Die Hafen-Apotheke in Bremerhaven-Lehe
Als im Jahre 1827 Bremerhaven gegründet wurde, wohnten nur 19 Personen in dem neuen Hafenort. Dann begannen die Bauarbeiten am Alten Hafen, und aus ganz Deutschland strömten die Bauarbeiter nach Bremerhaven. Nach einem halben Jahr waren bis zu 900 Männer an der Riesenbaustelle beschäftigt.
Zu jener Zeit hatte der Flecken Lehe, der vorwiegend aus der Lange Straße mit den Nebenstraßen bestand, etwa 1.600 Einwohner, die ihrem Broterwerb in den ansässigen Brauereien, Mühlen und Ziegeleien nachgingen. Mit den Hafen‑, Häuser- und Straßenbauten in Bremerhaven begann der Aufstieg Lehes zum Vorort der neuen Hafenstadt. Im Jahre 1829 wurde die heutige Hafenstraße als Chaussee nach Bremerhaven angelegt. Sie mündete dort in die Leher Straße ein. Diese erhielt später den Namen Bürgermeister-Smidt-Straße.
Bremerhavens Wirtschaft florierte und der Flecken Lehe nahm daran teil. Nicht nur Handwerker und einfache Arbeiter wurden in Bremerhaven benötigt. Auch Baumaterial, Frischwasser für die Schiffe, Viehfutter und Nahrungsmittel konnte Lehe zur Verfügung stellen. Und der günstige Wohnraum zog die in Bremerhaven arbeitenden Menschen an. Im Jahre 1894 lebten bereits um die 18.000 Einwohner im Flecken Lehe.
Die “Lehe-Bremerhavener Chaussee” entwickelte sich zu einer repräsentativen Wohn- und Geschäftsstraße, in der sich Bekleidungsgeschäfte, Möbelgeschäfte und auch Manufaktur‑, Haushalts- und Kolonialwarenhandlungen ansiedelten. Auch Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte und Fotografen boten hier zunehmend ihre Dienste an. Einst als Wohnhäuser genutzte Gebäude wurden umgestaltet. Schaufenster mit dahinter liegenden Verkaufsräumen prägten nun das Straßenbild.
In den 1870er Jahren ließ sich der Schiffszimmermann und Gastwirt Martin Heuer vom Leher Maurermeister Seedorf das Haus Hafenstraße 91 (heute Nummer 106) Ecke Auestraße erstellen. Im Jahre 1893 verkaufte Martin Heuer das Grundstück an den aus Ostpreußen stammenden Apotheker Emil Raabe. Dieser ließ aus dem Gastraum den Verkaufsraum der Apotheke gestalten. Die Fenster rechts des Einganges wurden zu kleinen Schaufenstern umgestaltet.
Im Jahre 1894 eröffnete Emil Raabe seine Hafen-Apotheke, zog sich aber aus gesundheitlichen Gründen mehr und mehr zurück. Die Geschäftsführung überließ er seinem Stiefsohn Alfred Hackh. Doch bereits im Jahre 1907 ging Alfred Hackh nach Esslingen und eröffnete dort eine eigene Apotheke.
Am 27. März 1907 eröffnete in Berlin das Kaufhaus des Westens, und einen Tag später, am 28. März 1907, verkaufte in Lehe der kranke Emil Raabe seine Hafen-Apotheke an den Apotheker Otto Schmidtmann. Danach verließ der Apothekengründer Bremerhaven. und verstarb einige Jahre später in Hannover.
Otto Schmidtmann, am 5. September 1877 in Alfeld an der Leine geboren, absolvierte in den Jahren 1896 bis 1899 erfolgreich eine Ausbildung zum Apotheker. Seine Gehilfenjahre verbrachte er in Uelzen, in Cotta bei Dresden und in Hannover. Schließlich legte er im Jahre 1904 an der Universität Leipzig das pharmazeutische Staatsexamen ab. In den Folgejahren vertiefte und erweiterte er sein Wissen, bis er Emil Raabe im Jahre 1907 die Hafen-Apotheke einschließlich der Konzession für stolze 300.000 Mark abkaufte.
Schifffahrt und Industrie bescherten dem Flecken Lehe weiterhin ein beständiges Wachstum. 14.690 Einwohner wurden hier im Jahre 1890 gezählt, im Jahre 1914 waren es bereits 41.950 Einwohner. Vor diesem Hintergrund verliefen für den Apotheker Otto Schmidtmann die ersten Geschäftsjahre sehr zufriedenstellend.
Im Jahre 1911 wandelte Otto Schmidtmann auf Freiersfüßen und heiratete Marie Janssen. Aus der Ehe gingen in den Jahren 1912 bis 1914 zwei Töchter und Sohn Walter hervor.
Dann brach der Erste Weltkrieg aus, und plötzlich war es vorbei mit der positiven Entwicklung. Schon mit Beginn des Krieges gelangten keine ausländischen Drogen mehr in das Deutsche Reich. Zunehmender Rohstoffmangel und Importverbote bedrohten immer mehr die Versorgung der Menschen mit Arzneimittel. Wie viele andere Apotheker in diesen Notjahren versuchte auch Otto Schmidtmann, dem Mangel durch Improvisation und Erfindungsreichtum zu begegnen. Aus einheimischen Heilpflanzen hergestellte Medikamente halfen, die Arzneimittelversorgung während der Kriegsjahre aufrechtzuerhalten.
Otto Schmidtmanns Gehilfen wurden zum Kriegsdienst eingezogen wurden, und er stand plötzlich allein in seiner Apotheke. Arbeitszeiten von täglich bis zu 12 Stunden und viele zusätzliche Nachtdienste waren nun an der Tagesordnung. Die Sorgen ließen auch nach Kriegsende nicht nach. Nun zerrten die Inflation und die damit einhergehenden Wertverluste an die Nerven und an die Gesundheit des Apothekers.
Als Otto Schmidtmann am 2. Januar 1936 starb, befand sich Sohn Walter erst am Anfang seiner Ausbildung zum Apotheker. So musste die Hafen-Apotheke am 1. Oktober 1936 an den langjährigen Verwalter der Lessing-Apotheke, Apotheker Heinrich Suermann, verpachtet werden. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde Heinrich Suermann zum Wehrdienst eingezogen. Als Oberstabsapotheker leitete er bis zum 1. April 1943 die Lazarett-Apotheke Wesermünde.
Zwischenzeitlich hat Walter Schmidtmann im Jahre 1938 mit seinem Studium zum Apotheker begonnen. Nach bestandenem Examen erhielt er im Jahre 1942 seine Bestallung zum Apotheker und vertrat den Pächter Heinrich Suermann in der Apotheke seines verstorbenen Vaters.
Als am 18. Juni 1944 Bremerhaven bombardiert wurde, zerstörten Brandbomben das Apothekenhaus Hafenstraße 106. Ein großer Teil des Inventars und der Vorräte konnte aus dem brennenden Haus gerettet werden. Schnell räumte der Hausnachbar Burdorf die Räume im Erdgeschoß seines Hauses Hafenstraße 108 für eine Notapotheke.
Am 18. September 1944 starteten Bomber der Royal Air Force erneut einen Luftangriff auf Bremerhaven. Innerhalb von 20 Minuten wurden die heutigen Stadtteile Mitte und Geestemünde fast völlig zerstört. Viele ausgebombte Menschen fanden in Lehe eine neue Bleibe. So war es ein Segen, dass die Hafen-Apotheke die medikamentöse Versorgung leisten konnte.
Walter Schmidtmann übernahm am 1. Januar 1949 die väterliche Hafen-Apotheke, die noch immer in den Räumen der Hafenstraße 108 untergebracht war.
Kurz nachdem er seine Frau Lucie geheiratet hat, ließ er das ausgebombte Apothekenhauses Hafenstraße 106 wieder aufbauen.
Architekt Vosshans übernahm zwar den ursprünglichen Grundriss, gleichwohl gab es einige Veränderungen:
Der Architekt gliederte das Lagerhaus dem Haupthaus an und ließ den Eingang zur Hafenstraße Ecke Auestraße verlegen. Die neuen Innenräume wurden hell und modern gestaltet.
Im Jahre 1969 konnte die Hafen-Apotheke ihr 75-jähriges Jubiläum feiern. Die in der damaligen Jubiläumsschrift zum Ausdruck gebrachte Hoffnung, eine dritte Generation möge die Hafen-Apotheke weiterhinführen, hat sich erfüllt.
Am 1. April 1987 hat der Sohn von Walter Schmidtmanns die Leitung der Apotheke, die zwischenzeitlich an Herrn Kullman verpachtet war, übernommen.
Seither stecken Apotheker Volker Schmidtmann und seine Ehefrau, Apothekerin Viktoria Volz-Schmidtmann, den Kurs des nunmehr 124 Jahre alten Schiffes Hafen-Apotheke ab und steuern das Schiff sehr erfolgreich durch oftmals schwieriges Fahrwasser.
Wird es mit dem Sohn der Eheleute Schmidtmann eines Tages eine vierte Apothekergeneration geben? Das wäre sehr wünschenswert.
Überall in Deutschland geben Apotheker auf, und der Weg zur nächsten Apotheke wird immer länger. Die Zahl der Apotheken in Deutschland hatte im Jahre 2008 mit 21.602 ihren Höchststand erreicht. Mitte 2017 waren es nur noch 19.880 Apotheken – der niedrigste Stand seit 1988. In dem Jahr hatten in Westdeutschland und der DDR zusammen noch 19.781 Apotheken geöffnet.
Nachtrag vom 16.12.2018
Leider hat sich der Wunsch nach einer vierten Apothekergeneration für die Hafenapotheke nicht erfüllt. 125 Jahre hat sich die Hafenapotheke um die medikamentöse Versorgung der Leher Bürger verdient gemacht. Nun werden Eheleute Schmidtmann in den verdienten Ruhestand gehen. Ihre Apotheke werden sie am 31.12.2018 für immer schließen. Ein Nachfolger konnte nicht gefunden werden.
Quellen:
Jubiläumsschrift: “Hafen-Apotheke Bremerhaven-Lehe 1894–1969”
Hartmut Bickelmann: „Zwischen Gewerbeansiedlung und Wohnungsbau“, aus Bremerhavener Beiträge zur Stadtgeschichte II
Harry Gabcke: „Bremerhaven in zwei Jahrhunderten – 1827–1918″
Hermann Schröder: “Geschichte der Stadt Lehe”, Seite 256
www.pharmazeutische-zeitung.de “Erster Weltkrieg — Mangelware Arzneimittel”
www.pharma4u.de “Zahlen und Fakten — Wie viele Apotheken und Apotheker gibt es eigentlich in Deutschland?”
amp.n‑tv.de “Es tut weh – Experten beklagen Apothekensterben”
B. Hirschberg: “Am Jahresende ist Schluß”, Sonntagsjournal vom 23.12.2018