutz­kel­ler der Schu­le muss­te auf­ge­sucht wer­den. Die Klas­sen­fre­quenz schwank­te dau­ernd, da eini­ge Klas­sen­ver­bän­de der Volks­schu­len erst Ende des Jah­res 1943 bzw. Anfang des Jah­res 1944 aus der Kin­der­land­ver­schi­ckung und den besetz­ten Ost­ge­bie­ten zurück­kehr­ten. Hin­zu kamen Sude­ten­deut­sche und Sie­ben­bür­ger Sach­sen, die dem Ruf “Heim ins Reich” gefolgt waren.

Die schu­li­schen Leis­tun­gen lit­ten auch unter den außer­schu­li­schen Belas­tun­gen durch den Dienst im Jung­volk bzw. im Jung­mä­del­bund mit vie­len Auf­ga­ben wie Spinnstoff‑, Alt­ma­te­ri­al- und Heil­kräu­ter­samm­lun­gen, Stra­ßen­samm­lun­gen für das Win­ter­hilfs­werk, zusätz­li­chen Füh­rer­dienst, Aus­bil­dung im Luft­schutz und Ein­be­ru­fun­gen zu Lehr­gän­gen in die Gebiets­füh­rer­schu­len Dib­ber­sen und Han­kens­büt­tel. In der Vor­weih­nachts­zeit wur­de Spiel­zeug gebas­telt, das an die Kin­der ver­teilt wur­de, deren Väter im Fel­de standen.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Hin­zu kam ein Dienst als Brand­wa­che in der Schu­le, die tags­über nach Schul­schluss von den jün­ge­ren und nachts von den älte­ren Jahr­gän­gen gestellt wur­de, für mich ein Flug­mo­dell­bau­lehr­gang der Flie­ger-HJ bei dem Modell­bau­leh­rer Ernst Olter­mann in der Mit­tel­stras­se, ein Lehr­gang im Mor­sen, der in der Her­mann-Löns-Schu­le von der Nach­rich­ten-HJ unter Lei­tung eines Offi­ziers des Flug­ha­fens Wed­de­war­den erteilt wur­de und der Hilfs­ein­satz bei den Bom­ben­an­grif­fen in den Jah­ren 1943 und 1944.

Eine beson­de­re Leis­tung stell­te für mich der Dienst als Luft­schutz­mel­der in den Räu­men der Orts­grup­pe Neu­markt dar, zu dem ich abkom­man­diert war. Ich bekam einen Stahl­helm und eine Gas­mas­ke gestellt und muss­te mich bei Flie­ger­alarm auf der Dienst­stel­le der Orts­grup­pe in der Max-Diet­rich-Stra­ße ein­fin­den. Ein Aus­weis erlaub­te mir den Auf­ent­halt auf den Stra­ßen bei Flie­ger­alarm. Den Flä­chen­an­griff mit Spreng­bom­ben auf Geest­e­mün­de am 15. Juni 1944 erleb­te ich in der Dienst­stel­le, und ich muss­te gleich nach dem Angriff los­lau­fen und alle Schä­den im Bereich der Orts­grup­pe fest­stel­len und mel­den. Dabei kam ich mir natür­lich sehr wich­tig und unent­behr­lich vor.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Das Flä­chen­bom­bar­de­ment wur­de im Juni fort­ge­setzt. Am 17. Juni erfolg­te der Angriff auf den Fische­rei­ha­fen und am 18. Juni der Angriff auf den Stadt­teil Lehe. Nach die­sen Angrif­fen wur­de ich zur Nach­rich­ten-HJ abkom­man­diert, und wir erhiel­ten die Auf­ga­be, das zer­stör­te Tele­fon­netz, das damals noch ein Frei­lei­tungs­netz war, durch Feld­te­le­fo­ne zu erset­zen, damit die Ein­satz­lei­tun­gen mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren konn­ten. Das Mate­ri­al hier­für hol­ten wir mit einem Hand­wa­gen vom Flug­platz Wed­de­war­den und von der Mari­ne­schu­le. Mit Lei­tern, Steig­ei­sen und Kabel­trom­meln aus­ge­stat­tet, ver­leg­ten wir ein pro­vi­so­ri­sches Frei­lei­tungs­netz auf den Stra­ßen, das alle wich­ti­gen Stel­len mit­ein­an­der ver­band. Die Ver­mitt­lung wur­de auf der Bann­dienst­stel­le in der Köper­stra­ße und im HJ-Heim im Saar­park ein­ge­rich­tet, und ich muss­te hier zusam­men mit ande­ren Kame­ra­den Ver­mitt­lungs­diens­te leisten.

Die außer­schu­li­sche Belas­tung, die natür­lich Aus­wir­kun­gen auf die schu­li­schen Leis­tun­gen hat­te, wur­de nicht von allen Kräf­ten des Lehr­kör­pers akzep­tiert. Ich erin­ne­re mich, dass sich unse­re dama­li­ge Eng­lisch­leh­re­rin, Fräu­lein von Zobel, von der Klas­se mit den Wor­ten ver­ab­schie­de­te: “Ich habe mich auf­grund der Faul­heit, die in den Klas­sen des Auf­bau­zu­ges herrscht, zur Volks­schu­le zurück­ver­set­zen lassen.”

Die Humboldtschule in Geestemünde

Eine Zäsur in der dama­li­gen Schul­zeit stellt der Beginn der Som­mer­fe­ri­en 1944 dar. Durch die Gefahr der sich meh­ren­den Flie­ger­an­grif­fe ent­schloss sich die Schul­ver­wal­tung, alle Schu­len im dama­li­gen Weser­mün­de zu schlie­ßen und die Kin­der aufs Land zu eva­ku­ie­ren. Für die Klas­sen der Hum­boldt­schu­le war der Raum Schee­ßel — Roten­burg vor­ge­se­hen. Wir ver­lie­ßen Bre­mer­ha­ven in einem Sam­mel­zug unter der Lei­tung unse­res Klas­sen­leh­rers Herrn Hage­mann und der HJ-Zug­be­glei­tung, Stamm­füh­rer Erich Boh­ling, in Rich­tung Roten­burg. Die Fahrt ging über Bre­mer­vör­de — Zeven, und ab Bre­mer­vör­de wur­den die ers­ten Klas­sen an den Bahn­hö­fen ausgesetzt.

Unser Fahrt­ziel war der Ort Lau­en­brück in der Nähe von Schee­ßel am Ran­de der Lüne­bur­ger Hei­de. Hier stand ein Acker­wa­gen bereit, auf den wir unser Gepäck ver­lu­den, und dann mar­schier­ten wir zum 4 km ent­fern­ten Ort Stem­men, einem klei­nen Bau­ern­dorf. Unter der Dorf­lin­de muss­ten wir uns auf­stel­len, und die Bau­ern, die uns auf­neh­men soll­ten, such­ten sich aus unse­ren Rei­hen ihr Pfle­ge­kind aus. Dass sie im Hin­ter­kopf den Gedan­ken an eine Arbeits­kraft hat­ten, wird die Ent­schei­dun­gen bei der Aus­wahl sicher­lich beein­flusst haben.

Ich kam auf einen Hof etwas außer­halb des Ortes, nahe der dama­li­gen Reichs­stra­ße 75. Mein “Zim­mer” war eine klei­ne Kam­mer, in der ein Bett stand und ein Stuhl Platz hat­te, auf den ich mei­nen Kof­fer stel­len konn­te. Nachts hör­te ich die Mäu­se unter mei­nem Bett knab­bern und die alli­ier­ten Bom­ber­ver­bän­de nach Ham­burg flie­gen. Wenn es gar zu sehr brumm­te, weck­te mich der Bau­er, und ich muss­te mich anzie­hen. Waschen konn­te ich mich drau­ßen unter der Pum­pe, der ein­zi­gen Was­ser­stel­le des Hofes, die Toi­let­te war ein Plumps­klo drau­ßen neben dem Schweinestall.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Sonn­abends ging es abends zusam­men mit den fran­zö­si­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen nach Wüm­me­tal, wo die Wüm­me eine Furt bil­de­te und man im seich­ten Was­ser ein Voll­bad neh­men konn­te. Mei­ne Haus­ge­nos­sen waren der Bau­er und sei­ne Frau, eine mir gleich­alt­ri­ge Toch­ter und drei pol­ni­sche Zivil­ar­bei­ter, die ihre Mahl­zei­ten an einem geson­der­ten Tisch ein­neh­men mussten.

Der Schul­un­ter­richt wur­de wie­der auf­ge­nom­men. Das Dorf besaß eine ein­klas­si­ge Volks­schu­le, und wir teil­ten uns die vor­han­de­nen zwei Klas­sen­räu­me mit der Dorf­ju­gend, die von dem Leh­rer Selig unter­rich­tet wur­de. Turn­un­ter­richt hat­ten wir gemein­sam in Form einer Art Schlacht­ball­spiel, das wir mit einem Medi­zin­ball aus­tru­gen. Herr Hage­mann unter­rich­te­te uns sou­ve­rän in allen Fächern bis auf Eng­lisch. Er fand bewun­derns­wer­ter Wei­se sogar noch die Zeit, uns Unter­richt in Ste­no­gra­phie zu geben. Zum Eng­lisch­un­ter­richt mar­schier­ten wir gemein­sam nach Lau­en­brück, wo Fräu­lein Beck­mann mit ihrer Klas­se unter­ge­bracht war und sie die Mög­lich­keit hat­te, uns nach­mit­tags zu unterrichten.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Das Dorf lag in der Ein­flug­schnei­se der alli­ier­ten Flie­ger nach Ham­burg und Ber­lin, und wenn tags­über die Bom­ber­ver­bän­de in gro­ßer Höhe mit lan­gen Kon­dens­strei­fen hin­ter sich her­zie­hend das Dorf über­flo­gen, muss­ten wir den im Schul­hof befind­li­chen Split­ter­bun­ker auf­su­chen, wo der Unter­richt fort­ge­setzt wur­de. Meh­re­re Male erleb­ten wir, dass eine von den vier­mo­to­ri­gen Boing Fort­ress abstürz­te und die Besat­zun­gen gefan­gen genom­men wur­den. Anschlie­ßend durch­stö­ber­ten wir die Maschi­nen, schau­ten uns alles an und nah­men ver­bo­te­ner Wei­se Leucht­spur­mu­ni­ti­on der Bord­ka­no­nen an uns. Gott sei Dank ist damit nie etwas ernst­haf­tes pas­siert, obwohl ein­mal bei einem Bau­ern wun­der­sa­mer Wei­se der Koh­le­ofen explodierte.

Neben dem Unter­richt mach­ten wir Ern­te­ein­satz bei den Bau­ern oder wur­den gemein­sam zum Suchen von Kar­tof­fel­kä­fern oder zum Sam­meln von Buch­eckern ein­ge­setzt. Auch such­ten wir in den Wäl­dern nach Reser­ve­ka­nis­tern, die von den neu­er­dings ein­ge­setz­ten Focke Wulf 200, den ers­ten Düsen­jä­gern, bei ihren Abfang­ein­sät­zen abge­wor­fen wurden.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Der Dienst im Jung­volk trat in den Hin­ter­grund. Wir wur­den zwar dem bestehen­den Jung­zug im Ort ein­ge­glie­dert, aber ein regel­mä­ßi­ger Dienst fand nicht statt. Die Bau­ern­jun­gen, deren Väter meis­tens ein­ge­zo­gen waren, hat­ten genug mit der Ern­te und der Arbeit auf dem Hof zu tun. Nur wenn grö­ße­re Ver­an­stal­tung geplant waren, muss­ten wir in Uni­form teil­neh­men. Ich erin­ne­re mich an einen Bann­ap­pell in Schee­ßel, bei dem der Bann­füh­rer in glü­hen­den Wor­ten den nahe bevor­ste­hen­den End­sieg ankün­dig­te und uns, die Jahr­gän­ge 1930/31 zu einer frei­wil­li­gen Mel­dung zum Dienst in der Waf­fen-SS, Divi­si­on Hit­ler­ju­gend auf­for­der­te. Es muss­te jedoch eine Ein­ver­ständ­nis­er­klä­rung der Eltern bei­gebracht wer­den, die kei­ner von uns erhielt.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Um die Herbst­fe­ri­en gab es einen Kampf. Die Bau­ern woll­ten uns zur Kar­tof­fel­ern­te dabe­hal­ten, aber wir woll­ten natür­lich nach Hau­se zu unse­ren Eltern. Nach lan­gem Hin — und Her durf­ten wir am 16. Sep­tem­ber nach Weser­mün­de fah­ren. Es gab noch ein Hin­der­nis mit der Bahn, denn am Schal­ter durf­ten kei­ne Fahr­kar­ten aus­ge­ge­ben wer­den, wenn die Fahr­stre­cke mehr als 100 km betrug. Wir umgin­gen die­ses Pro­blem, lös­ten eine Fahr­kar­te bis Roten­burg, fuh­ren dort­hin und lös­ten dort eine Fahr­kar­te nach Weser­mün­de. Die Züge hat­ten einen fla­chen Güter­wa­gen mit einem dar­auf mon­tier­ten leich­ten Flak­ge­schütz hin­ter dem Ten­der und am Ende des Zuges — zur Abwehr feind­li­cher Tief­flie­ger, die oft und ger­ne die fah­ren­den Züge angrif­fen. Nach­dem ich glück­lich zu Hau­se ange­kom­men war, erfolg­te zwei Tage spä­ter, am 18. Sep­tem­ber 1944 der Groß­an­griff alli­ier­ter Bom­ber auf Bre­mer­ha­ven. Unser Haus brann­te nie­der, ich ver­brach­te die Nacht, im Split­ter­gra­ben vor dem Feu­er­sturm geschützt, auf dem Geest­e­mün­der Neumarkt.

Mit Been­di­gung der Herbst­fe­ri­en muss­ten wir nach Stem­men zurück, wenn wir in der Klas­se ver­blei­ben woll­ten. Der Platz auf dem Hof wur­de enger, aus­ge­bomb­te Fami­li­en aus Ham­burg, Bre­men und Weser­mün­de muss­ten auf­ge­nom­men wer­den, und im Janu­ar 1945 erreich­ten die ers­ten Flücht­lings­trecks aus Ost- und West­preu­ßen das Dorf.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Die Schul­räu­me wur­den beschlag­nahmt und dien­ten nun­mehr einer flä­mi­schen Waf­fen- SS-Ein­heit als Unter­kunft. Herr Hage­mann bewirk­te, dass uns der Club­raum des Dorf­kru­ges vor­mit­tags zur Ver­fü­gung gestellt wur­de, und so fand der Unter­richt nun­mehr bei “Schul­ten Johann” statt. Drau­ßen mar­schier­ten schnei­dig und laut sin­gend die Fla­men vor­bei. Im Saal des Dorf­kru­ges waren die fran­zö­si­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen unter­ge­bracht, die tags­über bei den Bau­ern arbei­te­ten und nachts von einem Volks­sturm­mann im Saal ein­ge­schlos­sen wur­den. Anschlie­ßend kamen sie durch die Fens­ter wie­der her­aus und tra­fen sich im Dorf.

Der Krieg kam näher, und Herr Hage­mann erhielt eine Ein­be­ru­fung zum Volks­sturm. Es gelang ihm jedoch, eine Frei­stel­lung zu erwir­ken. So konn­te der Unter­richt bis zu den Oster­fe­ri­en 1945 fort­ge­setzt wer­den. Neben all den erns­ten Ereig­nis­sen, die die Zeit und die Umstän­de mit sich brach­ten, gab es aber auch schö­ne Erleb­nis­se, an die ich mich ger­ne erinnere.

Zum einen war die­ses das haut­na­he Erle­ben der Natur, das für mich als Stadt­kind ein völ­lig neu­es Gefühl bedeu­te­te. Zum ande­ren war es das Gefühl der Not­ge­mein­schaft, das uns zusam­men­hal­ten ließ.

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In schöns­ter Erin­ne­rung sind mir die win­ter­li­chen Sonn­tag­nach­mit­ta­ge auf der Die­le beim Bau­ern Hoops. Hier kamen wir beim Schein der Petro­le­um­lam­pe mit der Dorf­ju­gend zusam­men. Anne­gret Bäss­mann spiel­te auf dem Akkor­de­on, und wir tanz­ten dazu, wäh­rend die Kühe in den Ver­schlä­gen mit den Ket­ten ras­sel­ten und brumm­ten. Unser schöns­tes Lied war das Lied der KLV, das wohl von Mil­lio­nen Schul­kin­dern in allen Land­ver­schi­ckungs­la­gern des Deut­schen Rei­ches und der angren­zen­den Ost­ge­bie­te gesun­gen wur­de und mit dem ers­ten Vers begann:

 Abends am Lager­feu­er sit­zen wir,
geden­ken der Hei­mat und plau­dern von ihr.
Zu Vater und Mut­ter daheim
kehr’n die Gedan­ken ins Eltern­haus ein. 

Nach den Oster­fe­ri­en wur­de der Schul­un­ter­richt nicht wie­der auf­ge­nom­men. Die Front der eng­li­schen Trup­pen waren unse­rem Auf­ent­halts­ort bedenk­lich nahe gerückt. So ent­schloss sich unser Klas­sen­leh­rer, Herr Hage­mann, mit Unter­stüt­zung von einem ange­reis­ten Vater eines Mit­schü­lers zu einer aben­teu­er­li­chen Heim­rei­se mit drei ver­blie­be­nen Schü­lern. Sein Plan war, mit dem Fahr­rad Bre­mer­vör­de zu errei­chen und dort eine Fahr­ge­le­gen­heit mit dem Zug nach Weser­mün­de zu ergat­tern. Unse­re Polen auf dem Hof hat­ten heim­lich am Radio feind­li­che Pro­pa­gan­da­sen­der abge­hört und dabei ver­nom­men, dass um Bre­mer­vör­de schon Kämp­fe statt­fan­den. Trotz ihrer War­nun­gen schloss ich mich der Grup­pe an.

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Wir star­te­ten gegen Mit­tag in Stem­men und fuh­ren über die Land­stra­ßen, die voll­ge­stopft waren mit Pan­zern, Last­wa­gen und Sturm­ge­schüt­zen und den dazu­ge­hö­ri­gen Land­sern. Durch eine Pan­ne am Fahr­rad blieb ich zurück und ver­lor den Anschluss an die Grup­pe. Land­ser hal­fen mir beim Fli­cken des Rades, es wur­de spät, und ich hat­te den Mut ver­lo­ren, Bre­mer­vör­de bei Tages­licht zu errei­chen So ent­schloss ich mich, nach Zeven zu fah­ren. Alle Augen­bli­cke muss­te ich anhal­ten und vom Rad sprin­gen, da Tief­flie­ger in nied­ri­ger Höhe die Land­stra­ßen abflo­gen und auf alles schos­sen, was sich bewegte.

Ich erreich­te jedoch den Bahn­hof von Zeven vor Ein­bruch der Dun­kel­heit und muss­te dort den Luft­schutz­kel­ler auf­su­chen, da Flie­ger­alarm herrsch­te. Plötz­lich ging ein Rau­nen durch den Luft­schutz­raum: “Der Zug kommt!” Alles stürm­te nach drau­ßen, und es gelang mir, einen Platz im Zug zu fin­den. Bei der Ein­fahrt in Bre­mer­vör­de schau­te ich aus dem Fens­ter und sah die Grup­pe mit Herrn Hage­mann auf dem Bahn­steig ste­hen. Um Mit­ter­nacht erreich­te der Zug tat­säch­lich den Haupt­bahn­hof von Wesermünde.

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Am 8. Mai 1945 war mit der Kapi­tu­la­ti­on und mit dem Ein­marsch der High­land Divi­si­on in das Stadt­ge­biet der Krieg zu Ende. Die Wirr­nis­se der Zwi­schen­zeit stel­len eine Geschich­te für sich dar und gehö­ren nicht in die­se Chro­nik. Dazu gehört jedoch der Tod unse­res Rek­tors Graue in den letz­ten Kriegs­ta­gen: Er hat­te sich nach Kühr­stedt eva­ku­iert, um dort das Kriegs­en­de abzu­war­ten. Beim Beschuss des Dor­fes durch die Eng­län­der von Beder­ke­sa aus ver­ließ er das schüt­zen­de Haus und wur­de von einer kre­pie­ren­den Gra­na­te töd­lich verletzt.

Das Kriegs­en­de mit dem unglück­li­chen Aus­gang stellt erneut eine Zäsur für die Ent­wick­lung der Schu­le dar. Die Besat­zungs­macht setzt eine Mili­tär­re­gie­rung ein, die wie­der­um kom­mis­sa­risch eine Stadt­ver­wal­tung aus poli­tisch unbe­las­te­ten Leu­ten zusam­men­stellt. Die ers­ten Auf­ga­ben die­ser Ver­wal­tung sind die Rück­füh­rung und Unter­brin­gung der eva­ku­ier­ten Bevöl­ke­rung und deren Ver­sor­gung. Die Ver­wal­tung wird in die Pes­ta­loz­zi­schu­le ein­quar­tiert und nimmt hier ihre Arbeit auf. Die Schu­len blei­ben auf unbe­stimm­te Zeit geschlos­sen, da die Leh­rer­schaft durch die von der Mili­tär­re­gie­rung ein­ge­setz­ten soge­nann­ten Spruch­kam­mern erst auf ihre poli­ti­sche Unbe­denk­lich­keit geprüft wird. Außer­dem sind kei­ne Räum­lich­kei­ten vor­han­den, da die meis­ten Schu­len der Stadt zer­stört sind. Die Aus­sich­ten auf die Zukunft sind unge­wiss, da noch immer die Fest­set­zun­gen des Mor­genthau­pla­nes über die zukünf­ti­ge Neu­ord­nung Deutsch­lands Gül­tig­keit besit­zen. Das Deut­sche Reich ist in Besat­zungs­zo­nen auf­ge­teilt, und die zustän­di­gen Mili­tär­re­gie­run­gen haben hier die Bildungshoheit.

Die Ame­ri­ka­ner begin­nen mit der Umer­zie­hung der deut­schen Jugend, der “Ree­du­ca­ti­on” durch den GYA, den Ger­man Youth Akti­vi­ties und durch die Ein­rich­tung der soge­nann­ten Ame­ri­ka­häu­ser. In die­sen Insti­tu­tio­nen soll bei den Jugend­li­chen ein neu­es Demo­kra­tie­ver­ständ­nis auf­ge­baut werden.

Auf Ver­an­las­sung mei­nes Vaters begin­ne ich eine Tisch­ler­leh­re, aber da die Werk­statt zer­stört ist, ver­brin­ge ich mei­ne Lehr­zeit mit Trüm­mer­be­sei­ti­gung. Als im Herbst 1945 die Schu­len wie­der geöff­net wer­den, bre­che ich die Leh­re ab und keh­re zur Hum­boldt­schu­le zurück. Unse­re Leh­rer­schaft ist fast voll­stän­dig wie­der in alter Beset­zung anwe­send, die “Per­sil­schei­ne” sind erteilt. Hin­zu kom­men neue Lehr­kräf­te aus den ehe­ma­li­gen Mari­ne­schu­len und aus den Schu­len, die zer­stört sind.

Die Lei­tung der Schu­le wird Rek­tor Rabens anver­traut. Unse­re Klas­sen­leh­re­rin wird Frau Dr. Bohm vom Lyze­um Geest­e­mün­de mit dem Fach Deutsch. Geschich­te und Erd­kun­de unter­rich­tet Herr Hage­mann, Mathe­ma­tik Herr Karsch, Eng­lisch Fräu­lein Rothe, Phy­sik und Che­mie Herr Prenz­low und Zeich­nen und Musik das Leh­rer­ehe­paar Bier­mann. Die Klas­sen­fre­quenz schwankt zwi­schen 40 und 50 Schü­lern. Da die Pes­ta­loz­zi­schu­le durch die Stadt­ver­wal­tung und die Ame­ri­can High­school belegt ist, wer­den die Schü­ler die­ser Schu­le auf die Hum­boldt- und Kör­ner­schu­le ver­teilt. Das Kri­te­ri­um für die Umver­tei­lung, wer auf wel­che Schu­le kommt, stellt kurio­ser­wei­se das Vor­han­den­sein einer Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le in der Nähe der Woh­nung dar.

Der Unter­richt gestal­tet sich für den Lehr­kör­per sehr schwie­rig. Die alten Schul­bü­cher dür­fen aus poli­ti­schen Grün­den nicht benutzt wer­den, neue Schul­bü­cher gibt es nicht, Schreib­pa­pier ist eben­falls nicht zu bekom­men. So muss der Unter­richt aus dem Steg­reif gestal­tet wer­den. Die Über­be­le­gung der Schu­le erfor­dert die Ein­füh­rung des Schicht­un­ter­rich­tes, wobei sich die Klas­sen­ver­bän­de abwech­selnd den Unter­richts­raum tei­len. Die Kern­grup­pe unse­res Klas­sen­ver­ban­des erwei­tert sich um die zu uns gewech­sel­ten Schü­ler der Kör­ner- und Pes­ta­loz­zi­schu­le, um Flücht­lin­ge und ehe­ma­li­ge Flak­hel­fer und Militärdienstverpflichtete.

Wich­tigs­ter Teil der Schu­le für uns ist die Schul­spei­sung, die von der Besat­zungs­macht im Lau­fe des Jah­res 1946 ein­ge­führt wird. Aus Mit­teln der Hoo­ver­spei­sung wird in Groß­kü­chen abwech­selnd Erb­sen­sup­pe bezie­hungs­wei­se Milch­sup­pe berei­tet und in Ther­mos­kü­beln an die Schu­len gelie­fert. In der gro­ßen Pau­se erhält jeder Schü­ler hier­von einen soge­nann­ten Schlag. Die­ser Schlag stellt für vie­le Kin­der die Haupt­mahl­zeit des Tages dar. Grund dafür ist die knap­pe Ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung mit Lebens­mit­teln, die im stren­gen und lan­gen Win­ter 19946/47 ihren Tief­punkt erreicht. Ich bin oft mit ande­ren Klas­sen­ka­me­ra­den zum Schul­schluss nach­mit­tags um 16.30 Uhr erneut in der Hoff­nung zur Schu­le gegan­gen, um von den Res­ten des Tages einen Nach­schlag zu erhalten.

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Außer­schu­li­sche Ver­pflich­tun­gen gab es auch zu die­ser Zeit. Um einen Anspruch auf Lebens­mit­tel­kar­ten zu erwir­ken, muss­ten Pflicht­stun­den bei der Ent­trüm­me­rung der Stadt nach­ge­wie­sen wer­den. Die­se Pflicht­stun­den wur­den im Klas­sen­ver­band abge­ar­bei­tet. Pflicht war auch der gemein­sa­me Besuch einer Aus­stel­lung der Gräu­el­ta­ten in den KZ’s, die in der Aula der Wil­helm-Raa­be-Schu­le auf­ge­baut war und die mich sehr scho­ckiert hat, und der Besuch meh­re­rer Film­ver­an­stal­tun­gen, die der Ree­du­ca­ti­on die­nen soll­ten. Kei­ne Pflicht, aber all­ge­mein üblich war an Win­ter­aben­den in der Däm­mer­stun­de das Besor­gen von Bun­ker­koh­le von den Zügen am Fische­rei­ha­fen, um daheim ein war­mes Zim­mer zu haben. Die­ses “Besor­gen” galt zu der Zeit als Kava­liers­de­likt und dien­te dem Überleben.

Mit Beginn des neu­en Schul­jah­res 1946 wech­sel­te die Beset­zung unse­res Lehr­kör­pers. Herr Nord­hoff war aus der Kriegs­ge­fan­gen­schaft zurück­ge­kehrt, hat­te sein Spruch­kam­mer­ver­fah­ren hin­ter sich gebracht und wur­de nun unser Klas­sen­leh­rer, der uns in Deutsch, Eng­lisch und Musik unter­rich­te­te. Auch der Turn­un­ter­richt wur­de wie­der auf­ge­nom­men, aber nur im Som­mer, da unse­re Turn­hal­le zer­stört war. Wir muss­ten daher zum Turn­un­ter­richt den Städ­ti­schen Sport­platz im Bür­ger­park auf­su­chen. Da sich für eine Stun­de der lan­ge Anmarsch nicht lohn­te, wur­de der Unter­richt alle 14 Tage auf einen Mitt­woch­vor­mit­tag gelegt und für drei Klas­sen gleich­zei­tig erteilt. Herrn Gabrichs Lieb­lings­sport­art war nun Hand- und Fuß­ball­spiel. Die Asse in die­ser Sport­art, Bagen­da und Gul­bis, stell­ten ihre Mann­schaf­ten auf und spiel­ten, wobei Herr Gabrich schieds­rich­ter­te. Der Rest der Klas­sen wur­de zum Lang­lauf­trai­ning auf die Aschen­bahn rund um den Sport­platz geschickt. Nun weiß ich auch, war­um mir Sport immer ver­hasst war!

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Mit Anbruch der Weih­nachts­fe­ri­en setz­te der Win­ter mit star­kem Frost und Schnee­fall ein. Der Janu­ar brach­te kla­res Frost­wet­ter mit Ost­wind und Tiefst­tem­pe­ra­tu­ren bis zu ‑18°, das sich bis weit in den März hin­ein hin­zog. Die in der Schu­le vor­han­de­nen Koh­le­vor­rä­te waren auf­ge­braucht, Nach­schub gab es nicht und so konn­te die Schu­le nicht mehr geheizt wer­den. Nach Ablauf der Weih­nachts­fe­ri­en ruh­te der Schul­be­trieb bis auf wei­te­res. Die Ver­tei­lung der Schul­spei­se wur­de fort­ge­setzt, und so gin­gen wir mit unse­rem Blech­napf jeden Mor­gen um 9.30 Uhr auf den Schul­hof, um uns unse­ren Schlag Sup­pe abzuholen.Herr Nord­hoff enga­gier­te sich in selbst­auf­op­fern­der Wei­se und kam jeden Mor­gen mit der Stra­ßen­bahn von Alt­wuls­dorf aus zur Schu­le gefah­ren. Nach­dem wir die Schul­spei­sung emp­fan­gen hat­ten, gin­gen wir mit ihm gemein­sam in den Klas­sen­raum, der Tem­pe­ra­tu­ren unter dem Gefrier­punkt hat­te. In Hut und Man­tel mit auf­ge­schla­ge­nem Kra­gen stand er eine Stun­de an der Schul­ta­fel und gab uns Unter­richt und Haus­auf­ga­ben und berei­te­te uns so auf die bevor­ste­hen­de Abschluss­prü­fung vor, die mit Ablauf des Schul­jah­res im März 1947 statt­fin­den sollte.

Die Hoff­nung auf einen erneu­ten Unter­richts­be­ginn erfüll­te sich nicht. Der Dau­er­frost hielt an, und als Prü­fungs­ter­min wur­de nach meh­re­ren Ver­schie­bun­gen der 20. März 1947 fest­ge­setzt. Prü­fungs­ort soll­te die Zwing­lischu­le in der Lan­gen Stra­ße in Lehe sein, die als eine der ältes­ten Schu­len der Stadt zur Behei­zung noch Koh­le­öfen besaß und so ein Raum für uns geheizt wer­den konn­te. Wer die Koh­le besorgt hat, weiß ich nicht. Aus­ge­rech­net in die­sen Tagen hat­te Tau­wet­ter ein­ge­setzt und die ver­eis­ten Stra­ßen­bahn­schie­nen über­flu­tet, so dass die Stra­ßen­bah­nen nicht fah­ren konn­ten. So tra­fen wir Geest­e­mün­der uns recht­zei­tig am Haupt­bahn­hof und mar­schier­ten gemein­sam über die Stra­ße der Frei­heit, die heu­ti­ge Stre­se­mann­stra­ße, in Rich­tung Lehe.

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Wir kamen auf­grund der schlech­ten Fuß­be­klei­dung mit durch­näss­ten Schu­hen dort an und hin­gen unse­re Schu­he und Strümp­fe zum Trock­nen an den rie­si­gen eiser­nen Ofen. Der Prü­fungs­aus­schuss, dem es ähn­lich ergan­gen war, mach­te es eben­so. Als Prü­fungs­aus­schuss unter dem Vor­sitz des Beauf­trag­ten des Sena­tors für Schu­len und Erzie­hung, Schul­rat Zim­mer­mann zeich­ne­ten Rek­tor Rabens, Herr Nord­hoff, Herr Hage­mann, Fräu­lein Rothe, Frau Dr. Bohm und Herr Prenz­low verantwortlich.

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Die schrift­li­che Prü­fung begann unter Herrn Rek­tor Rabens in Mathe­ma­tik unter strengs­ter Klau­sur. Wer vor Auf­re­gung zur Toi­let­te muss­te, konn­te die­ses nur in Beglei­tung eines Leh­rers ver­rich­ten. Es folg­ten die ande­ren Prü­fungs­fä­cher. Wer bei einer spä­te­ren Begut­ach­tung durch den Prü­fungs­aus­schuss mit einer Zen­sur zum Guten oder Schlech­ten auf der Kip­pe stand, wur­de münd­lich nach­ge­prüft. Ich muss an die­ser Stel­le für ihr Ver­hal­ten in der münd­li­chen Prü­fung lobend Fräu­lein Rothe erwäh­nen, die sich uns gegen­über loy­al zeig­te und durch ihre Mimik und durch geschick­te Zwi­schen­fra­gen man­che gespann­te Situa­ti­on rettete.

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Zur Beloh­nung für die Anstren­gun­gen stand der Klas­se in der Pau­se ein gan­zer Kübel Schul­spei­sung zum Sat­tes­sen bereit. Ent­spannt und in gelo­cker­ter Atmo­sphä­re tra­ten wir in hel­lem Son­nen­schein den Rück­weg nach Hau­se über die Hafen­stras­se an. Die offi­zi­el­le Schul­ent­las­sungs­fei­er fand am 29. März 1947 vor­mit­tags um 11.00 Uhr im Musik­zim­mer der Schu­le statt. Nach­mit­tags tra­fen wir uns noch ein­mal in der Schu­le, um mit Heiß­ge­tränk die bestan­de­ne Prü­fung zu begießen.

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Rück­bli­ckend möch­te ich noch ein­mal unse­rer Leh­rer­schaft mei­ne Hoch­ach­tung aus­drü­cken, die uns unter wid­rigs­ten Umstän­den ein Bil­dungs­ni­veau ver­mit­telt hat, das den heu­ti­gen schu­li­schen Leis­tun­gen in kei­ner Wei­se nach­steht. Die­ses Wis­sen kam uns in den1950er Auf­bau­jah­ren allen zu Gute und bil­de­te die Basis für unse­re beruf­li­che Kar­rie­re und stell­te für vie­le auch den Grund­stock für den zwei­ten Bil­dungs­weg dar. Ohne jeman­den zurück­zu­stel­len, möch­te ich die ruhi­ge, beson­ne­ne und väter­li­che Art des Herrn Hage­mann erwäh­nen, der uns durch all die schwe­ren Jah­re beglei­te­te und der mit sei­nem ver­steck­ten Humor man­che Eska­la­ti­on ver­mei­den half. Bei Herrn Rek­tor Rabens bewun­de­re ich die Art sei­ner Päd­ago­gik und Dia­lek­tik, mit der er den Unter­richt führ­te und sei­ne Auto­ri­tät zum Aus­druck brach­te. Ich mei­ne, dass er mit die­ser Art auch bei der heu­ti­gen Schul­ju­gend mit Erfolg bestehen könn­te!
Bre­mer­ha­ven, im Juli 1997 | Erich Sturk
Vie­len Dank an Herrn Erich Sturk, dass er die Leser des Deich­SPIE­GELS an sei­nen Erin­ne­run­gen an die Hum­boldt­schu­le teil­ha­ben lässt. 

Erich Sturk: Meine Schulzeit in der Allmersschule

In “Mei­ne Schul­zeit in der All­mers­schu­le” beschreibt der Geest­e­mün­der Erich Sturk sei­nen ers­ten Schul­tag in der All­mers­schu­le und sei­ne Erin­ne­run­gen an die ers­ten Schul­jah­re. Die Gebur­ten­jahr­gän­ge 1930/31, die auf­grund ihres Wohn­sit­zes zum Schul­be­zirk der All­mers­schu­le in Geest­e­mün­de gehör­ten, wur­den Ostern 1937 eingeschult. 

Allmersschule

Der dama­li­gen Klas­sen­fre­quenz ent­spre­chend wur­den zwei Klas­sen gebil­det, die Selek­ti­on wur­de ent­spre­chend den Anfangs­buch­sta­ben der Nach­na­men vor­ge­nom­men. Die Schü­ler mit den Anfangs­buch­sta­ben A — L kamen in die Klas­se 8 a zu Herrn Tin­ne­mey­er, der Rest in die Klas­se 8 b zu Herrn Lan­ge. Lei­ter der All­mers­schu­le war der­zeit Rek­tor Stelljes.

Zur Ein­schu­lung Ostern 1937 bekam ich eine Schul­tü­te, gefüllt mit Süßig­kei­ten, die mir den Ein­tritt in den Ernst des Lebens ver­sü­ßen soll­te. Ich bekam sie aber erst zu Hau­se über­reicht, damit, Zitat mei­ner Eltern, “den armen Kin­dern, die kei­ne bekom­men, nicht das Herz blutet.”

Die Ein­schu­lung begann mit einem Flag­gen­ap­pell, zu dem die gesam­te Schü­ler­schaft auf dem Schul­hof ange­tre­ten war und Rek­tor Stell­jes die Flag­ge hiss­te, wobei das Deutsch­land­lied und das Horst-Wes­sel-Lied gesun­gen wurde.

Der Schul­ran­zen, genannt “Tor­nis­ter”, wur­de auf dem Rücken getra­gen, um die Kör­per­hal­tung zu scho­nen. Er ent­hielt die Schul­fi­bel, (“Oh Hei­ni, bist Du dumm, rührst mit dem gan­zen Fin­ger im Tin­ten­fass her­um…“ und “Feri­en und lesen? Nein, wir sehen SA und SS…“), ein Rechen­buch, den Grif­fel­kas­ten mit ver­schie­de­nen Schie­fer­grif­feln und als Haupt­re­qui­sit die Schie­fer­ta­fel mit Schwamm­do­se und Tafel­lap­pen zum Säu­bern der Schie­fer­ta­fel. Alter­na­ti­ve Mit­schü­ler, die es auch damals schon gab, spuck­ten zu die­sem Zweck auf die Tafel und wisch­ten sie mit dem Ärmel ab.

Erinnerungsfoto

Die Unter­rich­tung wäh­rend der ers­ten vier Grund­schul­jah­re er- folg­te in allen Fächern durch den Klas­sen­leh­rer, in mei­nem Fall durch den Herrn Lan­ge. Ledig­lich der Turn­un­ter­richt erfolg­te zusam­men mit der Par­al­lel­klas­se durch den Herrn Tin­ne­mey­er, spä­ter durch Herrn Schos­sig. Haupt­fä­cher waren Schrei­ben, Lesen, Rech­nen, wobei das Üben der Schön­schrift in Süt­ter­lin erst auf Schie­fer­ta­feln, spä­ter mit Tin­te in Schul­hef­ten ein beson­de­res Ste­cken­pferd des Herrn Lan­ge war.

Neben­fä­cher waren Hei­mat­kun­de, Hei­mat­ge­schich­te und Reli­gi­on, wobei die Flüs­se des Har­zes, auf­ge­zählt in Ost- und West­rich­tung eine beson­de­re Bedeu­tung hat­ten, da Herr Lan­ge hier sei­ne Urlaubs­zeit ver­brach­te. Zur Hei­mat­ge­schich­te zähl­ten die Hei­mat­sa­gen des Hein­rich Mahler, sei­ner­zeit Rek­tor an der Her­mann-Löns-Schu­le. Ich erin­ne­re mich an den Dra­chen­stein in Don­nern und die Zwer­ge von Dünen­fähr, Orte, die ich sonn­tags mit mei­nen Eltern auf dem Fahr­rad auf­such­te, um mir ein Bild zu machen. Die Reli­gi­ons­stun­de lag am Schluss des Unter­rich­tes, wobei die “Gott­lo­sen” (Zitat Wil­helm Lan­ge) und die Katho­li­ken und Juden nach Hau­se gehen durften.

1937 Allmersschule Klassenfoto

Die All­mers­schu­le war eine acht­klas­si­ge Grund­schu­le für Jun­gen. Wer die ent­spre­chen­den Leis­tun­gen brach­te und des­sen Eltern das nöti­ge Schul­geld besa­ßen, konn­te nach der vier­ten Klas­se zur Ober­schu­le für Jun­gen, der heu­ti­gen Wil­helm-Raa­be-Schu­le, über­wech­seln. Die zwei­te Mög­lich­keit der Wei­ter­bil­dung bestand im Wech­sel nach der sechs­ten Klas­se zum Auf­bau­zug der Hum­boldt­schu­le, einer Ein­rich­tung der Reich­mi­nis­ters für Erzie­hung und Wis­sen­schaft als Alter­na­ti­ve zur Ober­schu­le. Zu die­sem Über­gang wur­den ent­spre­chen­de Schul­no­ten, eine Emp­feh­lung des Klas­sen­leh­rers und die erfolg­reich Teil­nah­me an einem zwei­jäh­ri­gen Eng­lisch­kur­sus, zusam­men mit den gleich­alt­ri­gen Mäd­chen der Neu­markt­schu­le, verlangt.

Die Erzie­hung war preu­ßisch streng. Mor­gens bei Schul­be­ginn betrat Herr Lan­ge die Klas­se und auf sei­nen Ruf hin “Zock, drei, vier” muss­ten wir alle gera­de und still mit gekreuz­ten Armen auf unse­rem Platz sit­zen. Das Leh­rer­pult stand auf einem erhöh­ten Podest, dane­ben ein Spuck­napf und ein Stahl­ge­stell mit Wasch­schüs­sel und Sei­fe. Bei­des wur­de vom Haus­meis­ter, dem Herrn Göld­ner, täg­lich gesäu­bert und frisch gefüllt. Über dem Pult hing an der Wand ein Füh­rer­bild, auf das bei ent­spre­chen­den Gele­gen­hei­ten mit den Wor­ten: “… und das im Ange­sich­te eures Füh­rers! Pfui, schämt Euch!“, hin­ge­wie­sen wurde.

Auf dem Klas­sen­schrank lag ein wich­ti­ges Requi­sit, näm­lich ein Rohr­stock, genannt “der Gel­be”. Er dien­te als Zei­ge­stock und zur kör­per­li­chen Züch­ti­gung. War er durch zu häu­fi­ge Benut­zung ver­schlis­sen, wur­de ein Schü­ler zum Eisen­wa­ren­ge­schäft Daetz in die Georg­stra­ße geschickt, um einen neu­en “Gel­ben” zu besor­gen. Neben dem stän­dig gebrauch­tem “Zock drei vier” war es eine Eigen­art unse­res Kas­sen­leh­rers, bei schrift­li­chen Arbei­ten mit dem “Gel­ben” auf die Schü­ler­pul­te zu stei­gen und so, von Pult zu Pult schrei­tend, die Arbei­ten des Ein­zel­nen zu kon­trol­lie­ren und zu korrigieren.

Zuechtigung

Die Päd­ago­gik des Herrn Lan­ge bestand vor­wie­gend aus der “Pauk­me­tho­de”. Aus­wen­dig ler­nen von Gedich­ten und Pro­sa stand an ers­ter Stel­le und soll­te das Gedächt­nis schu­len. Bis jeder in der Klas­se das Gedicht “Die alte Wasch­frau” feh­ler­frei auf­sa­gen konn­te, muss­ten wir es rück­wärts üben und von hin­ten her auf­sa­gen. Die­se Metho­de, die sicher­lich bei jedem zeit­ge­mäß aus­ge­bil­de­ten Päd­ago­gen Kopf­schüt­teln her­vor­ruft, hat­te aber für das prak­ti­sche Leben auch ihre Vor­tei­le. So kann ich heu­te noch alle Prä­po­si­tio­nen und Kon­junk­tio­nen der Rei­he nach im Schlaf auf­sa­gen, die Qua­drat­wur­zel ohne Hil­fe eines Rechen­schie­bers oder eines Taschen­rech­ners zie­hen und Sät­ze “Dro­ben ste­het die Kapel­le, schaut ins tie­fe Tal hin­ab.…” nach Satz­ge­gen­stand und Satz­aus­sa­ge zergliedern.

Mit Kriegs­be­ginn am 1. Sep­tem­ber 1939 änder­te sich auch eini­ges im täg­li­chen Schul­ab­lauf. Im Kel­ler der Schu­le wur­de ein Luft­schutz­raum ein­ge­rich­tet, den wir bei den zuneh­men­den Flie­ger­alar­men auf­su­chen muss­ten, und 1941 fie­len die ers­ten Bom­ben in der Nähe der Schu­le in der Schil­ler- und Klop­stock­stra­ße. Genau gegen­über der Schu­le, in der All­mers­stra­ße, wur­de mit dem Bau eines Hoch­bun­kers begon­nen, der nach dem Krie­ge gesprengt wurde.

Jungvolk

Zum Unter­richt trat das Fach “Luft­schutz­übung” unter der Lei­tung des Leh­rers und stell­ver­tre­ten­den Rek­tors, Herrn Mey­er, hin­zu. Auf dem Schul­hof wur­de der Blind­gän­ger einer Stab­brand­bom­be gezün­det, und Herr Mey­er demons­trier­te, wie man die­se im Anfangs­sta­di­um anfas­sen und fort­wer­fen kann, tauch­te sie in einen Was­ser­ei­mer, ohne dass sie erlosch und deck­te sie dann mit Lösch­sand ab.

Bei nächt­li­chem Flie­ger­alarm nach 22.00 Uhr wur­de der Unter­richts­be­ginn auf 9.30 Uhr ver­legt und der Stun­den­plan in Kurz­stun­den umge­wan­delt. Ab 1943 wur­den die älte­ren Schü­ler zu einer so genann­ten Brand­wa­che ein­ge­teilt, die den Nach­mit­tag in der Schu­le ver­brin­gen muss­te. Die Milch- und Kakao­lie­fe­rung der Mol­ke­rei wur­de ein­ge­stellt, dafür wur­den Knä­cke­brot und Vit­amin­ta­blet­ten ver­teilt, letz­te­re abge­zählt in einer aus­ge­dien­ten Schulkreideverpackung.

Neben der Ein­gangs­trep­pe wur­de ein altes Ölfass auf­ge­stellt und dien­te der Kno­chen­samm­lung für das Win­ter­hilfs­werk, hin­zu kamen Samm­lun­gen von Sta­ni­ol (Sil­ber­pa­pier und alte Zahn­pas­ta­tu­ben) und Heil­kräu­tern. Mit Geld­samm­lun­gen soll­te dem VDA (Ver­ein für das Deutsch­tum im Aus­land) gehol­fen wer­den. Für 20 Pfg. bekam man eine VDA-Pla­ket­te mit den Wap­pen der Städ­te im Sude­ten­land, in Sie­ben­bür­gen, im Banat und in Böh­men und Mähren.

Zur Weih­nachts­zeit wur­de zu dem glei­chen Zweck eine VDA-Ker­ze ange­bo­ten, gro­ße blaue Wachs­ker­zen in einem hand­ge­schnitz­ten Holz­stän­der aus dem Erz­ge­bir­ge, die zu mor­gend­li­chen Fei­er­stun­den auf die Schul­bän­ke gestellt und ange­zün­det wur­den. Dazu wur­den Geschich­ten von Peter Ros­seg­ger (“Als ich das ers­te Mal auf dem Dampf­wa­gen fuhr…”) gele­sen, Gedich­te (Bana­ter Schwa­ben­lied “Es brennt ein Weh’ wie Kin­der­trä­nen bren­nen…”) auf­ge­sagt und Lie­der (“Hohe Nacht der kla­ren Ster­ne…”) gesun­gen. Es war sehr fei­er­lich, und die­se Stun­den sind mir in guter Erinnerung.

Hitlerjugend

Das Schul­ge­bäu­de dien­te nun nicht mehr allein dem schu­li­schen Unter­richt. Im Alter von zehn Jah­ren wur­de ich in das “Deut­sche Jung­volk” auf­ge­nom­men und kam in das Fähn­lein 8, das zur Orts­grup­pe Neu­markt gehör­te und sei­nen Dienst im Bereich der All­mers­schu­le abhielt. Auf dem Schul­hof wur­de exer­ziert, in der Turn­hal­le geturnt und in den Klas­sen­räu­men wur­den die Heima­ben­de abge­hal­ten. Hier­bei kam es oft zu Dif­fe­ren­zen mit dem Haus­meis­ter, der uns für die ihm ange­las­te­te Mehr­ar­beit aus ver­ständ­li­chen Grün­den nicht immer gut geson­nen war.

Auf­grund der sich häu­fen­den Flie­ger­alar­me und gele­gent­li­chen Bom­ben­ab­wür­fen alli­ier­ter Bom­ber begann 1942/43 das Pro­gramm der KLV, der Kin­der­land­ver­schi­ckung. Für mei­ne Klas­se war als Ziel der Kur­ort Zakop­a­ne im süd­li­chen Polen vor­ge­se­hen, und zusam­men mit der Par­al­lel­klas­se ging die Fahrt unter Lei­tung von Rek­tor Stell­jes dort­hin. Damit ging mei­ne Zeit in der All­mers­schu­le dem Ende zu. Ich soll­te auf Wunsch mei­ner Eltern in den Auf­bau­zug der Hum­boldt­schu­le über­wech­seln und erhielt im letz­ten Zeug­nis den gefor­der­ten Eig­nungs­ver­merk dazu.

Allmersschule

Am 18. Sep­tem­ber 1944 wur­de das Gebäu­de der All­mers­schu­le durch den Angriff alli­ier­ter Bom­ber zer­stört und brann­te voll­stän­dig aus. Die erhal­te­ne Rui­ne wur­de erst nach Ende des Krie­ges restau­riert und aus­ge­baut und dient seit dem wie­der der schu­li­schen Erzie­hung.
Bre­mer­ha­ven, im Janu­ar 2001 | Erich Sturk
Vie­len Dank an Herrn Erich Sturk, dass er die Leser des Deich­SPIE­GELS an sei­nen Erin­ne­run­gen an die All­mers­schu­le teil­ha­ben lässt.

Calvin im Gepäck. Hugenotten auf der Flucht nach Deutschland

Am Sonn­tag, 17. April 2016, bie­tet das Deut­sche Aus­wan­der­er­haus Bre­mer­ha­ven um 10.30 Uhr einen the­ma­ti­schen Rund­gang durch Dau­er­aus­stel­lung über die huge­not­ti­schen Glau­bens­flücht­lin­ge auf ihrem Weg nach Deutsch­land an.

Hugenotten auf der Flucht

Huge­not­ten waren fran­zö­si­sche Pro­tes­tan­ten mit über­wie­gend cal­vi­nis­ti­scher Glau­bens­rich­tung. Son­nen­kö­nig Lud­wig XIV. stellt die Huge­not­ten 1685 vor die Wahl: Ent­we­der sie kon­ver­tie­ren zum katho­li­schen Glau­ben, oder aber sie erlei­den Ver­fol­gung, Haft oder gar den Tod. Trotz eines mit der Todes­stra­fe beleg­ten Aus­rei­se­ver­bo­tes ver­las­sen dar­auf­hin 150.000 fran­zö­si­sche Pro­tes­tan­ten ille­gal das Land.

Unge­fähr 40.000 Huge­not­ten such­ten ihr Heil in den deut­schen Ter­ri­to­ri­en. Davon lie­ßen sich etwa 20.000 in Bran­den­burg-Preu­ßen nie­der. Das im Jah­re 1685 von Kur­fürst Fried­rich Wil­helm – selbst Anhän­ger des cal­vi­nis­ti­schen Bekennt­nis­ses — erlas­se­ne “Edikt von Pots­dam” ver­sprach den Huge­not­ten unge­hin­der­te Aus­übung ihrer Reli­gi­on, Nie­der­las­sungs­frei­heit und vie­le wirt­schaft­li­che Vor­tei­le. Sie erhiel­ten kos­ten­lo­ses Bau­ma­te­ri­al, Steu­er­erleich­te­run­gen, und für Hand­wer­ker gab es Anschubfinanzierungen.

hugenottenmuseum

Aber auch für Bran­den­burg-Preu­ßen brach­te die Ein­wan­de­rung unschätz­ba­re Vor­tei­le. Vie­le Huge­not­ten waren auf die Her­stel­lung von Luxus­ar­ti­keln spe­zia­li­sier­te Fach­leu­te, die dazu bei­tru­gen, die Wirt­schaft des im Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg zer­stör­ten Bran­den­burg zu bele­ben. In der the­ma­ti­schen Füh­rung wird von dem Flucht­weg der Huge­not­ten sowie ihrer Ankunft und Auf­nah­me in Deutsch­land erzählt.

Die Füh­rung “Cal­vin im Gepäck. Huge­not­ten auf dem Weg nach Deutsch­land” beginnt um 10.30 Uhr im Foy­er des Deut­schen Aus­wan­der­er­hau­ses. Eine Anmel­dung ist erwünscht unter der Ruf­num­mer 0471/90220–0 oder an der Kas­se.
Wei­te­re Infor­ma­tio­nen:
www.dah-bremerhaven.de
Deut­sches Aus­wan­der­er­haus
Colum­bus­stra­ße 65
27568 Bre­mer­ha­ven
E‑Mail: presse@dah-bremerhaven.de
Pres­se­infor­ma­ti­on vom 12. April 2016

Leher Platz — Siegesplatz — Platz der NSDAP — Freigebiet

Der im heu­ti­gen Bre­mer­ha­ven als “Frei­ge­biet” bezeich­ne­te Platz mar­kier­te schon gegen Ende der 1820er Jah­re die nord­öst­li­che Gren­ze Bre­mer­ha­vens. Die Grenz­stra­ße war die letz­te Stra­ße, die zu Bre­mer­ha­ven gehör­te. Sie mün­de­te in den erst im Jah­re 1861 ange­leg­ten “Leher Platz”. Hier ver­ließ die von Bre­mer­ha­ven nach Brem­erle­he füh­ren­de Chaus­see  das Bre­mer­ha­ve­ner Gebiet. An der Han­na­stra­ße begann das han­no­ver­sche Lehe, das nach dem Deut­schen Krieg im Jah­re 1866 preu­ßisch wurde.

Leher Platz – Siegesplatz – Platz der NSDAP – Siegesplatz –Freigebiet

Der Name “Leher Platz” soll­te aber nicht lan­ge bei­be­hal­ten wer­den. Am 3. Novem­ber 1888 wur­de er in “Sie­ges­platz” umge­tauft. Doch schon wesent­lich frü­her, am “Sedan­tag” des Jah­res 1876, wur­de auf die­sem Platz eine Grün­an­la­ge ange­legt, in deren Mit­te ein bron­ze­nes “Sie­ges­denk­mal” errich­tet wur­de. Es war ein Krie­ger­denk­mal, das an den Sieg und an die vier im Deutsch-Fran­zö­si­schen Krieg von 1870/71 gefal­le­nen Söh­ne Bre­mer­ha­vens erin­nern soll­te, die ihre Pflicht­treue im Kampf gegen den Erb­feind mit dem Tod fürs Vater­land bezahl­ten. Im Jah­re 1938 muss­te das Denk­mal, ein Obe­lisk aus rot­brau­nem Gra­nit, der neu­en Tras­se der Stra­ßen­bahn wei­chen. Es wur­de zum Bür­ger­meis­ter-Mar­tin-Don­andt-Platz verbannt.

Steele

Wenn man heu­te ver­ste­hen will, war­um zu jener Zeit im Krieg getö­te­te Sol­da­ten als Hel­den gefei­ert wur­den, muss man weit in die Geschich­te zurück­bli­cken. Wer mag, den lade ich herz­lich ein, sich mit mir auf eine (ober­fläch­li­che) Rei­se in die deut­sche Ver­gan­gen­heit zu begeben:

In den Frei­heits­krie­gen 1813 – 1815 hat­ten vie­le deut­sche Stu­den­ten begeis­tert gegen Napo­le­on mit­ge­kämpft. End­lich, so hoff­ten sie nach dem Sieg über Napo­le­on, end­lich wird sich ihr Wunsch nach einem geein­ten Deutsch­land erfüllen.

Zu ihrer gro­ßen Ent­täu­schung lehn­ten die euro­päi­schen Groß­mäch­te auf dem Wie­ner Kon­gress die Bil­dung eines gro­ßen deut­schen Staa­tes ab. Und die deut­schen Fürs­ten woll­ten über sich kei­nen star­ken deut­schen Kai­ser dul­den. Statt des ersehn­ten Deut­schen Rei­ches gab es nur einen losen “Deut­schen Bund” mit 35 Fürs­ten­tü­mern und vier frei­en Städten.

Vie­le Stu­den­ten gaben sich damit nicht zufrie­den. Sie kämpf­ten für die natio­na­le Ein­heit und tru­gen stolz die schwarz-rot-gol­de­nen Far­ben, die zum Sym­bol deut­scher Ein­heit und Frei­heit wur­den. Die deut­schen Regie­run­gen über­wach­ten Uni­ver­si­tä­ten, zen­sier­ten Zei­tun­gen und Schrif­ten und unter­drück­ten mit Gewalt alle frei­heit­li­chen und natio­na­len Bewegungen.

Wie in ganz Euro­pa lehn­ten sich die Men­schen auch in Deutsch­land gegen die poli­ti­sche und sozia­le Unter­drü­ckung auf. 1848 erreich­ten die Revo­lu­tio­nen auch Ber­lin, weil der preu­ßi­sche König Fried­rich Wil­helm IV. den Bür­gern die ver­spro­che­ne Ver­fas­sung nicht mehr geben wollte.

In Frank­furt am Main soll­te eine gesamt­deut­sche  Natio­nal­ver­samm­lung zusam­men­tre­ten, um einen ein­heit­li­chen deut­schen Staat zu schaf­fen und die­sem eine Ver­fas­sung zu geben. Der König von Preu­ßen soll­te Deut­scher Kai­ser wer­den. Fried­rich Wil­helm IV. lehn­te die ihm ange­tra­ge­ne Kai­ser­kro­ne aber ab. Damit war Schaf­fung eines Deut­schen Rei­ches wie­der gescheitert.

Bis­marck woll­te alle deut­schen Staa­ten in einem Deut­schen Reich ver­ei­nen. Es soll­te aber die “klein­deut­sche Lösung” wer­den, also ein Deut­sches Reich ohne Öster­reich. Preu­ßen soll­te die stärks­te Macht in Deutsch­land werden.

Nach dem Deutsch-Däni­schen Krieg (1864) und dem Deut­schen Krieg (1866) hat­te Bis­marck sein Ziel erreicht. Öster­reich muss­te aus dem Deut­schen Bund aus­tre­ten. Han­no­ver, Kur­hes­sen, die Land­graf­schaft Hes­sen-Hom­burg, Nas­sau, die Freie Reichs­stadt Frank­furt am Main und Schles­wig-Hol­stein wur­den in Preu­ßen ein­ge­glie­dert. In Bre­mer­ha­ven besetz­ten preu­ßi­sche Trup­pen die Forts von Bre­mer­ha­ven. Preu­ßen ist der mäch­tigs­te Staat in Deutsch­land gewor­den und schloss am 18. August 1866 mit den ver­blie­be­nen Staa­ten nörd­lich des Mains den “Nord­deut­schen Bund”.

Schlacht von Sedan

Nach einer von Bis­marck her­bei­ge­führ­ten diplo­ma­ti­schen Kri­se erklär­te Frank­reich im Jah­re 1870 Preu­ßen den Krieg. Die patrio­ti­sche Begeis­te­rung in Deutsch­land war groß, und die Trup­pen der süd­deut­schen Staa­ten Baden, Bay­ern und Würt­tem­berg, die mit Preu­ßen gehei­me Bünd­nis­se geschlos­sen hat­ten,  mar­schier­ten in Frank­reich ein. In der für sie sieg­rei­chen Schlacht von Sedan wur­de der fran­zö­si­sche Kai­ser gefan­gen­ge­nom­men. Mit der Ein­nah­me von Paris durch die deut­schen Trup­pen wur­de der Krieg beendet.

Noch vor Been­di­gung des Krie­ges grün­de­te Bis­marck aus den König­rei­chen Preu­ßen, Bay­ern, Würt­tem­berg und Sach­sen, sechs Groß­her­zog­tü­mern, fünf Her­zog­tü­mern, sie­ben Fürs­ten­tü­mern und den drei Frei­en Han­se­städ­te Ham­burg, Bre­men und Lübeck ein Deut­sches Reich unter der Füh­rung von Preu­ßen. Die süd­deut­schen Staa­ten wil­lig­ten ein, dass der Nord­deut­sche Bund künf­tig den Namen “Deut­sches Reich” tra­gen soll, sein Ober­haupt den Titel “Deut­scher Kaiser”.

Am 18. Janu­ar 1871 war es end­lich soweit. An die­sem Tag fand im Spie­gel­saal des Schlos­ses zu Ver­sailles die fei­er­li­che Pro­kla­ma­ti­on des deut­schen Kai­sers statt. Das deut­sche Volk sah sei­ne natio­na­len Wün­sche als erfüllt an. Und der Sieg über die Fran­zo­sen wur­de vie­ler­orts als Ver­gel­tung für die Knech­tung in der napo­leo­ni­schen Fran­zo­sen­zeit emp­fun­den wor­den sein.

Blut und Begeis­te­rung waren die Zuta­ten, aus denen das neue Kai­ser­reich ent­stand. End­lich Frank­reich besiegt, end­lich ein ein­heit­li­ches deut­sches Reich! Das deut­sche Volk war eupho­risch. Frank­reich wur­de geschla­gen, man hat­te einen Kai­ser und das deut­sche Kai­ser­reich schick­te sich an, zu einer füh­ren­den Indus­trie­macht auf­zu­stei­gen. Die Deut­schen wur­den selbst­be­wusst und über­heb­lich gegen­über ande­ren Natio­nen. Sie waren stolz auf ihren neu­en Staat. Orden und Uni­for­men präg­ten das Straßenbild.

Die Fran­zo­sen muss­ten die unge­heu­re Sum­me von fünf Mil­lio­nen Francs als Ent­schä­di­gung zah­len. In plom­bier­ten Zug­wag­gons wur­den die Sil­ber­mün­zen in das Deut­sche Reich gekarrt — und ent­fes­sel­ten die Wirt­schaft des jun­gen Staa­tes und die Gier sei­ner Bür­ger. Die Zeit der Grün­der (Grün­der­zeit) begann. Und soll­te gut 30 Mona­te spä­ter schon wie­der vor­bei sein. Am 10. Okto­ber 1873 stürz­ten die Akti­en­kur­se, dann stürz­te die Ber­li­ner Quistorp’sche Ver­eins­bank, und schließ­lich tau­mel­ten die Men­schen dem Abgrund entgegen…

Siegesplatz

Einen Natio­nal­fei­er­tag gab es im Deut­schen Kai­ser­reich noch nicht. Als patrio­ti­scher Fei­er­tag wur­de statt des­sen zum Geden­ken an die Kapi­tu­la­ti­on der fran­zö­si­schen Armee nach der Schlacht bei Sedan jedes Jahr am 2. Sep­tem­ber der “Sedan­tag” gefei­ert. Die jähr­li­che Fei­ern am “Sedan­tag” hiel­ten im Volk die Erin­ne­run­gen an die Demü­ti­gung Frank­reichs auf­recht. An die­sem Tag wur­den über­all im Deut­schen Kai­ser­reich an zen­tra­len Plät­zen Sie­ges­denk­mä­ler errich­tet und fei­er­lich ein­ge­weiht. Jede Stadt wett­ei­fer­te unter sich in der Pro­duk­ti­on von Schau­stü­cken und Mahn­fei­ern über den gro­ßen Sieg.

Der “Sedan­tag” wur­de nie zum offi­zi­el­len Fei­er­tag erklärt und nach dem ver­lo­re­nen Ers­ten Welt­krieg am 27. August 1919 abgeschafft.

Siegesplatz

In Bre­mer­ha­ven behielt der “Sie­ges­platz” aber noch bis 1933 sei­nen Namen. Das von Bis­marck so müh­sam errich­te­te Kai­ser­reich gab es längst nicht mehr, und auch die am 9. Novem­ber 1918 aus­ge­ru­fe­nen Wei­ma­rer Repu­blik war schon wie­der in das Dun­kel deut­scher Geschich­te abge­taucht, als der Sie­ges­platz in jenem Jahr umge­tauft wur­de in “Platz der NSDAP”. Die­sen “schö­nen” Namen behielt der Platz bis 1945. Dann ging er mit­samt sei­nen Namens­ge­bern unter. Und trotz des ver­lo­re­nen Krie­ges bekam er – wel­che Iro­nie — sei­nen alten Namen “Sie­ges­platz” zurück.

Im Jah­re 1949 muss­ten die Anwoh­ner aber­mals neue Visi­ten­kar­ten dru­cken las­sen. Die Stadt­vä­ter besan­nen sich, dass es mit dem Sie­gen ja wohl vor­bei war und tauf­ten den “Sie­ges­platz” noch ein­mal um. Zur Erin­ne­rung an die Zeit bis 1888, als der süd­lichs­te Teil von Lehe, das soge­nann­te Frei­ge­biet, als Zoll­aus­land an Bre­mer­ha­ven ange­schlos­sen und von zwei Zoll­häu­sern bewacht war, bekam der Platz sei­nen heu­ti­gen Namen “Frei­ge­biet”.
Quel­len:
Fritz Stern: Gold und Eisen – Bis­marck und sein Ban­kier Bleich­rö­der, Sei­te 208 + 209
Her­bert Kört­ge: Die Stra­ßen­na­men der  See­stadt Bre­mer­ha­ven, Sei­te 88
H. und R. Gab­cke und Kört­ge: Bre­mer­ha­ven frü­her, ges­tern, heu­te, Sei­te 52
Har­ry Gab­cke: Bre­mer­ha­ven in zwei Jahr­hun­der­ten 1827–1918, Sei­te 147
Har­ry Gab­cke: Bre­mer­ha­ven in alten Ansich­ten, Sei­te 38
Gert Schlech­triem: Bre­mer­ha­ven in alten Ansichts­kar­ten, Sei­ten 46, 48, 49
Dr. Hans Heu­mann Unser Weg durch die Geschich­te, Hirsch­gra­ben-Ver­lag
Her­mann Schrö­der: Geschich­te der Stadt Lehe, Sei­ten 540 und 542
Georg Bes­sel: Geschich­te Bre­mer­ha­vens, Sei­ten 451, 509
Rogasch und Scri­ba Die Reichs­grün­dung 1871,
Leben­di­ges Muse­um Online
GEO EPOCHE: Otto von Bis­marck 1815–1898, Sei­ten 92 und 94

 

220. Geburtstag Samuel Timotheus Thorer

Die Monats­zeit­schrift Stadt­BILD hat in ihrer Aus­ga­be Nr.  142 vom April 2015 zum 220. Geburts­tag des Gör­lit­zer Arz­tes und Autors Samu­el Timo­theus Thorer einen Auf­satz von Herrn Wolf­gang Stil­ler veröffentlicht:

220. Geburtstag Samuel Timotheus Thorer

Samu­el Fürch­te­gott Timo­theus Thorer, prak­ti­scher Arzt, Ope­ra­teur, Geburts­hel­fer, Homöo­path und Sekre­tär, spä­ter Mit­ar­bei­ter der Ober­lau­sit­zi­schen Gesell­schaft der Wis­sen­schaf­ten, wur­de am 25.4.1795 in Gör­litz als Sohn des Kürsch­ner­meis­ters Karl Hein­rich Thorer (24.8.1758 Gör­litz — 25.4.1833 Gör­litz) und des­sen Gat­tin Eleo­no­re Sophie geb. Schüß­ler geboren.

220. Geburtstag Samuel Timotheus Thorer

Er besuch­te das Gym­na­si­um in Gör­litz und nahm 1815 in Leip­zig das Medi­zin­stu­di­um auf. Sei­ne wich­tigs­ten Leh­rer waren Plat­ner, Hein­roth und Wendt. Er besuch­te Vor­le­sun­gen in Phi­lo­so­phie, Ana­to­mie, Botanik,Zoologie und Mine­ra­lo­gie, hat­te Vor­le­sun­gen in Che­mie und Phy­sik, Pharmakologie,Therapie, Chir­ur­gie und Gebur­ten­hil­fe besucht. Bei Hein­roth besuch­te er Vor­trä­ge über phy­si­ka­li­sche Krankheiten.

Ende 1817 ging er nach Ber­lin und absol­vier­te sein wei­te­res Stu­di­um bei so berühm­ten Medi­zi­nern wie Hufe­land, Horn und Sie­bold. In Ber­lin leg­te er das medi­zi­nisch-chir­ur­gi­sche Examen ab und wur­de am 18.9.1818 Dok­tor mit der Dis­ser­ta­ti­on “de abortu”.

Im Som­mer 1819 nach Able­gen des Staats­examens kam er erneut nach Gör­litz und ließ sich  als prak­ti­scher Arzt, Ope­ra­teur und Geburts­hel­fer nie­der. Sei­ne beson­de­re Nei­gung hat­te die Homöo­pa­thie, mit der er sich ernst­haft und tief­grün­dig gemein­sam mit dem Wund­arzt Schul­ze zu Gru­na beschäf­tig­te. Gemein­sam mit wei­te­ren Ärz­ten grün­de­te er 1832 den Ver­ein der Homöo­pa­thie der Ober­lau­sitz und Nie­der­schle­si­ens, des­sen Ver­eins­vor­sit­zen­der Thorer war. Die­sem gehör­ten unter ande­ren an: Dr. Mül­ler, Lie­gnitz; Dr. Schind­ler, Grei­fen­berg; Engel­hard aus Löbau, Fieiik in Lau­ban, Neu­mann aus Glo­gau, Schu­bert aus Hirsch­berg, Weigel aus Schmie­de­berg, Rück­ert aus Herrn­hut, Tiet­ze und Ger­na aus Ebers­bach bei Löbau und Schul­ze zu Gruna.

220. Geburtstag Samuel Timotheus Thorer

Zweck des Ver­eins war es, Erfah­run­gen der Homöo­pa­thie zu sam­meln und zu ver­all­ge­mei­nern. Der Ver­ein gab dazu meh­re­re Schrif­ten und Bücher her­aus, deren Inhalt vor­wie­gend von Thorer geprägt war. So unter ande­rem erschien der ers­te Band 1834. Wei­te­re Bän­de folg­ten 1835, 1836, 1839 und 1899. Sei­ne unzäh­li­gen Schrif­ten kennt jeder Stu­dent, der Homöo­pa­thie stu­diert. Sein prak­ti­scher Bei­trag posi­tio­nier­te ihn unter die eif­rigs­ten Nach­fol­ger von Hahnemann.

Sein umfang­rei­ches Inter­es­se für die Natur­wis­sen­schaf­ten ließ ihn am 20.9.1820 Mit­glied der Ober­lau­sit­zi­schen Gesell­schaft der Wis­sen­schaf­ten wer­den. Hier berei­cher­te er des­sen Archiv und die Samm­lun­gen mit meh­re­ren anti­qua­ri­schen Bei­trä­gen. Er wur­de als­bald Mit­glied von deren Verwaltung.

220. Geburtstag Samuel Timotheus Thorer

In der Gesell­schaft hat­te er den Vor­sitz in zahl­rei­chen Aus­schüs­sen inne und ver­fass­te zahl­rei­che Bei­trä­ge im Neu­en Lau­sit­zi­schen Maga­zin (NLM). Er war auch der Her­aus­ge­ber einer neu­en Fol­ge der “Scrip­to­res rer­um Lusa­ti­carum” und der Wie­der­auf­nah­me der topo­gra­phi­schen Arbei­ten und Ver­ar­bei­tung der Geschich­te und Lan­des­kun­de unse­rer Provinz.

Am 25. Juni 1846 ver­starb Thorer nach lan­ger Krank­heit, und er wur­de am 28.6.1846 mit gro­ßer Anteil­nah­me der Bevöl­ke­rung auf dem Nico­lai­fried­hof bei­gesetzt. Aus Anlass sei­nes Todes ver­öf­fent­li­che die Ober­lau­sit­zi­sche Gesell­schaft der Wis­sen­schaf­ten eine Denk­schrift, und ein Freund wid­me­te ihm ein schö­nes Gedicht.
Nach­druck
Text und Bil­der mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Stadt­BILD-Ver­la­ges Gör­litz
und Herrn Wolf­gang Stiller.