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Das Apollo-Kino in Bremerhaven

Das Apol­lo-Kino in Bremerhaven

In den Jah­ren von 1946 bis 1956 erlebt das deut­sche Kino eine Blü­te­zeit. 1956 errei­chen in West­deutsch­land die Zuschau­er­zah­len mit 817 Mil­lio­nen Kino­be­su­chern ihren Zenit. Das Apollo-Kino in BremerhavenDer Erfolg wird mit deut­schen Hei­mat­fil­men gene­riert. Son­ja Zie­mann und Rudolf Prack stel­len 1950 das Traum­paar im Nach­kriegs­farb­film “Schwarz­wald­mä­del” dar. Es fol­gen die Kitsch­fil­me “Grün ist die Hei­de” (1951), “Der Förs­ter vom Sil­ber­wald” (1954) und “Das Schwei­gen im Wal­de” (1955). 

Das Apollo-Kino in Bremerhaven

In den 1950er Jahren lohnen sich Kinos noch

In die­sen Jah­ren wer­den Kinos zu loh­nen­den Inves­ti­ti­ons­ob­jek­ten. So ent­ste­hen gro­ße Kino­neu­bau­ten mit geschwun­ge­nen asym­me­tri­schen Sälen. Die ange­strahl­ten Wän­de sind mit Stoff bespannt. Bogen­för­mi­ge Trep­pen füh­ren hin­auf zu weit in den Raum ragen­de Gale­rien. In den Foy­ers die­ser Kinos gibt es ele­gan­te Süß­wa­ren­stän­de. Das Kino wird zum Palast der Wirt­schafts­wun­der-Gesell­schaft.Das Apollo-Kino in BremerhavenAuch in Bre­mer­ha­ven ent­ste­hen in die­sen Jah­ren an jeder Ecke neue Kinos. Boten 1950 acht Kinos mit 4221 Plät­zen ihre Fil­me an, waren es Ende der 1950er Jah­re sechs­zehn “Licht­spiel­thea­ter” mit 9678 Plät­zen. Das Kino wur­de bald zum Treff­punkt und zum Ort für ers­te zärt­li­che Berührungen. 

Das Apollo-Kino in Bremerhaven

Neueröffnung in Geestemünde

In Geest­e­mün­de eröff­net in der Georg­stra­ße 73 am 25. Dezem­ber 1953 Wil­fried Spring­brunn sein neu­es Kino “Euro­pa” und lädt mit 649 Plät­zen zu  ein paar schö­ne Stun­den ein. Vor­bei an den Kas­sen­be­reich und der Pop­corn­ma­schi­ne gelangt der Besu­cher durch das groß­zü­gi­ge Foy­er zum Saaleingang.

Das Apollo-Kino in Bremerhaven

Zum Eröff­nungs­tag laden Wil­fried Spring­brunn und sei­ne Frau zu einem Film “für Ver­lieb­te, Ver­lob­te und Ver­hei­ra­te­te” ein: “Ich und Du” ist ein deut­scher Spiel­film mit Har­dy Krü­ger und Lie­se­lot­te Pul­ver. Die Ein­la­dungs­kar­ten sind für zwei Per­so­nen gültig.Das Apollo-Kino in Bremerhaven

Theo Marseille übernimmt das “Europa”

1963 ver­stirbt der Kino­be­trei­ber Wil­fried Spring­brunn, und Kino-Zar Theo Mar­seil­le über­nimmt das Kino “Euro­pa”. Theo Mar­seil­le, Spröss­ling einer Sei­den­we­ber­fa­mi­lie, stammt aus Kre­feld. Mit sei­ner Frau Ilse baut er nach dem Zwei­ten Welt­krieg ein flo­rie­ren­des Film­thea­ter­un­ter­neh­men auf.

Das Apollo-Kino in Bremerhaven

Theo Mar­seil­le besitzt bereits die Bre­mer­ha­ve­ner Kinos “Ala­din” in der Rick­mer­stra­ße 13 — 15, “Atlan­tis” in der Hafen­stra­ße 144 und “City” in der Hafen­stra­ße 127, als er im Jah­re 1963 auch das “Euro­pa” über­nimmt und moder­ni­siert. Er will das Kino zum Fami­li­en­thea­ter Geest­e­mün­des machen.

PopcornautomatNach dem Umbau trennt eine Glas­schei­be die Loge unter­halb des Vor­führ­rau­mes vom übri­gen Kino­saal, und fort­an ver­fügt das Kino über die ers­te Rau­cher­lo­ge im Land Bre­men. Zur Wie­der­eröff­nung im Früh­jahr 1963 erhält das Kino auch einen neu­en Namen: “Apol­lo”. Vie­le Jah­re ist das “Apol­lo” neben dem “Ala­din” das gro­ße Erst­auf­füh­rungs­haus Bremerhavens. 

Treppe

Legen­dä­re Fil­me wer­den hier gespielt. Jahr­zehn­te­lang ist das “Apol­lo” in Bre­mer­ha­ven Inbe­griff für gro­ßes Kino. Im Jah­re 1964 war es “James Bond 007 – Gold­fin­ger” mit Sean Con­nery und dem unver­gess­li­chen Gerd Frö­be, 1968 kam der Italo-Wes­tern “Spiel mir das Lied vom Tod” von Ser­gio Leo­ne, 1971 die “Love Sto­ry” mit Ali Mac­Graw und Ryan O’Ne­al und 1972 der Mafia­film “Der Pate” mit Mar­lon Bran­do und Al Paci­no. Die­se Film-Klas­si­ker ste­hen für vie­le ande­re gro­ße Fil­me, die vor­her oder nach­her auf­ge­führt wer­den. Es ist unmög­lich, sie an die­ser Stel­le alle aufzuzählen.

entkerntes Kino

Immer wieder Umbauten

In den Fol­ge­jah­ren wird im Apol­lo immer wie­der umge­baut. Die Decken wur­den ver­än­dert und Wän­de mit Tep­pi­chen ver­klei­det. Nach der Reno­vie­rung im Jah­re 1979 ist abseh­bar, dass auch in Bre­mer­ha­ven nicht mehr genü­gend Nach­fra­ge nach gro­ßen Licht­spiel­häu­sern vor­han­den ist. Theo Mar­seil­le schließt zum 1. August 1980 trotz einer gera­de abge­schlos­se­nen Reno­vie­rung sein Kino “Capi­tol” in der Hafen­stra­ße 156. 

Zeitungsanzeige

Mar­seil­le ent­schließt sich, das Kino “Apol­lo” zu tei­len. In den Mona­ten Juni und Juli 1980 wer­den die Arbei­ten aus­ge­führt. Der ehe­mals gro­ße Saal bekommt nun den Namen “Apol­lo 1” zuge­wie­sen, das neue klei­ne Kino heißt “Apol­lo 2”. In bei­den Kinos darf geraucht wer­den. Klei­ne Abla­gen vor den Sit­zen neh­men die Geträn­ke auf.

Eintrittskarten

Im Jah­re 1993 wird wie­der reno­viert. Im “Apol­lo 1” wer­den die bei­den Bal­ko­ne geschlos­sen und fort­an als Abstell­räu­me genutzt. Das Rau­chen ist nun verboten.Treppe zur Empore

Apollo” gibt auf

Am 28. April 2007 wird in Bre­mer­ha­ven, Karls­burg 1, das “Cin­eMo­ti­on Bre­mer­ha­ven” mit sechs Kino­sä­le eröff­net. Im April 2007 läuft im “Apol­lo” die letz­te Spiel­wo­che an, danach schließt das Kino für immer die Pforten.

Kino im Umbau

Für das Apol­lo-Kino in Bre­mer­ha­ven fin­det sich kei­ne wei­te­re Ver­wen­dung. Den ver­schwun­de­nen Glanz des ehe­ma­li­gen Licht­spiel­hau­ses, den Schein der Kron­leuch­ter und den Anblick der roten Samt­vor­hän­ge kann man nur noch erah­nen. Der lecke­re Geruch des süßen Pop­corns hat sich längst in den stau­bi­gen Man­tel der Ver­gan­gen­heit ver­flüch­tigt. Nur die opu­len­te Decken­ge­stal­tung, zwei groß­zü­gi­ge Empo­ren, lee­re Kino­sit­ze und der Pop­corn­au­to­mat zeu­gen noch heu­te vom Glanz & Glo­ria der Wirtschaftswunderjahre.Kino-Eingang

Neue Verwendung für das Apollo-Kino in Bremerhaven

Heu­te gehört das Apol­lo-Kino in Bre­mer­ha­ven in der Georg­stra­ße 73 Lars Wüb­ben, Geschäfts­füh­rer der Wüb­ben GmbH. Ideen­reich hat er das ehe­ma­li­ge Kino ent­kernt und in ein mul­ti­funk­tio­na­les Ver­an­stal­tungs­zen­trum umbau­en las­sen. Die noch vor­han­de­nen für 1950er und 1960er Jah­re typi­schen Bau­ele­men­te hat Wüb­ben frei­ge­legt. Auf der Empo­re ste­hen wie­der die alten Kinosessel.

Das Apollo-Kino in Bremerhaven

Hoch­zei­ten, Tagun­gen, Trau­er­fei­ern, Aus­stel­lun­gen und ande­re Events sol­len für bis zu 400 Per­so­nen hier in Geest­e­mün­de statt­fin­den. Das ehe­ma­li­ge Foy­er wird vom Mul­ti­funk­ti­ons­raum abge­trennt und klei­ne­re Gesell­schaf­ten zur Ver­fü­gung ste­hen. Für das Jahr 2019 steht ein Neu­an­strich der Außen­fas­sa­de auf der Agen­da. Das alte Apol­lo-Schild über dem Ein­gangs­be­reich bleibt erhalten.

Das Apollo-Kino in Bremerhaven

Am Abend des 14. Dezem­ber 2018 kehrt im alten Kino “Apol­lo” wie­der Leben ein. Nach ein­ein­halb Jah­ren Umbau­ar­bei­ten wird mit einer Elvis Pres­ley Cover Band die ers­te gro­ße öffent­li­che Ver­an­stal­tung in den sanier­ten Räu­men statt­fin­den. Ein aus­ge­klü­gel­tes Licht- und Ton­kon­zept soll “kei­ne Wün­sche offen lassen”.

Quel­le:
www.filmportal.de “Die 1950er Jah­re – Vom Kino in Trüm­mern zum Wirt­schafts­wun­der
Hans E. Hap­pel: “Kinos in Bre­mer­ha­ven
Klaus Weber: alle Kinos
Nord­see-Zei­tung vom 30.07.1980, 29.03.2011 und 08.12.2018
radio-bremen.de: “Das Apol­lo-Kino in Bre­mer­ha­ven”, 21.09.2016
Apol­lo Pres­se­mit­tei­lung vom 22.10.2017
Hei­ner Otto: “aus­ge­schla­fen: ‘Apol­lo’ erwacht”, nwzonline.de vom 21.10.2017

Kein weiteres Jubiläum für Modehaus Specht

Es ist gera­de zwei Jah­re her, dass der Deich­SPIE­GEL dem Mode­haus Specht zum 125-jäh­ri­gen Jubi­lä­um gewünscht hat, gut über die nächs­ten hun­dert Jah­re zu kom­men. Aber lei­der wird es kein wei­te­res Jubi­lä­um geben – das Tra­di­ti­ons­ge­schäft Specht in Geest­e­mün­de muss wegen Krank­heit schließen.

Kein weiteres Jubiläum für Modehaus Specht

Im Jah­re 1889 grün­de­ten Gus­tav und Mag­da­le­na Specht das Tra­di­ti­ons­ge­schäft Specht. Eine ver­gilb­te Zei­tungs­an­zei­ge erin­nert heu­te noch an die ers­ten Jah­re des klei­nen Waren­hau­ses in der Georg­stra­ße 36 in Geest­e­mün­de. Gar­ne, Stri­cke­rei­en, Woll­wa­ren und Tri­ko­ta­gen wur­den damals in der Zei­tung offe­riert. Dane­ben gab es auch Klei­dung für die Dame, den Herrn oder die Kin­der zu kaufen.

Als die Fir­men­grün­der sich aus dem Betrieb zurück­zo­gen, über­nahm Sohn Georg den Betrieb und führ­te ihn gemein­sam mit sei­ner Schwes­ter Han­na führ­te. Georg kam nicht aus dem Krieg zurück, und fort­an muss­te Han­na das Geschäft allei­ne wei­ter­füh­ren. Auch als das Haus aus­ge­bombt wur­de und der Betrieb umzie­hen muss­te, gab Han­na Specht nicht auf. Sie hei­ra­te­te Wal­ter Bir­ken­feld, und gemein­sam steu­er­ten sie das Fami­li­en­un­ter­neh­men durch die Nach­kriegs­jah­re. Im Jah­re 1955 konn­ten sie in die Georg­stra­ße 36 zurückkehren.

Der nächs­te Wech­sel stand im Jah­re 1964 an. Der im Krieg gefal­le­ne Georg hin­ter­ließ einen Sohn, Gus­tav-Georg. Der hei­ra­te­te sei­ne Ger­da und über­nahm als drit­te Gene­ra­ti­on das Geschäft.  Gus­tav-Georg und Ger­da pass­ten das Geschäft dem Zeit­geist an und mach­ten aus dem Tex­til­haus ein rei­nes Damen­mo­de­haus. 1978 lie­ßen sie den Laden grund­le­gend umbau­en. Die Außen­fas­sa­de zier­ten nun fünf halb­run­de Markisen.

Kein weiteres Jubiläum für Modehaus Specht

Im Jah­re 2003 starb Gus­tav-Georg Specht. Nun war Toch­ter Nico­le Schüß­ler an der Rei­he, das alt­ein­ge­ses­se­ne Mode­haus wei­ter­zu­füh­ren. Mut­ter Ger­da Specht unter­stützt sie dabei eben­so tat­kräf­tig, wie die fünf lang­jäh­ri­gen Mit­ar­bei­te­rin­nen. Doch trotz der stets posi­ti­ven Ent­wick­lung muss das Geest­e­mün­der Tra­di­ti­ons­un­ter­neh­men jetzt schlie­ßen. Eine Erkran­kung zwingt die Uren­ke­lin des Fir­men­grün­ders zur Geschäftsaufgabe.

Nico­le Schüß­ler hat ihre 2.200 treue Stamm­kun­den bereits mit einem Brief über die Schlie­ßung des Geschäf­tes infor­miert. Vie­le sind gekom­men, um sich zu ver­ab­schie­den. Mit Kuchen in den Hän­den und Trä­nen in den Augen: “Wo soll ich denn künf­tig hin­ge­hen?”, lau­tet in die­sen Tagen eine oft trau­rig gestell­te Fra­ge. Kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit in Zei­ten, in denen mehr und mehr über das Inter­net ein­ge­kauft wird.

Nico­le Schüß­ler hat ihr Geschäft zum Kauf ange­bo­ten. Nicht ein­fach zu begrei­fen für ihre 75-jäh­ri­ge Mut­ter Ger­da, die ja schon seit 1964 im Laden steht. Aber bis jetzt hat sich noch nie­mand für das alt­ein­ge­ses­se­ne Geschäft inter­es­siert. Wür­de sich ein Nach­fol­ger fin­den, Nico­le Schüß­ler wür­de sich nicht freu­en – sie wür­de schrei­en vor Glück.
Quel­len:
Jubi­lä­ums­an­zei­ge im Sonn­tags­jour­nal vom 06.04.2004
S. Schier­wa­ter, Mode­haus schließt nach 127 Jah­ren, Nord­see-Zei­tung vom 24.5.2016

 

Erinnerungen an die Georgstraße

Erin­ne­run­gen an die Georg­stra­ße – das sind Geschich­ten, die die drei Geest­e­mün­der Jun­gen Wal­ter Abbes, Erich Sturk und der im Jah­re 2013 lei­der ver­stor­be­ne Her­bert Ehlers in ihrer Jugend­zeit in den 1930er Jah­ren erlebt haben. Sie hat­ten die Idee, ihre Erin­ne­run­gen für die Nach­kom­men schrift­lich fest­zu­hal­ten. Hier sind die Erin­ne­run­gen von Erich Sturk:

Erinnerungen an die Georgstraße

Anhand einer Flur­kar­te der Georg­stra­ße ver­such­ten sie, die Häu­ser und Geschäf­te der Rei­he nach zu loka­li­sie­ren. Was der eine nicht mehr wuss­te, wuss­te der ande­re, und so kam die anlie­gen­de Lis­te zusam­men, die weit­ge­hend der dama­li­gen Loka­li­tät ent­spricht. Im Jah­re 2014 stell­ten Wal­ter Abbes und Erich Sturk die Auf­zeich­nun­gen der neu gegrün­de­ten Geschichts­werk­statt Geest­e­mün­de zur Verfügung.

Ples­se­eck

An der west­li­chen Sei­te der Georg­stra­ße befand sich ein keil­för­mi­ges Grund­stück, das durch den Ver­lauf der Par­al­lel­stra­ße (heu­te Ulmen­stra­ße) begrenzt wur­de. Es gehör­te zu der Spi­ri­tuo­sen­fa­brik Ples­se, die sich in Wuls­dorf in der Weser­stra­ße befand und haupt­säch­lich Liqueu­re herstellte.

Im Erd­ge­schoss befand sich ein Laden, der von Ger­hard Loop geführt wur­de und der die Erzeug­nis­se der Fir­ma Ples­se ver­kauf­te. Er war mit mei­nen Eltern befreun­det und wur­de von mir “Onkel Ger­hard” genannt. Mei­ne Mut­ter schick­te mich oft dort­hin, um eine Fla­sche Apfel­most zu kau­fen. Er hat­te eine ele­gan­te Art, sei­ne Ware anzu­prei­sen, hob die Fla­sche hoch, um das Eti­kett zu prä­sen­tie­ren, leg­te sie auf den Tre­sen und roll­te sie geschickt in Ein­kaufs­pa­pier und über­reich­te sie mir, als hät­te ich eine wert­vol­le Fla­sche Sekt gekauft. Herr Ples­se war übri­gens ein Meis­ter im Her­stel­len von Liqueu­ren. Er hat­te einen so genann­ten “Klos­ter­li­queur” in sei­nem Ange­bot, der im Geschmack einem Coint­reau nicht nach­ste­hen sollte.

Erinnerungen an die Georgstraße

An der Spit­ze des Hau­ses befand sich eine Filia­le des Buch­händ­lers Mem­min­ger, die von Fräu­lein Müg­ge geführt wur­de. Hier kauf­te ich mei­ne Jugend­bü­cher, meis­tens vom Schneider–Verlag, der nach dem Krieg wegen sei­ner Ten­den­zen sehr ange­fein­det wur­de. Mir ist der für mich ange­neh­me Geruch nach Büchern noch heu­te in Erinnerung.

Das Ples­se­eck wur­de nach dem Krie­ge wie­der auf­ge­baut und hat heu­te noch sei­nen Namen. Im Erd­ge­schoss wur­de der Spi­ri­tuo­sen­la­den wie­der ein­ge­rich­tet, dies­mal von den Söh­nen des Herrn Loop geführt, und im Ober­ge­schoss ent­stand ein Café, in dem an Wochen­en­den getanzt wurde.

Eis-Becker

Dem Ples­se­eck nörd­lich gegen­über stand ein klei­nes Haus aus roten Zie­gel­stei­nen, das der Reichs­bahn gehör­te. An die­ser Stel­le über­quer­ten die Eisen­bahn­schie­nen die Stra­ße Am Quai. Die Güter­zü­ge pas­sier­ten mehr­mals am Tage die Stra­ße und brach­ten Koh­le zu dem Gas­werk an der Elbe­stra­ße und kehr­ten abends mit Koks bela­den zurück. Beim Über­que­ren der Stra­ße kam ein Eisen­bah­ner aus dem Haus und sperr­te die Stra­ße mit­tels einer roten Fah­ne, die er in der Hand schwenk­te, ab. Die Bahn­li­nie führ­te vom Gas­werk aus noch wei­ter über die Geest­hel­le zur Rick­mers­werft, die auch durch Güter­zü­ge mit Mate­ri­al ver­sorgt wurde.

Eis-Becker Plesseeck

Das Gebäu­de beinhal­te­te außer­dem noch eine öffent­li­che Toi­let­te, eine Tele­fon­zel­le und einen Kiosk, der von der Fami­lie Becker geführt wur­de. Hier gab es im Som­mer das bes­te Eis in Geest­e­mün­de, und wenn im Mai die Sai­son eröff­net wur­de, sprach sich das unter uns Kin­dern schnell her­um. Mit­tags tra­fen sich dort die Schü­ler des Real­gym­na­si­ums mit den Schü­le­rin­nen der höhe­ren Töch­ter­schu­le aus der Stra­ße “Am Rat­haus” (heu­te Klus­smann­stra­ße) zum Eis­essen und Pous­sie­ren. Die Spitz­waf­fel mit einer Kugel kos­te­te 5 Pfen­nig, die Becher­waf­fel mit 2 Kugeln 10 Pfennig.

Loh­ren­gel und Hesse

Im nörd­li­chen Teil der Ost­sei­te der Georg­stra­ße befand sich die Fir­ma Loh­ren­gel und Hes­se, ein soge­nann­tes Eisen­wa­ren­ge­schäft. Im Gegen­satz zur Fir­ma Becken, deren Kund­schaft haupt­säch­lich aus Pri­vat­kun­den bestand, kauf­ten hier vor­wie­gend die Hand­wer­ker ihren Bedarf ein. Das Haupt­ge­schäft bestand aus Tür- und Fens­ter­be­schlä­gen und Klein­ei­sen­ma­te­ri­al, aber auch Her­de und Öfen wur­den ange­bo­ten. Der Laden war dun­kel und hat­te einen lan­gen Tre­sen, hin­ter dem der Geschäfts­füh­rer, Herr Witt­schen, die Ware anbot. Mein Vater kauf­te hier für sei­ne Tisch­le­rei sein gesam­tes Mate­ri­al ein, und ich beglei­te­te ihn oft bei sei­nen Ein­käu­fen. Nach der Aus­bom­bung bestand das Geschäft noch lan­ge im ehe­ma­li­gen Lager in der Paschstraße.

Geestemünde, Georgstrasse, um 1895

Pho­to Müller

  • An der West­sei­te der Georg­stra­ße zwi­schen Ahron­heim und Ples­se lag das Pho­to­ge­schäft Mül­ler, ein Spe­zi­al­ge­schäft für Pho­to­ca­me­ras, Fil­me und Pho­to­ar­bei­ten. Mein größ­ter Wunsch als Kind war, so lan­ge ich den­ken konn­te, eine eige­ne Kame­ra zu besit­zen. Ich stand oft vor dem Schau­fens­ter und betrach­te­te die aus­ge­stell­ten Lei­cas, Con­tax und ande­re Kame­ras, deren Erwerb für mich uner­schwing­lich war.

Zu Beginn des Krie­ges 1939 tauch­ten auf­grund der Kriegs­be­wirt­schaf­tung in der Nord­west­deut­schen Zei­tung soge­nann­te Tausch­an­zei­gen auf. Durch Zufall las ich eine Anzei­ge mit dem Inhalt: “Suche Roll­schu­he, bie­te Foto.” Als Adres­se war der Sedan­platz ange­ge­ben. Ich putz­te also mei­ne Roll­schu­he, die ich schon lan­ge nicht mehr benutz­te, und zog damit zu der ange­ge­be­nen Adres­se. Mei­ne Roll­schu­he fan­den Anklang bei dem Tausch­wil­li­gen, und ich hielt eine 6 x 9 Box “Kod­ak Brow­nie”, unbe­nutzt mit Film in Ori­gi­nal­ver­pa­ckung. Ich war hoch­er­freut und mach­te unter dem Weih­nachts­baum mei­ne ers­ten Fotos mit dem “Seut­he­lin-Blitz­licht­pul­ver” am Besen­stiel. Die Fil­me ent­wi­ckel­te ich im Luft­schutz­kel­ler bei Rot­licht in einer Sei­fen­scha­le, nach­dem ich mir die ent­spre­chen­den Che­mi­ka­li­en bei Pho­to-Mül­ler gekauft hatte.

Nun wan­der­te mein Taschen­geld dort­hin, und ich erin­ne­re mich an die Atmo­sphä­re und an den Geruch im Laden nach Che­mie und Tech­nik, den ich als sehr ange­nehm und geheim­nis­voll emp­fand. Ich kauf­te dort regel­mä­ßig die monat­lich erschei­nen­den “Agfa Pho­to­blät­ter” und Bro­schü­ren aus der Rei­he “Der Pho­to­rat” vom Knapp­ver­lag Hal­le an der Saa­le für 75 Pfen­nig, die wert­vol­le Tipps und Anre­gun­gen zu ver­schie­de­nen Pho­to­the­men ent­hiel­ten. Lei­der gin­gen die­se beim Luft­an­griff ver­lo­ren, aber ich konn­te sie kürz­lich anti­qua­risch im Inter­net erwer­ben, sogar jahr­gangs­wei­se in Buch­form gebunden.

Die Box hat mich jah­re­lang in mei­ner Kind­heit und Jugend­zeit beglei­tet und steht heu­te noch in mei­ner Kame­ra­samm­lung. Sie beglei­te­te mich bei der Kin­der­land­ver­schi­ckung und über­leb­te zusam­men mit mei­nem Nega­tiv­ar­chiv die Brand­nacht vom 18. Sep­tem­ber 1944 im Luftschutzkeller.

Durch die heu­ti­ge Mög­lich­keit der digi­ta­len Bild­be­ar­bei­tung mit dem Com­pu­ter kann ich die Fotos in einer vor­her nicht erziel­ba­ren Qua­li­tät aus­dru­cken, und ich besit­ze damit unwie­der­bring­li­che Auf­nah­men aus alten Zeiten.

Metro­pol-Kino

An der Ein­mün­dung der Bucht­stra­ße in die Georg­stra­ße befand sich an der Nord­ost­ecke das Gebäu­de des Metro­pol­ki­nos. Im Erd­ge­schoss befand sich im Eck­la­den eine Nie­der­las­sung der Nord­west­deut­schen Zei­tung. Nach­mit­tags um 15.00 Uhr wur­de dort die Zei­tung ange­lie­fert, und es ver­sam­mel­ten sich dort die Zei­tungs­bo­ten zum Emp­fang und zur Aus­tra­gung. Im 1. Ober­ge­schoss lag die Gast­wirt­schaft Dam­mann mit Ein­gang von der Bucht­stra­ße her.

Kino Metropol

Zur Georg­stra­ße hin befand sich der Ein­gang zum Kino­saal, der tags­über mit einer Git­ter­tür ver­schlos­sen war. Neben dem Ein­gang befan­den sich ver­glas­te Schau­käs­ten mit Fotos von den aktu­el­len Fil­men, und über dem Ein­gang spann­te sich ein gro­ßes Trans­pa­rent mit Wer­bung für den Film. Zur Nach­mit­tags­vor­stel­lung wur­de das Git­ter des Ein­gan­ges von Herrn Ado­meit geöff­net. Herr Ado­meit war von Beruf Musi­ker, erteil­te Kla­vier­un­ter­richt und stand neben­bei hin­ter der Kas­se und riss die gekauf­ten Ein­lass­kar­ten ab.

Es gab jugend­freie Fil­me und Fil­me, die ab 14 bezie­hungs­wei­se 18 Jah­ren erlaubt waren. Herr Ado­meit ach­te­te streng dar­auf, dass die­se Vor­schrif­ten ein­ge­hal­ten wur­den. Der Besit­zer des Kinos war ein Herr Ada­mi, der noch ein zwei­tes Kino, das Atri­um, in der Stra­ße An der Müh­le betrieb.

Es gab nur eine Rol­le mit Auf­nah­men der Wochen­schau, die im Wech­sel zwi­schen bei­den Kinos hin- und her­ge­tra­gen wur­de. Für den Trans­port hat­te er Jugend­li­che ange­stellt, die um ihren Job von uns Kin­dern sehr benei­det wur­den, da sie sich alle Fil­me umsonst anschau­en konn­ten. Sonn­tags nach­mit­tags um 15.00 Uhr gab es eine Jugend­vor­stel­lung, in der Micky­maus­fil­me oder ähn­li­ches lie­fen. Die Ein­tritts­ge­bühr betrug 30 Pfen­nig, und es ver­sam­mel­te sich schon lan­ge vor­her eine gro­ße Men­ge Kin­der vor dem Ein­gang. Der Kino­saal befand sich ent­lang der Bucht­stra­ße, und dort waren auch die zwei Aus­gän­ge und die Toi­let­ten­fens­ter. Die Kin­der, die das Geld für den Ein­tritt nicht besa­ßen, ver­such­ten, durch die­se Fens­ter in den Saal zu klet­tern, was ihnen auch oft gelang.

Über den Aus­gangs­tü­ren waren Laut­spre­cher ange­bracht, über die Musik aus dem Kino­saal über­tra­gen wur­de, bevor der Film begann. Unser Haus in der Bucht­stra­ße lag dem Kino­saal direkt gegen­über, und an war­men Som­mer­aben­den, wenn wir noch auf unse­rem Hof spie­len durf­ten, tanz­ten wir zur Musik. Die­se Aben­de sind mir noch in guter Erinnerung.

Hirsch­apo­the­ke

An der Süd­west­ecke der Georgstraße/Grabenstraße (heu­te Ram­sau­er Stra­ße) befand sich die Hirsch­apo­the­ke von Herrn Ger­lach. Hier kauf­ten mei­ne Eltern und mein Groß­va­ter, der mit Herrn Ger­lach befreun­det war, Medi­ka­men­te und Ver­bands­stof­fe ein. Ich erin­ne­re mich beson­ders an ein Medi­ka­ment “Pan­fla­vin”. Das waren Tablet­ten, die ich bei Hals­schmer­zen schlu­cken muss­te, was mir nicht schwer fiel, weil sie nach Scho­ko­la­de schmeckten.

1944-2015 Hirschapotheke

In einem gewis­sen Alter beschäf­tig­te ich mich mit che­mi­schen Expe­ri­men­ten und benö­tig­te hier­für Che­mi­ka­li­en, die nor­ma­ler­wei­se nicht an Kin­der ver­kauft wer­den durf­ten. Kali­um Chlo­r­at — wofür brauchst du das? — zum Gur­geln. Oder Salmiak/Ammoniak – für unse­re Klin­gel­ele­men­te usw.

Ein­mal kam auch die Zeit der Ent­wick­lungs­pe­ri­ode, wo man rau­chen woll­te. Bei uns zu Hau­se wur­de nicht geraucht, also war dort nichts zu besor­gen. Eine Zeit lang ver­such­ten wir es im Freun­des­kreis mit Kamil­len­tee in der Ton­pfei­fe, die oft den “Wun­der­tü­ten”, die man für 10 Pfen­nig kau­fen konn­te, bei­gefügt waren. Mei­ne Freun­de sti­chel­ten: “Dein Opa kennt doch den Apo­the­ker gut, ver­such doch mal, Asth­ma­zi­ga­ret­ten zu kau­fen!” Ich lies mich über­re­den und ging in die Apo­the­ke und ver­lang­te die­se. Herrn Ger­lach war das wohl nicht ganz geheu­er und er frag­te mich, wofür ich sie haben woll­te. Ich ant­wor­te­te in mei­ner Nai­vi­tät: “Ach, ich bin so erkäl­tet.” Dar­auf­hin jag­te er mich aus dem Laden.

Hirschapotheke

Bei dem gro­ßen Angriff auf Bre­mer­ha­ven brann­te auch die Apo­the­ke aus, jedoch die Grund­mau­ern blie­ben erhal­ten. So steht sie auch heu­te noch fast unver­än­dert da. Beim Wie­der­auf­bau nach dem Krie­ge bekam mein Vater für sei­ne Tisch­le­rei den Auf­trag für die Anfer­ti­gung der Haus- und Laden­ein­gangs­tür. Ich war inzwi­schen Lehr­ling im väter­li­chen Betrieb und muss­te die­se Türen anfer­ti­gen. Es waren mei­ne ers­ten Außen­tü­ren, die ich anfer­tig­te, aus Eichen­holz mit Kreuz­spros­sen und Seg­ment­bö­gen und damit eine schwie­ri­ge Auf­ga­be. Sie haben lan­ge gehal­ten und wur­den irgend­wann durch Alu­mi­ni­um­tü­ren ersetzt.

Knob­lauch | Georg­stra­ße 43

Neben dem Kino Metro­pol lag das Haus von Uhr­ma­cher und Opti­ker Knob­lauch mit einer wun­der­schö­nen Fas­sa­de. Der Haus­ein­gang lag in der Mit­te des Hau­ses, links und rechts dane­ben die Schau­fens­ter. Die Knob­lauchs waren alte Leu­te und hat­ten sich schon zur Ruhe gesetzt. Sie bewohn­ten das 1. Ober­ge­schoss, das einen Erker besaß. Von hier­aus konn­te man die gesam­te Georg­stra­ße über­se­hen, zusätz­lich waren noch Spie­gel – so genann­te Spio­ne – ange­bracht und die bei­den Senio­ren saßen dort den gan­zen Tag und beob­ach­te­ten das Gesche­hen auf der Stra­ße. Soweit ich weiß, sind bei­de beim Bom­ben­an­griff im Sep­tem­ber 1944 ums Leben gekommen.

Geestemünde, Georgstraße 43, im Jahre 1904

Das Geschäft im Erd­ge­schoss wur­de von dem Schwie­ger­sohn, Herrn Franz Kelch gelei­tet. Es gab auch eine Toch­ter mei­nes Alters, Oda Kelch, mit der ich oft gespielt habe. Die Fami­lie Kelch besaß schon früh in den drei­ßi­ger Jah­ren ein Radio­ge­rät, das mit­tels eines ange­schlos­se­nen Auto­ak­kus betrie­ben wur­de. Dar­um habe ich sie sehr benei­det, denn bei uns zu Hau­se gab es zu der Zeit nur ein Grammophon.

Im Erd­ge­schoss war noch ein klei­ner Laden abge­teilt, wo ein Herr Hüb­ner einen Fri­seur­sa­lon betrieb. Dort­hin muss­te ich zum Haar­schnei­den gehen. Neben mir saßen in den Stüh­len, die mit einem Pedal hoch- und nie­der­ge­fah­ren wur­den, älte­re Her­ren, die ein­ge­seift und dann mit einem lan­gen Mes­ser rasiert wur­den. An den Wän­den hin­gen Wer­be­pla­ka­te für Dr. Dral­les Bir­ken­was­ser und Fromm’s. Es war mir immer sehr unan­ge­nehm, wenn mir der Nacken aus­ge­schnit­ten wur­de, denn ich war sehr kitzelig.

Auf dem Hof des Hau­ses stand das Gebäu­de der “Weser­dru­cke­rei Lüdecke & Gras­see”, bei der mein Vater sei­ne Geschäfts­pa­pie­re dru­cken lies.

Scho­cken | Merkur

Das Haus von Schocken/Merkur grenz­te in der Neu­markt­stra­ße direkt an das Wohn­haus mei­ner Eltern in der Bucht­stra­ße 8 – 10 und war mir von Kind an wohl­be­kannt. Ich schau­te oft aus unse­rem Wohn­zim­mer­fens­ter in der Neu­markt­stra­ße und beob­ach­te­te die Pfer­de­fuhr­wer­ke, die dort ihre Ware anlie­fer­ten. Beson­ders gefie­len mir die Wagen vom Gemü­se­groß­händ­ler Veh­mei­er — wegen der Pfer­de. Die Platt­wa­gen waren immer zwei­spän­nig und wur­den paar­wei­se jeweils von 2 Apfel­schim­meln oder Rap­pen gezo­gen. Als ich grös­ser war, ging ich schon mal hin­un­ter und gab ihnen ein Stück Zucker und strei­chel­te sie.

Mei­ne Eltern kauf­ten als selbst­stän­di­ge Geschäfts­leu­te im Ein­zel­han­del und nicht in Waren­häu­sern ein. Die Ein­zel­händ­ler waren ja auch Kun­den mei­ner Eltern und erwar­te­ten von ihnen das­sel­be. So erga­ben sich Kurio­si­tä­ten: Fleisch wur­de beim Schlach­ter Mül­ler in der Bucht­stra­ße, Leber­wurst beim Schlach­ter Selt­mann in der Johan­nes­stra­ße, gekoch­ter Schin­ken beim Schlach­ter Tost­mann in der Fried­rich­stra­ße und Rot­wurst beim Schlach­ter Gärt­ner in der Georg­stra­ße gekauft. Das Glei­che galt für den Brot­e­in­kauf: Voll­korn­brot beim Bäcker Gers in der Rosen­stra­ße, Bröt­chen lie­fer­te der Bäcker Schr­a­der aus der Pasch­stra­ße, und auch bei den Bäckern Bull­win­kel in der Schil­ler­stra­ße und Eden in der Nel­ken­stra­ße wur­de eingekauft.

1905 Bäckerei Mehl

In das Geschäft von Scho­cken kam ich nur mal in Beglei­tung mei­ner Spiel­ka­me­ra­den aus dem Pasch­vier­tel, wenn sie hier­her zu Ein­kau­fen geschickt wur­den. Es war für mich inter­es­sant, durch den Laden zu bum­meln und die gro­ße Aus­wahl an Waren zu betrach­ten. Spä­ter wäh­rend des Krie­ges ging ich öfter mal in die Schall­plat­ten­ab­tei­lung des Kauf­hau­ses, das nun unter dem Namen Mer­kur fir­mier­te und spä­ter dem Hor­ten­kon­zern ein­ver­leibt wur­de. Hier konn­te man Schall­plat­ten mit den neu­es­ten Sol­da­ten­lie­dern erwer­ben, wenn man eine alte Schel­lack­plat­te dafür abgab. Außer­dem konn­te man zeit­wei­se Bat­te­rien für die Taschen­lam­pen erwer­ben, die es sonst nir­gend­wo mehr gab.

Eine schreck­li­che Erin­ne­rung für mich ist das Gesche­hen in der so genannten“Kristallnacht” am 9. Novem­ber 1938. Mein Schlaf­zim­mer lag zur Neu­markt­stra­ße hin, und ich wur­de durch das Schep­pern von Glas geweckt. Ich mach­te das Licht aus und schob das Ver­dun­ke­lungs­rol­lo ein Stück hoch, um hin­aus­zu­schau­en und sah im Schein der gegen­über­lie­gend Gas­la­ter­ne Gestal­ten auf der Stra­ße hin- und her­lau­fen, und es war ein gro­ßer Lärm dort unten. Als ich am nächs­ten Mor­gen zur Schu­le ging, kam ich auf mei­nem Wege in der Neu­markt­stra­ße an den Schau­fens­tern vor­bei und sah die zer­split­ter­ten Schei­ben und das Cha­os im Inne­ren des Geschäf­tes. Vor den Fens­tern stand ein Mann in SA-Uni­form als Wache gegen Plün­de­run­gen. Nach­mit­tags fuhr ein Last­wa­gen der NSV vor und die Lebens­mit­tel wur­den aus dem Laden getra­gen und auf­ge­la­den. Ich habe als Kind nicht begrif­fen, was in der Nacht vor­ge­gan­gen ist.

Radio Wapp­ler

Rechts neben dem Kauf­haus stand das Haus von Radio Wapp­ler. Hier kauf­te ich Klin­gel­draht und klei­ne Schal­ter für mei­ne elek­tri­schen Bas­te­lei­en, spä­ter mei­ne Schall­plat­ten. Mit dem Sohn der Fami­lie, Hans-Georg, habe ich des Öfte­ren gespielt. Das Haus wur­de auch total zer­stört, aber nach dem Krieg an glei­cher Stel­le wie­der aufgebaut.

1924 Musikhaus Birnbaum

Musik­haus Birnbaum

Im anschlie­ßen­den Haus wei­ter nach Süden befan­den sich zwei klei­ne Läden. Das Ehe­paar Birn­baum han­del­te mit Musik­in­stru­men­ten, und Herr Birn­baum kam ab und zu zum Kla­vier­stim­men in unser Haus. Wir kauf­ten bei ihm auch unser ers­tes Radio, und er ver­leg­te für den Anschluss die Anten­ne auf dem Dach, in dem er eine Kup­fer­lit­ze von Schorn­stein zu Schorn­stein spann­te. Nach dem Krie­ge betrieb Frau Birn­baum das Geschäft in der Hafen­stra­ße im Pavil­lon über der Aue.

Im rech­ten Teil des Hau­ses betrieb Frau Rook ein Spe­zi­al­ge­schäft für Scho­ko­la­de. Sie führ­te nur Mar­ken­wa­re, und ihre gefüll­ten Reli­ef­pra­li­nen sind mir in guter Erinnerung.

I.G. Schmidt

Die Lie­fer­wa­gen sind mir in beson­de­rer Erin­ne­rung. Es waren Last­wa­gen mit beson­de­ren Auf­bau­ten für den Trans­port von Bau­stahl, da sich die Bau­wei­se aus Beton durch­ge­setzt hat­te. Die Wagen hat­ten eine auf­fäl­li­ge Lackie­rung in einer Art“Mimikri”, die an den Anstrich von Kriegs­schif­fen erin­ner­te, nur das es grel­le Far­ben waren. Die Wagen stan­den immer in der Neu­markt­stra­ße vor dem Lagerplatz.

Franz­ke

An der West­sei­te zwi­schen der Max-Died­rich-Stra­ße und der Eins­war­der Stra­ße befand sich das Fahr­rad­haus Franz­ke. Im Gegen­satz zu dem “Bast­ler” im Nor­den der Georg­stra­ße führ­te Herr Sarah nur Mar­ken­rä­der in sei­nem Sor­ti­ment. Mit 8 Jah­ren bekam ich mein ers­tes Fahr­rad zum Geburts­tag. Es war ein Kna­ben­fahr­rad — eine Zwi­schen­grö­ße vom Kin­der­fahr­rad zum Her­ren­fahr­rad — und hat­te die Mar­ke “Rufran”.

Rad­fah­ren lern­te ich im Fische­rei­ha­fen in der Hal­le X. Mein Vater hat­te sich die­sen Platz aus­ge­sucht, da dort Sonn­tag­mor­gens kein Betrieb war und da der Beton­bo­den sehr eben war. Mein Vater schob mich an, und ich dreh­te mei­ne Run­den. Das Auf- und Abstei­gen war mein größ­tes Pro­blem, aber bald konn­te ich auch dieses.

Nun besaß die gan­ze Fami­lie Fahr­rä­der, und unse­re Sonn­tags­aus­flü­ge gin­gen über die Schiff­dor­fer Chaus­see nach Hoser­müh­len. Der Sonn­tags­ku­chen wur­de in einem so genann­ten “Stadt­kof­fer” auf dem Gepäck­hal­ter ver­staut. In Hoser­müh­len hat­te Herr von Hol­len einen “Som­mer­gar­ten”, und er ser­vier­te in wei­ßer Jacke den Kaf­fee und für mich eine “Oran­gea­de”. Nach dem Kaf­fee spann­ten mei­ne Eltern die mit­ge­brach­ten Hän­ge­mat­ten im Som­mer­gar­ten zwi­schen den Bäu­men auf und ruh­ten dort. Mei­ne Schwes­ter und ich spiel­ten im Gar­ten und an einem klei­nen Bach in der Nähe.

Dro­ge­rie Petrasch 

An der süd­öst­li­chen Ecke der Georg- und Max-Diet­rich-Stra­ße befand sich die Dro­ge­rie Petrasch, die auch Säme­rei­en führ­te. Mein Groß­va­ter besaß einen Schre­ber­gar­ten in der Hart­wig­stra­ße und kauf­te sei­ne Säme­rei­en bei Petrasch. Da er ein guter Kun­de war, bekam er am Anfang des Krie­ges noch ab und zu einen Roll­film für mei­ne Kod­ak-Box. Fil­me waren zu der Zeit schwer zu bekom­men, weil sie kriegs­wich­ti­ges Mate­ri­al darstellten.

Georg Ecke (damals Bahnhofstr.) jetzt Max-Dietrich

Kugel-Bake

Im Nach­bar­haus von Petrasch befand sich im links gele­ge­nen Laden die Fir­ma Kugel-Bake. Herr Bake han­del­te mit Berufs­be­klei­dung, vor­wie­gend für die Werf­ten und den Fische­rei­ha­fen. Als Blitz­licht taucht bei mir die Erin­ne­rung auf, dass Herr Bake mit sei­nem roten Bart oft vor der Laden­tür stand — den Ver­kehr beob­ach­tend oder im Gespräch mit Pas­san­ten. Sein Ange­stell­ter war ein Herr Becker, den ich als klei­nen schüch­ter­nen Mann in Erin­ne­rung habe. Er war nach dem Krie­ge als Kir­chen­die­ner an der Chris­tus­kir­che tätig.

Uhren-Stu­te

Im rech­ten Laden des vor­ge­nann­ten Hau­ses hat­te Robert Stu­te ein Uhren­fach­ge­schäft mit Werk­statt zum Hof hin. Sei­nen Sohn Wal­ter lern­te ich in der Schu­le ken­nen, und wir waren lan­ge Zeit eng befreun­det. Ich kam dadurch oft in das Haus und in den Laden. Wenn die Laden­tür geöff­net wur­de, erklang ein vier­tei­li­ger Gong. Wir mach­ten den Klang nach und san­gen dazu: “Schön — gu — ten – Tag/Auf – wie – der – sehn.”

Georgstrasse suedoestliche EckeMax-Dietrich

Hin­ten in der Werk­statt saß ein Herr Jakob mit der Lupe im Auge am Tisch und repa­rier­te die Uhren. Wal­ters Mut­ter war immer sehr nett zu mir, und sein Vater hat­te im Flur der im 1. Ober­ge­schoss lie­gen­den Woh­nung eine Reck­stan­ge aus Holz anbrin­gen las­sen, an der wir Auf­schwung, Knie­wel­le und Sitz­wel­le üben konn­ten. Lei­der ver­starb Wal­ters Vater kurz nach dem Bom­ben­an­griff am 18. Sep­tem­ber. Ursa­che war wohl die Auf­re­gung, denn die Fami­lie konn­te nur unter schwie­ri­gen Umstän­den das bren­nen­de Haus verlassen.

Sei­ne Mut­ter bau­te nach dem Krie­ge das Geschäft wie­der auf, erst in der Max-Diet­rich-Stra­ße, spä­ter an alter Stel­le in der Georg­stra­ße. Mein Vater bau­te in unse­rer Werk­statt die Laden­ein­rich­tun­gen für bei­de Läden, und ich war als Lehr­ling dar­an betei­ligt. — Lei­der ist auch Wal­ter im Jah­re 2013 verstorben.

Bau­ern­häu­ser

Ecke An der Mühle/Georgstraße stan­den zurück­lie­gend noch 2 alte Bau­ern­häu­ser. In einem wohn­te mein Klas­sen­ka­me­rad Gün­ter Sachs. Im ande­ren Haus mein Klas­sen­ka­me­rad Sep­pel Sel­grath. Es waren neben eini­gen Häu­sern am Bau­ern­wall und an der Tal­stra­ße die letz­ten Res­te vom alten Geest­en­dorf. Sie wur­den alle beim Bom­ben­an­griff am 18. Sep­tem­ber 1944 vernichtet.

Nie­der­sach­sen­hof

An der West­sei­te der Georg­stra­ße in Höhe der Stra­ße An der Müh­le befand sich im Erd­ge­schoß des Hau­ses eine Gast­stät­te mit dem Namen Nie­der­sach­sen­hof. Es war eine gut­bür­ger­li­che Gast­stät­te, in der auch mein Groß­va­ter ab und zu ver­kehr­te. Das Beson­de­re des Lokals war die Innen­ein­rich­tung. Ich weiß nicht, ob der Inha­ber ein­mal zur See gefah­ren oder ein Lieb­ha­ber von chi­ne­si­schem Inte­ri­eur war. Mein Groß­va­ter nahm mich ein­mal mit dort­hin und zeig­te mir die Rari­tä­ten. Der Raum stand vol­ler Pago­den, Bam­bus und an den Wän­den hin­gen chi­ne­si­sche Tusche­zeich­nun­gen. Dies war damals eine Rari­tät, denn es gab mei­nes Wis­sens nach sei­ner­zeit noch kei­ne Chi­na­re­stau­rants, wie sie heu­te üblich sind.

Fisch­brat­kü­che

Im glei­chen Hau­se oder gleich neben­an wur­de eine Fisch­brat­kü­che betrie­ben. Ich glau­be, daß es die ein­zi­ge in Geest­e­mün­de der­zeit war. Wenn bei uns zu Hau­se Fisch­tag war, bekam ich eine gro­ße Por­zel­lan­scha­le in die Hand gedrückt, die in Hand­tü­chern und alten Zei­tun­gen zum warm­hal­ten ein­ge­packt war. Ich hol­te immer gro­ße Por­tio­nen, da ich in einer Groß­fa­mi­lie auf­wuchs und die Haus­hal­tung zusam­men mit mei­nen Groß­el­tern erfolgte.

Plesseeck

Schmie­de

Ecke Georg- und Schmie­de­stra­ße war eine Huf­schmie­de, die sich dort bis zum Kriegs­en­de befand. In den drei­ßi­ger Jah­ren und auch wäh­rend des Krie­ges gab es kaum Autos, und der Last­ver­kehr erfolg­te mit Fuhr­wer­ken und Pfer­de­ge­span­nen. Die Pfer­de stan­den zum Beschla­gen auf dem Geh­weg der Stra­ße, und ich habe als Jun­ge oft dort gestan­den und zuge­schaut. Inter­es­sant war das Schmie­de­feu­er inner­halb der Schmie­de, das mit einem Bla­se­balg betrie­ben wur­de. Die Huf­ei­sen wur­den dort glü­hend erhitzt, auf dem Amboss mit dem Ham­mer bear­bei­tet und mit eine lan­gen Zan­ge nach drau­ßen gebracht. Einer der Schmie­de hielt ein Bein des Pfer­des in Hän­den und auf dem Knie und bear­bei­te­te den Huf mit einem schar­fen Mes­ser. Dann leg­te der ande­re mit der Zan­ge das glü­hen­de Eisen auf den Huf, wobei ein zischen­des Geräusch ent­stand und sich Qualm und Geruch nach ver­brann­tem Horn aus­brei­te­te. Nach der Abküh­lung wur­den die Huf­nä­gel ein­ge­schla­gen. Ein­mal bekam ich ein altes Huf­ei­sen und ein paar neue Huf­nä­gel geschenkt. Huf­ei­sen gal­ten damals als Glücks­brin­ger und wur­den zur Zier­de an die Wand gehängt.

Nach­satz

Es gäbe noch viel zu erzäh­len! Scha­de, dass Her­bert Ehlers nicht mehr unter uns weilt. Wir könn­ten beim Nach­den­ken bestimmt noch eine Fort­set­zung schreiben. 
Bre­mer­ha­ven, im Janu­ar 2014 | Erich Sturk

Georgstraße-zum Weiterlesen

Oda Kelch: Erinnerungen an meine Georgstraße

Erin­ne­run­gen an mei­ne Georg­stra­ße” habe ich die­sem Arti­kel als Über­schrift gege­ben. Dazu mei­nen ganz lie­ben Dank an Oda Kelch, die mir ihre auf­ge­schrie­be­nen Kind­heits­er­in­ne­run­gen an “ihre gelieb­te Georg­stra­ße” zur Ver­fü­gung gestellt hat mit der Erlaub­nis, die­sen Wis­sens­schatz für die Leser des “Deich­SPIE­GEL” zu veröffentlichen. 

Erinnerungen an meine Georgstraße

Seit 1847 gibt es Geest­e­mün­de, vom dama­li­gen König Georg V ( Sohn von König Ernst August, vor­mals Her­zog von Cum­ber­land — Sohn Georg III von Eng­land — und sei­ner Gemah­lin Frie­de­ri­ke, Schwes­ter der belieb­ten Köni­gin Lui­se von Preu­ßen ) gegrün­det. Seit 1862 die Eisen­bahn­ver­bin­dung, die “Geest­e­bahn”, nach Bremen.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Und einer von den dort beschäf­tig­ten Loko­mo­tiv­füh­rern war mein Urgroß­va­ter. Er bewohn­te mit sei­ner Fami­lie eine Dienst­woh­nung nahe dem Bahn­hofs­ge­bäu­de, Ecke Ell­horn­stra­ße und war ein­ge­fleisch­ter “Wel­fe”, wie sich die dama­li­gen “Fans” des han­no­ver­schen Königs­hau­ses nannten.

1864 wur­de mein Groß­va­ter Bern­hard Knob­lauch gebo­ren. Zwei Jah­re spä­ter dann die natio­na­le Kata­stro­phe: König­grätz. Das Water­loo für alle “Wel­fen”. Aber spä­ter nahm mein Urgroß­va­ter die preu­ßi­sche Pen­si­on ohne Mur­ren hin. Mit den neu­en Her­ren wur­de vie­les anders. Der Bahn­hof wur­de um etli­ches erwei­tert, und dafür muss­ten die Dienst­woh­nun­gen abge­ris­sen und die Bewoh­ner umge­sie­delt wer­den. Knob­lauchs zogen um in die dama­li­ge Markt­stra­ße, heu­te Ver­de­ner Stra­ße, in Altgeestemünde.

Ihre Nach­barn waren Harz­mey­ers, deren Fami­li­en­ober­haupt der Schuh­ma­cher Her­mann war. Wie vie­le Kin­der jede Fami­lie hat­te und um wel­che Zeit sich das alles abspiel­te, weiß ich nicht. Von Erzäh­lun­gen mei­ner Mut­ter, Groß­mutter, ‑vater, ‑tan­te ist mir ledig­lich bekannt, dass mein Groß­va­ter und der Sohn Her­mann Harz­mey­er enge Freun­de wur­den. Jung-Harz­mey­er lern­te das Schuh­ma­cher-Hand­werk, mein Groß­va­ter das des Uhr­ma­chers. Nach der Leh­re ging er als Gehil­fe für eini­ge Zeit nach Sangershausen.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Als er zurück­kam und sei­nen Freund und Nach­barn begrü­ßen woll­te, stand des­sen Schwes­ter  Hele­ne  im Raum. Nach sei­nem Weg­gang sag­te sie ent­setzt zu ihrer Mut­ter: ” Nee doch, dis­sen swat­ten Dübel!” — Kur­ze Zeit spä­ter waren sie ver­lobt. Das alles spiel­te sich in Geest­e­mün­de ab. Süd­öst­lich davon lag — und liegt heu­te noch — die Gemar­kung Geest­en­dorf, durch die sich die Bre­mer Land­stra­ße hin­zog. Sie war in “Georg­stra­ße” umbe­nannt wor­den ( nach dem letz­ten han­no­ver­schen König ) und soll­te nun bebaut wer­den. Mein Groß­va­ter und sein — mitt­ler­wei­le — Schwa­ger grif­fen zu.  Auch hier­von weiß ich nicht die Zeit. Es muss in den aus­ge­hen­den 1980er Jah­ren gewe­sen sein.

Mein Opa hat­te im Haus Georg­stra­ße 43 einen Laden, in dem er in einem Hin­ter­zim­mer sei­ne Werk­statt und die Fami­lie ihre Wohn­räu­me ein­schließ­lich Küche hat­te. Irgend­wann gab es auch Gas­be­leuch­tung. Die dazu­ge­hö­ri­gen Roh­re waren noch 1944 zu sehen. Da mein Groß­va­ter immer die Nase vorn hat­te, gab es aber bald Elek­tri­zi­tät. Haus­be­sit­zer war sei­ner­zeit noch ein Tier­arzt. Um das Vieh auf dem Hof anzu­bin­den, hat­te er Rin­ge in das Neben­haus Nr. 45 schla­gen las­sen, die von spä­te­ren Gene­ra­tio­nen Mäd­chen zum Seil­sprin­gen benutzt wurden.

Wie kam man auf den Hof, der doch rings­um von Gebäu­den umge­ben war? Wenn man sich das Haus auf alten Fotos ansieht, erkennt man ganz links ein Bar­bier­ge­schäft. Das gab es ursprüng­lich nicht, denn da war die Ein­fahrt zum Hof. Als man die nicht mehr brauch­te, hat man davon einen Laden gemacht.

Wann mein Opa das Haus kau­fen konn­te, weiß ich nicht. Mei­ne Mut­ter und ihre Schwes­ter haben jeden­falls ihre ers­ten Lebens­jah­re noch im Laden ver­bracht. “Von Sporn un Worn kommt Heb­ben von her” — und die Ver­mie­tung der Woh­nun­gen brach­te schon aller­lei ein. Da konn­te man sich selbst einschränken.

Irgend­wann wur­de das Hin­ter­haus gebaut. Zunächst als Wohn­haus, dann als Dru­cke­rei. Bis nach dem Krieg war die “Weser­dru­cke­rei” Inha­ber. Frü­he­re Inha­ber waren u.a. Nieb­ling & Feld­ba­cher, die im Vor­der­haus den klei­nen Laden links vom Ein­gang, also zwi­schen dem gro­ßen Laden und dem Bar­bier hat­ten. Wie lan­ge, das weiß ich nicht. Mei­ne Erin­ne­rung setzt erst ein, als Herr und Frau Birn­baum dort ein Musi­ka­li­en­ge­schäft hat­ten. Das Inter­es­san­tes­te an ihnen war, dass sie nicht in einem gewöhn­li­chen Haus wohn­ten, son­dern hin­ten in Lehe in einem Wochen­end­haus, und bei einer Über­schwem­mung ihre Hüh­ner im Wohn­haus hat­ten. Ich habe es mir ange­se­hen als mein Vater mit mir dahin fuhr.

Anfang des Krie­ges zogen sie aus. Thams & Garfs hat­ten Inter­es­se an unse­rem gro­ßen Laden. Da nahm mein Vater den klei­nen und über­ließ ihnen den ande­ren. Aber ich grei­fe schon vor.

Irgen­wann zogen mei­ne Groß­el­tern in den zwei­ten Stock des Hau­ses. Auf dem Foto steht mei­ne Groß­mutter mit mei­ner Mut­ter (gebo­ren 1896) und mei­ner Tan­te (gebo­ren 1898) auf dem Bal­kon. Aus den Fens­tern gucken die übri­gen Haus­be­woh­ner, denn es war ja vor­her ange­kün­digt wor­den, dass ein Foto­graf kommt. Unten im gro­ßen Haus­ein­gang steht mein Groß­va­ter mit Ange­stell­ten oder Passanten.

Das Haus hat­te zwei Eta­gen mit ins­ge­samt vier Woh­nun­gen. Ganz oben war ein gro­ßer Boden mit etli­chen Boden­kam­mern und einer Wasch­kü­che, die mein Groß­va­ter nach den moderns­ten Gesichts­punk­ten hat­te ein­rich­ten las­sen. Der übri­ge Boden­raum war mit Lei­nen bespannt und dien­te zum Trock­nen. Aller­dings waren auch Zieh­lei­nen von den Bal­kons zum Kon­tor­haus der Dru­cke­rei gespannt zum Trock­nen bei schö­nem Wet­ter. Noch heu­te habe ich das Quiet­schen und das Geräusch der ros­ti­gen Sei­le beim Hin- und Her­zie­hen in den Ohren.

Außer­dem lagen auf dem Boden die Fah­nen. Mei­ne ers­te Erin­ne­rung waren die schwarz-weiß-rote, gro­ße, lan­ge, schwe­re. Spä­ter irgend­wann kam eine klei­ne Haken­kreuz­fah­ne dazu. Und eines Tages gab es nur noch sol­che, aber auch gro­ße. Geflaggt wur­de viel. War auch kein Pro­blem. Nur waren die Mas­ten so schwer, dass nur Män­ner sie bewäl­ti­gen konn­ten. Und für uns Kin­der jedes Mal span­nend. Mein Groß­va­ter und mein Vater haben aber sicher­lich mit den Zäh­nen wegen der Ände­rung zum Haken­kreuz geknirscht. Gesagt haben sie in Gegen­wart von uns Kin­dern nichts — wie eh und je.

Und dann war da oben noch eine Kam­mer. Wir waren ja in Preu­ßen (oder war das woan­ders auch so?). Ob sie jemals dazu gedient hat, Ein­quar­tie­rung auf­zu­neh­men, weiß ich nicht. Ich habe nur in Erin­ne­rung, dass wir ein­mal wel­che hat­ten, ob Sol­da­ten oder “braun”. Ansons­ten spiel­ten wir Kin­der gern dar­in, weil da alte aus­ran­gier­te Möbel stan­den, die so herr­lich rochen, knarr­ten, quietsch­ten und das Fens­ter so schön nied­rig war, und man so weit gucken konnte.

Am schöns­ten war ein alter Bar­bier­stuhl aus dem Nach­lass mei­nes Groß­va­ters Andre­as Kelch. Viel anfan­gen konn­ten wir nicht mit dem Möbel­stück, aber er dreh­te sich wie unser Kla­vier­ho­cker. Dass man sol­che Behau­sung anbot, ver­ste­he ich heu­te nicht. Es fehl­te näm­lich die heu­te selbst­ver­ständ­li­che sani­tä­re Ein­rich­tung. Statt des­sen: Nacht­pott und Waschschüssel.

Der sani­tä­re Stan­dard, den wir heu­te haben, fehl­te sowie­so im Haus. Flie­ßend Kalt­was­ser gab es zwar in jeder Woh­nung. Aber die Klo­setts waren auf dem Bal­kon, bzw. ein Pis­soir für die Läden auf dem Hof. Mei­ne Groß­el­tern hat­ten in ihrer Woh­nung aus einem Zim­mer ein Bade­zim­mer machen las­sen. Das war wohl auch spä­ter sehr nötig, denn mein Groß­va­ter war durch einen Schlag­an­fall halb­sei­tig gelähmt.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Doch erst mal wie­der zurück zur Anfangs­zeit. Bern­hard Knob­lauch hat­te das Haus Georg­stra­ße 43, sein Freund und Schwa­ger — viel­leicht auch noch sein Schwie­ger­va­ter — das Haus Georg­stra­ße 41. Auf jeden Fall aber sei­ne Schwie­ger­mut­ter, Oma Harz­mey­er Tabe­ta, geb. Mahl­stedt aus Gan­der­ke­see, mei­ne Urgroß­mutter. Die hat­te die Hosen an! Ihre Toch­ter, mei­ne Groß­mutter, eben­so. Das war wohl so üblich. Sie waren die See­le vom Gan­zen. Wie hät­ten die Hand­wer­ker es sonst schaf­fen kön­nen? Mein Opa Knob­lauch brach­te zum Bei­spiel häu­fig bei ihm gekauf­te oder repa­rier­te gro­ße Uhren per­sön­lich zu den Kun­den auf das Land, denn er hat­te eine gro­ße Land­kund­schaft. Daher war es auch selbst­ver­ständ­lich, dass er platt schnack­te — und Frau und Toch­ter, die im Laden hal­fen, ebenso.

Das alles ohne eige­nes Fahr­zeug. Er war auf öffent­li­che Trans­port­mit­tel ange­wie­sen und mach­te vie­le Stre­cken zu Fuß. Es gab aber auch Lus­ti­ges: eines Tages kam eine Frau in den Laden und ließ sich ziem­lich kost­spie­li­gen Schmuck vor­le­gen. Als mei­ne Mut­ter dann vor­sorg­lich auf den hohen Preis hin­wies, erwi­der­te sie see­len­ru­hig: “Macht nix, min Mann fohrt dor ja för.”

Heu­te, 2014, wird in den Medi­en immer wie­der auf die ver­gan­ge­nen 100 Jah­re hin­ge­wie­sen und man könn­te glau­ben, sie erzäh­len von der Stein­zeit. Mir dage­gen sind die ver­gan­ge­nen 100 Jah­re wie ges­tern, obwohl ich sie nur zur Hälf­te erlebt habe. Das habe ich mei­ner Mut­ter, mei­nen Groß­el­tern und Tan­ten zu ver­dan­ken. Die konn­ten viel erzäh­len. Irgend­wo in Geest­e­mün­de, in der Georg­stra­ße und “umzu” wohn­ten sie alle, kann­ten sich alle, waren zusam­men zur Schu­le oder in die Tanz­stun­de gegan­gen, hat­ten bei Fräu­lein Block in der Gra­ben­stra­ße (heu­te Ram­sau­er­stra­ße) Weiß­nä­hen gelernt, oder “die fei­ne Küche” bei Lehr­ke, oder hat­ten Wan­de­run­gen mit dem Wan­der­vo­gel gemacht, waren in einem Turn­ver­ein (GTV oder GSC) oder Gesangs­ver­ein oder zog mit dem Wan­der­vo­gel durch die Lande.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Es gab noch kei­ne Teen­ager, aber dafür Back­fi­sche. Und die gin­gen auf der Georg­stra­ße bum­meln (Die Stei­ge­rung war “bür­gern”). Mit 14 Jahr und 7 Wochen ist der Back­fisch aus­ge­kro­chen. Dafür gab es extra Kett­chen mit einem klei­nen Fisch. Zu mei­ner Zeit war das nur noch Erin­ne­rung mei­ner Mut­ter und Tan­ten. Die­se 14/15jährigen trip­pel­ten dann mit ihren Stie­fel­chen und Hin- und Her­bü­del (Pom­pa­dur) die Georg­stra­ße auf und ab, schiel­ten ver­stoh­len zur Sei­te, wo die Pen­nä­ler eben­falls auf und ab schlen­der­ten und ver­mut­lich auch ver­stoh­len zu den jun­gen Damen schiel­ten. Jeden­falls zogen sie hin und wie­der ihre damals übli­chen Schü­ler­müt­zen zum Gruß. Sehr förm­lich! Auf der weib­li­chen Sei­te wur­de die Gegrüß­te sicher­lich rot und ver­le­gen — ver­gaß aber nicht, die Sache ins Notiz­buch einzutragen.

War die Cho­se vor­bei, wur­de unter den Freun­din­nen aus­ge­zählt, wer die meis­ten Grü­ße bekom­men hat­te. Aber nicht nur die Anzahl zähl­te, son­dern auch — und vor allen Din­gen — die Far­be der Müt­zen. Ein­zel­hei­ten weiß ich nicht mehr, aber soviel, dass die wei­ßen den höchs­ten Wert hat­ten. Das waren die Pri­ma­ner (spä­ter Ober­pri­ma­ner). Aber auch die­se Epi­so­den habe ich nicht mehr erlebt.

Mei­ne Erin­ne­rung von der Georg­stra­ße 43, in der ich auf­ge­wach­sen bin, setzt eigent­lich ein mit dem Aus­gu­cken vom Erker­fens­ter mei­ner Groß­el­tern. Das war unge­heu­er viel. Anfang der 1930er Jah­re. Da fuh­ren noch Pfer­de­fuhr­wer­ke durch die Stadt, Rind­vieh wur­de — ich weiß nicht, woher — durch die Stra­ße zum Schlacht­hof getrie­ben. Ein­mal woll­te eine Kuh nicht mit­ma­chen son­dern zog unse­ren Haus­ein­gang und den dahin­ter lie­gen­den Hof und Gar­ten vor. Mein Vater, der den Umgang mit Vie­chern kann­te, brach­te sie dann wie­der zur Her­de zurück.

Dann war da auch ein Stein­koh­len­wa­gen, mit dem die Häu­ser von der Stra­ße her belie­fert wur­den. Und Frau Sche­we an der Ecke Georg- und Ram­sau­er­stra­ße, unse­rem Erker direkt gegen­über, die vom ihrem Kar­ren aus per Liter­maß Gra­nat verkaufte.

Und der Later­nen­mann. Vor unse­rem Haus stand eine alte Later­ne. Wie­so, weiß ich nicht, denn es gab doch nor­ma­ler Wei­se Stra­ßen­be­leuch­tung. Und zu eben die­ser Later­ne kam hin und wie­der ein Later­nen­mann mit einer lan­gen Stan­ge. Was er damit oben an der Later­ne mach­te, weiß ich nicht.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Eben­so schön anzu­se­hen waren die Trau­er­zü­ge. Ach, waren die schön! Eine Kut­sche wie für einen König, aber nicht gol­den son­dern schwarz, mit Kut­scher, und viel Blu­men und Musik­ka­pel­le, die den Trau­er­marsch spiel­te. Opa sang dann immer: “Ach, nun trinkt er kei­nen Rots­pon mehr.” Meis­tens gin­gen vie­le Men­schen mit. Dann schau­kel­te die Men­ge im ein­tö­ni­gen Rhyth­mus immer von links nach rechts und wie­der zurück.

Aber auch moder­ne Fahr­zeu­ge gab es zu sehen: Autos! Wir hat­ten Spaß dar­an, uns die KFZ-Num­mern anzu­se­hen. IA war Ber­lin , die ande­ren weiß ich nicht. Ich glau­be, wir, das heißt unse­re Umge­bung, gehör­ten zu Han­no­ver und war IIIA. Inter­es­san­ter war für mich damals, dass die Wagen sich so ver­än­der­ten. Zum Bei­spiel die Schein­wer­fer oder die Fens­ter oder die Hupen. Wir setz­ten unse­ren Ehr­geiz dar­ein, die Autos mit ihrem Namen zu ken­nen: Opel, Adler, Ford — aber damit war mein Bedarf dann auch gedeckt. Wir hat­ten kein Auto, mein Vater spar­te auf einen VW.

Spä­ter kamen dann die Blau­en Jungs. Die mar­schier­ten mit Gesang durch die Stra­ße, mal in blau, mal in Trai­nings­zeug. Irgend­wo im Süden hat­ten sie einen Trai­nings­platz — und im Nor­den war ihre Kaser­ne. Und hin und wie­der war es auch braun. Ich hat­te immer mei­nen Spaß an den Dane­ben­lau­fen­den, die dann immer “links, links, links zwo drei vier” schrien um eini­ger­ma­ßen Gleich­schritt in die Trup­pe zu kriegen.

Noch konn­te man quer über die Stra­ße zur ande­ren Sei­te lau­fen. Damit war irgend­wann Schluss. Ein Schu­po stand in der Mit­te der Georg­stra­ße, da wo sich die Bucht- und die Ram­sau­er­stra­ße tra­fen, und regel­te den Ver­kehr. Wir Kin­der spiel­ten mit Oma und Opa ein Brett­spiel, das uns die Ver­kehrs­re­geln beibrachte.

Nur frei­tags­nachts war von der neu­en Ord­nung nichts mehr zu spü­ren. Dann beka­men die Arbei­ter von See­becks Werft ihren Lohn. Wer nicht schon am Tor von sei­ner Frau abge­fan­gen wor­den war und mit dem Zug nach Haus fah­ren muss­te, kam auf dem Weg zum Bahn­hof durch die Ram­sau­er­stra­ße, in der es eine Knei­pe gab. Von unse­rem Kin­der­zim­mer­fens­ter aus konn­te man direkt in die Ram­sau­er­stra­ße sehen. Wenn wir in unse­ren Bet­ten lagen, hör­ten wir dann die Grö­le­rei und spä­ter den Krach beim Ver­las­sen des Lokals.

Eines Nachts war es anders, es war kein Frei­tag und kein Sau­ferei­ge­grö­le, es war ein ande­res Gegrö­le und viel, viel Schei­ben­ge­klir­re. Es war, als leg­te sich ein schwe­res Brett über uns. Wir Kin­der ver­such­ten, aus dem Fens­ter zu sehen, wur­den aber von den Eltern zurück­ge­hal­ten. An irgend­wel­che Gesprä­che mit ihnen kann ich mich nicht erin­nern. Es war der 9. Novem­ber 1937. Auch an Rauch­ge­ruch kann ich mich nicht erinnern.

Am nächs­ten Tag fehl­te Hen­ni Horn­berg in der Klas­se. Hen­ni war Jüdin und saß in der Bank­rei­he neben mir auf der ande­ren Sei­te. Ich wuss­te, dass ich nicht mit ihr und sie nicht mit mir spre­chen durf­te. Hat­te es aber den­noch getan. Wir hat­ten eine Leh­re­rin, Fräu­lein Jun­ge, die so war, wie ein Mensch sein muss. Und eine Leh­re­rin ist für alle da. Und so ach­te­te sie immer dar­auf, dass Hen­ni eine Schü­le­rin wie alle ande­ren war. Ob Fräu­lein Jun­ge nicht merk­te, dass ich mit Hen­ni sprach, glau­be ich nicht, denn sie bemerk­te in mei­nem Zeug­nis: “Oda muss bedeu­tend ruhi­ger wer­den.” Aber zu mei­ner Quas­se­lei mit Hen­ni sag­te sie nie was.

Als Hen­ni dann wie­der­kam, frag­te ich sie sofort wegen der Nacht aus, und sie erzähl­te mir, dass man bei ihnen die Schei­ben ein­ge­schla­gen und ihren Vater mit­ge­nom­men hät­te. Ihrer klei­nen Schwes­ter haben sie dann gesagt, dass der Papa bald wie­der­kom­men und Bon­bons mit­brin­gen wür­de. Das war das Letz­te, was ich von Hen­ni weiß. Spä­ter, als ich mal einen Tag nicht in der Klas­se war, sind — so wur­de mir spä­ter erzählt — zwei Män­ner in Män­teln gekom­men und haben sie abge­holt. Da hat Fräu­lein Jun­ge dar­um gebe­ten, dass Hen­ni noch ein Lied für alle singt, weil sie das so gern tat. Als Jüdin durf­te sie zwar kei­ne “deut­schen” Lie­der sin­gen. Aber gegen jüdi­sche Kom­po­nis­ten war nichts ein­zu­wen­den. Also sang sie “Ich hab ein Diw­an­püpp­chen süß und rei­zend wie du” aus einer Ope­ret­te von Paul Abra­ham, das sie auch liebte.

Jah­re spä­ter las ich, dass sie und ihre Fami­lie in Minsk umge­bracht wor­den ist. Mei­ne Mut­ter und ich lasen das zusam­men anläss­lich einer Ver­an­stal­tung. Für mei­ne Mut­ter wur­den vie­le Erin­ne­run­gen wach, und sie erzähl­te mir von jüdi­schen Geschäfts­leu­ten, bei denen sie und die bei ihrem Vater Kun­den gewe­sen waren und wel­che guten Geschäfts­ver­bin­dun­gen man pfleg­te. Als sie zum Bei­spiel in der Kai­ser­zeit ihren ers­ten Faschings­ball hat­te, beriet sie einer der Her­ren. Und Fräu­lein Lieb­mann, deren Geschäft spä­ter ari­siert wur­de, hat­te immer etwas Beson­de­res für sie. Sie wur­de auch umge­bracht. Mei­ne Mut­ter sprach noch jah­re­lang von ihr.

Uns gegen­über, Ecke Ram­sau­er­stra­ße, war Anton Kohn. Mein Groß­va­ter und spä­ter mein Vater stan­den immer mal im gro­ßen Haus­ein­gang um “fri­sche Luft zu schnap­pen”. Da pas­sier­te es häu­fig, dass Herr Kohn sich zu ihnen gesell­te. Wir kauf­ten oft bei ihm, beson­ders in den “wei­ßen Wochen”. Und er war Kun­de von uns. Fräu­lein Lieb­mann natür­lich auch. Eines Tages war sein Geschäft arisiert.

Mei­ne Groß­el­tern hat­ten ein jun­ges Mäd­chen im Haus­halt, das vor­her bei Juden gear­bei­tet hat­te. Natür­lich frag­te mei­ne Mut­ter sie danach aus. Dadurch erfuhr sie etwas über die Sit­ten und konn­te Jah­re spä­ter mir von Milch­ding­tisch und Fleisch­ding­tisch erzäh­len, von koscher und von Rabbi.

Mei­ne Mut­ter hat­te noch inten­si­ver in das jüdi­sche Leben sehen kön­nen. Am 10. Novem­ber 1937 ging sie mit mir zusam­men zur bren­nen­den Syn­ago­ge an der Elbe­stra­ße. Sie brann­te nicht lich­ter­loh, man konn­te sie betre­ten. Ich habe mei­ne Mut­ter nie wie­der so bedrückt gese­hen. Sie wirk­te wie irgend­was Ver­lo­re­nes. Geweint hat sie nicht, auch nicht unter­drückt. Dann trat sie an das Har­mo­ni­um und nahm die ver­kohl­ten Noten­blät­ter in die Hand. Ich glau­be, sie hat mich gar nicht wahr­ge­nom­men — oder war inner­lich froh, mich bei sich zu haben. Vie­le Jah­re spä­ter erzähl­te sie mir, dass sie eine Klas­sen­ka­me­ra­din gehabt hät­te, die sie zu sich, zu ihrer Fami­lie ein­ge­la­den hät­te. Ihr Vater war Kan­tor in der Syn­ago­ge und wohn­te mit sei­ner Fami­lie auch dort. Natür­lich war mei­ne Mut­ter damals der Ein­la­dung gern gefolgt.

Wie man auf dem Bild sehen kann, sind die Häu­ser nicht Wand an Wand gebaut wor­den. Zwi­schen den Häu­ser­wän­den war jeweils ein Sicher­heits­gang wegen even­tu­el­ler Feu­ers­ge­fahr. Das war nicht bei allen Häu­ser­zei­len der Fall. Man­che hat­ten brei­te Gän­ge. Ich glau­be, das waren frü­her Ein­fahr­ten zum Hof gewe­sen — wie bei uns. Auch in der Thee­stra­ße 7, in dem Haus mei­nes Urgroß­va­ters Schmidt, und auch im alten Harz­mey­er­schen Haus war die Ein­fahrt inner­halb des Hau­ses. Von dort gelang­te man ins Trep­pen­haus. Wenn wir nicht erwischt wur­den, spiel­ten wir gern bei schlech­tem Wet­ter in die­sen geschütz­ten Räu­men. Aber das hat­ten die Bewoh­ner nicht so gern, denn wir waren ja nicht lei­se, und mit Roll­schu­hen auf Flie­sen — das macht Krach.

Ein Zwi­schen­gang war am Ende des Hau­ses Georg­stra­ße 45, das spä­ter das Kino “Metro­pol” war. Die­ser Gang war von unse­rem Gar­ten aus über eine Grot­te zu errei­chen. Natür­lich war uns ver­bo­ten, über die­se Grot­te zu stei­gen. Aber natür­lich taten wir es doch. Die Toi­let­ten­fens­ter des Kinos lagen näm­lich zu die­sem Gang hin. Da wäre es doch ein leich­tes gewe­sen, auf die­sem Weg umsonst einen Film sehen zu kön­nen. Ja, wenn unse­re Bei­ne lang genug gewe­sen wären. So blieb uns nur das Zuhö­ren, wenn bei war­men Wet­ter die Fens­ter zu unse­rem Hof geöff­net wur­den. Ver­stan­den haben wir nichts. Nur die Lach­sal­ven und die Musik waren hörbar.

Ich kann mich nicht mehr an ein­zel­ne Geschäf­te erin­nern. Wenn mei­ne Mut­ter und ihre Freun­din­nen in Erin­ne­run­gen kram­ten, kamen oft ganz unter­schied­li­che Fir­men­na­men ins Gespräch, weil ja im Lau­fe der Jah­re die Besit­zer wech­sel­ten. Für uns Kin­der waren meis­tens auch nur die inter­es­sant, bei denen es “sich lohnte”.

Da war denn am nächst­ge­le­ge­nen das Schuh­haus Staf­felt in Georgsta­ße 41. Mein Urgroß­va­ter Her­mann Harz­mey­er war längst tot und sein Sohn — Her­mann H. Harz­mey­er — auch. Der Nach­fol­ger war Hugo Staf­felt. Natür­lich war für uns Kin­der kein Unter­schied, ob Onkel Her­mann oder Staf­felt. Und immer “gab es was zu”. Da ich ange­hal­ten war, nie etwas für mich allein zu erwar­ten, son­dern auch für mei­nen klei­nen Bru­der, den ich “Bibi” (Baby) nann­te, zu bit­ten, mach­ten sich Staf­felts einen Spaß dar­aus, mir alle Klei­nig­kei­ten nur ein­mal zu geben. Und prompt kam dann auch von mir: “Und ein für mein Bibi.”

Georg­stra­ße 39 war das Lebens­mit­tel­ge­schäft von See. Wohl­ge­merkt: zu mei­ner Zeit. Ich glau­be aber, dass da vor­her Duben­horst war. Wir konn­ten das vom Erker sehen. Zwi­schen Georg­stra­ße 39 und 37 war ein brei­ter Gang, durch den wir im Krieg zum dahin­ter­lie­gen­den Bun­ker lie­fen, wenn die Sire­nen heulten.

Georg­stra­ße 37 war — glau­be ich — Leder­wa­ren Reu­sche. Sie mach­ten nach dem Angriff auf der Weser­stra­ße ein Geschäft auf. In dem Haus in der Georg­stra­ße war noch ein Laden. Ich habe noch so Erin­ne­rung an Namen wie Korff oder Jor­dan und an Hüte. Was davon wohin gehört, weiß ich nicht.

Um so bes­ser bleibt mir sicher­lich bis an mein Lebens­en­de Frau Rog­ge in Georg­stra­ße 35. Frau Rog­ge hat­te eine Dro­ge­rie und zwei Söh­ne. Der eine hieß Eilert. Mehr weiß ich nicht von ihm Aber der Name gefiel mir so gut. Ob es einen Herrn Rog­ge gab und wie der ande­re Sohn hieß, weiß ich auch nicht. Aber es gab ja Frau Rog­ge! Wenn sie nichts zu tun hat­te und wir auf der Stra­ße spiel­ten, hat­te sie immer ein lie­bes oder lus­ti­ges Wort für uns. Sie stand dann gern in ihrer Laden­tür, wie ande­re Inha­ber es auch taten. Mir woll­te sie immer ein­re­den, dass ich eigent­lich “Sie­da” hie­ße. Denn als ich gebo­ren wor­den war und mein Vater mich hat sehen wol­len, konn­te er mich nicht im Bett fin­den, weil ich ja so klein war. Als er dann aber doch Erfolg hat­te, soll er erfreut geru­fen haben: “Sieh, da ist sie ja!”. Trotz etli­cher Wie­der­ho­lun­gen habe ich es ihr nicht geglaubt.

Geliebt habe ich sie aber wegen der Sal­mi­ak­pas­til­len. Wir muss­ten dann zu ihr in den Laden kom­men, Zun­ge raus­ste­cken und jeweils an einer Sal­mi­ak­pas­til­le lecken, die sie uns dann mit ande­ren zusam­men zu einem Stern auf unse­ren Hand­rü­cken kleb­te. Noch heu­te esse ich gern Sal­mi­ak­pas­til­len und den­ke dabei an Frau Rog­ge. Was aus ihr gewor­den ist, weiß ich nicht.

Ich glau­be, das Neben­haus war Bet­ten-Helm­ke. Dort wohn­te jeden­falls eine alte Dame mit einem Reh­pin­scher. Wenn die bei­den auf die Stra­ße kamen und wir mit unse­ren Pup­pen­wa­gen dort bereits spa­zier­ten, muss­te das arme Vieh dran glau­ben: es wur­de kut­schiert. Hat ihm wohl auch Spaß gemacht, denn ich kann mich nicht ans Gegen­teil erinnern.

Das war die Sache mit “Effie”, einem klei­nen lang­haa­ri­gen schwarz-wei­ßen Hund, der Fräu­lein Küp­pers gehör­te. Fräu­lein Küp­pers hat­te nicht nur die­se Furie von Hund, son­dern auch ein Mie­der­ge­schäft im Harz­mey­er­schen Haus, zwi­schen Staf­felt und Blu­men­haus Freund. Freund war spä­ter in unse­rem Haus, Staf­felt Ecke Loth­rin­ger- und Schil­ler­stra­ße und Fräu­lein Küp­pers in der Nähe des Hauptbahnhofes.

Was nach Bet­ten­haus Helm­ke kam, weiß ich im Ein­zel­nen nicht mehr. Es waren klei­ne Häu­ser. Und als Läden weiß ich nur noch Schlach­te­rei Bode, Fri­seur von Lie­nen, (hat ver­mut­lich bis Anfang der 20er Jah­re mei­nem Groß­va­ter Andre­as Kelch gehört), “Weser­mün­der Neu­es­te Nach­rich­ten”, Wirt­schaft Morg­ner, Bäcker Lin­de­mann, Fisch­ge­schäft Wes­ter­mann und Uhr­ma­cher (spä­ter Opti­ker) Baier.

Viel­leicht habe ich da was durch­ein­an­der bekom­men. Aber soviel weiß ich: Der Uhr­ma­cher Fried­rich Bai­er hat­te eine Frau Sophie, geb. Schmidt, Toch­ter von Kup­fer­schmied Schmidt aus der Thee­stra­ße. Ihre Schwes­ter war Lina, ihr Nach­bar der Bar­bier Andre­as Kelch. Sie konn­ten zusam­men nicht kom­men, denn er war Thü­rin­ger, sprach ein ande­res Deutsch und war trotz vie­ler Anstren­gun­gen kein Bür­ger Geest­e­mün­des. Und sowas hei­ra­tet man nicht. Aber wer sich nicht zu hel­fen weiß, ist es nicht wert, dass er in Ver­le­gen­heit gerät. Also: er schwän­ger­te sie und so wur­den sie spä­ter mei­ne Großeltern.

Nach die­sem Gebäu­de­kom­plex kam die Kreuz­stra­ße — und damit das Ende mei­ner Erin­ne­run­gen von die­ser Stra­ßen­sei­te. Gegen­über begann es mit dem Eck­haus von Ples­se. Ich weiß dann noch, dass dort auch eine Buch­hand­lung war, in der Fräu­lein Müg­ge arbei­te­te. Danach kam ver­mut­lich Aron­heim, bei dem wir Kin­der gern kauf­ten, weil er wie alle jüdi­schen Geschäf­te bil­lig war.

Ein gro­ßes Haus war Gör­del. Ich mei­ne, mei­ne Mut­ter habe mir erzählt, dass dies renom­mier­te Beklei­dungs­ge­schäft vor der Ari­sie­rung Lieb­mann gehört habe, wo sie so gern kauf­te. Wei­ter gen Süden gab es noch Hüte und Wäsche Bösch. Eins von den bei­den Geschäf­ten gab es noch lan­ge nach dem Krieg. Ich habe dort gern und man­chen Hut gekauft.

Ecke Arndt­stra­ße war eine Gast­wirt­schaft. Den Namen habe ich ver­ges­sen, ich weiß nur, dass dort die Bus­se nach Bever­stedt abfuh­ren. Dann sind mir noch die Geschäf­te von Specht, Nie­mey­er und Becken in Erin­ne­rung, die ja noch lan­ge nach dem Krieg exis­tier­ten. Und die Nord­deut­sche Kre­dit­bank mit ihrem Gie­bel, der mich immer an die nord­deut­sche Renais­sance erin­ner­te. Von unse­rem Kin­der­zim­mer­fens­ter aus habe ich oft den Gro­ßen Bären dar­über ste­hen sehen.

Ecke Thee­stra­ße war Elek­tro­ge­schäft Rei­chelt. Dahin muss­te ich immer mit unse­rer Haus­ge­hil­fin gehen, um den Akku für das Radio auf­la­den zu las­sen, das mein Vater selbst gebas­telt hat­te. Das war immer sehr span­nend für mich, denn ich ver­stand die gan­ze Cho­se nicht. Zuerst konn­ten wir noch ein­fach quer über die Stra­ße lau­fen. Spä­ter, als der Schu­po dort stand, muss­ten wir uns an die Ver­kehrs­re­geln halten.

Dann kam Por­zel­lan-Peter­sen. Auch das war span­nend für mich. Der Inha­ber hieß näm­lich mit Vor­na­men “Mein­hard” — und einen sol­chen Namen hat­te ich noch nie gehört. Ecke Ram­sau­er­stra­ße war das Weiß­wa­ren­ge­schäft (?) Anton Kohn, das spä­ter eben­falls ari­siert wur­de. An der süd­li­chen Ecke der Ram­sau­er­stra­ße stand — und das Gebäu­de steht heu­te noch — die Hirsch­apo­the­ke mit dem gol­de­nen Hirsch auf dem Vor­dach. Anschlie­ßend hat­te Jans­sen sein Por­zel­lan­ge­schäft. Was für Häu­ser und Geschäf­te sich anschlos­sen, weiß ich nicht mehr.

Es war da ein ziem­lich alt­mo­di­sches Wäsche­ge­schäft, Eisen­wa­ren Daetz, irgend­wo auch eine Samen­hand­lung Petrasch, bei der wir Fut­ter für unse­ren Wel­len­sit­tich kauf­ten, und die Spe­di­ti­on Ges­wein, die frü­her auch die Feu­er­wehr stell­te und mit viel Krach mit den Pfer­den durch die Georg­stra­ße saus­te. Was danach kam, weiß ich erst recht nicht. Es gab da noch eine Schmie­de und Bau­ern­häu­ser — aber das war wohl in einer Neben­stra­ße. Auf der gegen­über­lie­gen­den Georg­stra­ßen­sei­te — also der öst­li­chen — gab es Schreib­wa­ren Schwert­fe­ger mit der sin­ni­gen Inschrift am Haus: “Ora et labo­ra”, womit sicher­lich nicht Bene­dicts Män­ner gemeint waren.

Die Häu­ser, die dann in Rich­tung Bucht­stra­ße stan­den, ken­ne ich zum Teil nicht mehr, und die Rei­hen­fol­ge schon gar nicht. Da war das Scho­ko­la­den­ge­schäft von Frau Rook. Scha­de, dass es so etwas Außer­ge­wöhn­li­ches nicht mehr gibt. Mei­ne Mut­ter bat mei­nen Vater häu­fig, ihr von Frau Rook Cognac­boh­nen mit­zu­brin­gen. Mein Vater nahm dann eine Akten­ta­sche mit, damit man nicht erken­nen konn­te, dass er “ein­hol­te”.

Uhr­ma­cher Stu­te war auch  da, ent­we­der auf der öst­li­chen oder west­li­chen Sei­te. Und I.G. Schmidt, der Ofen­händ­ler. Und ein Elek­tro­ge­schäft. Und ein Café oder Eis­ca­fé — öst­lich oder west­lich. Und Scho­cken, das spä­ter Mer­kur wur­de, dann kam Kauf­mann Lüt­h­je, bei dem es lecke­re grü­ne Bon­bons gab und wo man meh­re­re Stu­fen hin­auf­klet­tern musste.

An der Ecke Buch­stra­ße kam dann das Kropp­sche Haus, in dem unten die Geschäf­te Ten­gel­mann, der Bar­bier Pipo­wa­ski und das Schreib­wa­ren­ge­schäft Wolf (Fräu­lein Jul­chen) war. Die bei­den letz­ten Grund­stü­cke wur­den von der Stadt für die Erwei­te­rung der Bucht­stra­ße nach dem Krieg ein­ge­zo­gen. Eben­so erging es unse­rem Neben­grund­stück. Aller­dings woll­te ein Inter­es­sent in den 50er Jah­ren dar­auf ein viel­stö­cki­ges Wohn­haus bau­en. Da hat mei­ne Mut­ter aber schärfs­tens pro­tes­tiert. So ein Koloss hät­te ja alles Licht für die Nach­barn verbannt.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Am 18. Sep­tem­ber sind es 70 Jah­re her, dass ein Bom­ben­an­griff der alten Georg­stra­ße den Gar­aus mach­te. Mein Vater hat es nicht mehr erlebt. Er war am 1. Sep­tem­ber gestor­ben. Mein Bru­der war seit August auf einem Inter­nat, mei­ne Groß­el­tern kamen beim Bom­ben­an­griff um, mei­ne Tan­ten und alle übri­gen Ver­wand­ten waren in alle Win­de zer­streut. Mei­ne Mut­ter und ich waren plötz­lich allein.
Lie­be Leser, wenn Ihr mögt, schreibt doch eben­falls Eure Erin­ne­run­gen an Bre­mer­ha­ven auf und sen­det sie mir zu. Ich wür­de sie hier ger­ne ver­öf­fent­li­chen, weil ich glau­be, dass Eure Erin­ne­run­gen nicht in Ver­ges­sen­heit gera­ten sollten.

125 Jahre Modehaus Specht

Über den Bre­mer­ha­ve­ner Ein­zel­han­del gibt es nicht nur Nega­ti­ves zu berich­ten. Gut, vie­le muss­ten ihr Geschäft schon schlie­ßen. Aber eini­ge schaf­fen es, die Stür­me der Zei­ten zu über­dau­ern. So fei­ert das Mode­haus Specht in der Georg­stra­ße-36 die­ser Tage sein 125-jäh­ri­ges Bestehen. Herz­li­chen Glückwunsch!

125 Jahre Modehaus Specht

Gus­tav und Mag­da­le­ne Specht haben das Mode­haus am 28.04.1889 gegrün­det. Damals bestand das Ange­bot zeit­ge­mäß aus Gar­nen, Sti­cke­rei­en, Woll­wa­ren und Tri­ko­ta­gen. Din­ge, mit denen die heu­ti­ge Gene­ra­ti­on kaum noch etwas anfan­gen kann.

So haben Gus­tav und Mag­da­le­ne das Geschäft 1964 den “jun­gen Leu­ten” in die Hän­de gege­ben, das waren der Sohn Gus­tav-Georg Specht und sei­ne Frau Ger­da, die Schwie­ger­toch­ter also. Die pass­ten das Ange­bot der neu­en Nach­fra­ge an und wan­del­ten in den 1970er Jah­ren den Betrieb zu ein Fach­ge­schäft für Damen­mo­de um.

Als Gus­tav-Georg Specht starb, muss­te sei­ne Toch­ter Nico­le Schüß­ler, eine gelern­te Indus­trie­kauf­frau, die Auf­ga­be über­neh­men. Und die meis­tert sie schon seit elf Jah­ren mit Bra­vour. Wenn man sie fragt, was wohl das Geheim­nis ihres Erfol­ges in die­ser schwie­ri­gen Zeit sei, dann ant­wor­tet sie ganz spon­tan: “Vie­le, vie­le Far­ben.” Und die hän­gen auch in den Klei­der­stän­dern als pink­far­be­ne Jacken, hell­grü­ne Hosen und rosé­far­be­ne Ober­tei­le. Hier bekommt Frau, was sie sucht. Acht Mit­ar­bei­ter betreu­en die 2.500 Stamm­kun­den, die Nico­le Schüß­ler in ihrer Kar­tei ver­zeich­net hat.

So geht es hier im Geschäft auch zu wie in einem Tau­ben­schlag. Stän­dig kommt jemand in den 200 Qua­drat­me­ter gro­ßen Laden, schaut sich um, pro­biert hier etwas an und dort, trinkt neben­bei eine Tas­se Kaf­fee und klönt. Ein Ser­vice, wie es ihn heu­te kaum noch gibt, wie man ihn von “frü­her her” kennt und wie die Kun­den es mögen. Natür­lich kommt auch die Bera­tung nicht zu kurz, hier wer­den Pro­blem­zo­nen zu einem Pro­blem­chen, das man lösen kann.

Einen Online­shop wird Frau Schüß­ler nicht anbie­ten. Sie möch­te ihre vor­nehm­lich älte­ren Kun­den vor Ort bera­ten. Frust­käu­fe wegen fal­scher Bestel­lung sol­len gar nicht erst auf­kom­men. Es ist eben ein Tra­di­ti­ons­ge­schäft, an das sich vie­le Bre­mer­ha­ve­ner ger­ne erin­nern. Auch vie­le Face­book­mit­glie­der ken­nen das Mode­haus Specht noch sehr gut.

Doris hat in Face­book zum Bei­spiel geschrie­ben, dass sie öfter bei Specht ein­ge­kauft hat, weil es da eine gro­ße Aus­wahl geschmack­vol­ler Sachen gibt. Und Mari­ta ver­mu­tet, dass man im Mode­haus Specht bestimmt noch rich­tig bedient wird. Gera­de für älte­re Men­schen mit Figur­pro­ble­men sei­en die­se Fach­ge­schäf­te sehr wich­tig. Gabrie­le kann sich auch erin­nern, in den 1970er Jah­ren bei Specht ein­ge­kauft zu haben.

Ja, und Rita! Rita hat dort 1965 ihr Berufs­prak­ti­kum gemacht. Wie sel­ten ist das wohl! Und Inas Schwes­ter hat dort sogar mal eine Aus­bil­dung begon­nen. Sie meint, dass das etwa 1952 gewe­sen sein mag, das Geschäft hät­te sei­nen Stand­ort noch in einer klei­nen Neben­stra­ße gehabt. Ina  lebt heu­te in Ame­ri­ka, aber als sie von dem 125-jäh­ri­gen Jubi­lä­um erfah­ren hat, habe sie gleich ihre in Lan­gen woh­nen­de Schwes­ter ange­ru­fen und geklönt, bis die Hörer anfin­gen zu glühen.

Der Deich­SPIE­GEL wünscht dem Mode­haus Specht, gut über die nächs­ten hun­dert Jah­re zu kom­men.
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Nord­see-Zei­tung vom 23.04.2014

Geestemünde in alten und neuen Ansichten — Teil 9

Eine Serie wid­met der Deich­SPIE­GEL “Geest­e­mün­de in alten und neu­en Ansich­ten”.  Mein ganz beson­de­rer Dank gilt Frau Oda Kelch. Sie hat ihre alten Bil­der und Erin­ne­run­gen auf ihrer Face­book-Sei­te ver­öf­fent­licht. Nach­dem ich Euch im 6. Teil die­ser Serie das Haus Georg­stra­ße 43 vor­ge­stellt habe, zei­ge ich Euch heu­te das Haus Georg­stra­ße 41.

Georgstraße 41 und 43

Die Bre­mer Land­stra­ße war ursprüng­lich der ein­zi­ge Ver­bin­dungs­weg von Geest­e­mün­de nach Bre­men. Die­se Stra­ße, die spä­ter in “Georg­stra­ße” umbe­nannt wer­den soll­te, war von klei­nen Häu­sern gesäumt, wie man sie zu dama­li­ger Zeit in dörf­li­chen Gegen­den vor­fand. Etwa ab 1860 begann man, die Georg­stra­ße zu einer Haupt­ver­kehrs­stra­ße aus­zu­bau­en. Geest­e­mün­de wuchs und ver­ei­nig­te sich 1889 mit Geest­en­dorf. Die Georg­stra­ße wur­de nun auch Geschäfts­stra­ße. Die Stra­ße war so breit, dass hier bis 1887 der Wochen­markt stattfand.

Für das fol­gen­de Bild habe ich kei­ne Jah­res­an­ga­be, aber es scheint eben­falls zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts ent­stan­den zu sein. Auf jeden Fall weiß Oda Kelch über die­ses Haus der Fami­lie Harz­mey­er, das direkt an das Haus der Fami­lie Knob­lauch grenzt,  viel Inter­es­san­tes zu erzäh­len. Eini­ge Erin­ne­run­gen möch­te ich mei­nen Lesern nicht vorenthalten:

Georgstraße 41

Mit­ten­drin ent­stand also auch das Wohn- und Geschäfts­haus Geoerg­stra­ße 41, in dem Her­mann H. Harz­mey­er eine Schuh­ma­che­rei und ein Schuh­ge­schäft betrieb. Das Haus besticht durch sei­ne Wuch­tig­keit und dem Türm­chen, das lei­der bereits vor dem Krieg ver­schwun­den war. Links von der Laden­tür befand sich eine Ein­fahrt, die zu den Hin­ter­hö­fen führ­te. Dort befan­den sich die Stal­lun­gen für die Pferdefuhrwerke.

In der Ein­fahrt selbst befand sich der Zugang zum Trep­pen­haus. Wie auf einer gro­ßen Wen­del­trep­pe führ­te der Weg hin­auf in die obe­ren Stock­wer­ke. Auf hal­ber Trep­pe zwi­schen den Stock­wer­ken befan­den sich Stu­fen, die zu einem Bal­kon mit Toi­let­ten führ­ten. Mor­gens trug man den Nacht­topf quer durch das Haus,  um ihn in der Toi­let­te zu ent­lee­ren. Im Win­ter wur­de mit einem Holz­koh­len­feu­er ver­hin­dert, dass die Toi­let­ten einfrieren.

Den Abschluss des Trep­pen­hau­ses bil­de­te eine gro­ße run­de Kup­pel, wie sie in Pari­ser Waren­häu­ser üblich waren – aller­dings nicht so schön. Durch die klei­nen Fens­ter fand nur wenig Tages­licht sei­nen Weg in die Woh­nun­gen, die mit Holz­fuß­bö­den aus­ge­stat­tet waren, wie sie frü­her in Schu­len üblich waren. Wer sich für wei­te­re Erin­ne­run­gen inter­es­siert, kann sie bei Face­book nachlesen.

Georgstraße 41

Aber plötz­lich war es mit der Idyl­le in der Georg­stra­ße vor­bei. Das Jahr 1944 soll­te auch für die Bewoh­ner der Georg­stra­ße zu einem Schick­sals­jahr wer­den. Bereits fünf Kriegs­jah­re hat­te der Stadt­teil Geest­e­mün­de ohne grö­ße­re Schä­den über­stan­den. Bis auf ein paar Spreng­bom­ben, die das Vier­tel um die Schil­ler­stra­ße tra­fen, blieb Geest­e­mün­de von Luft­an­grif­fen verschont.

Aber die Ruhe war trü­ge­risch. Es war der 18. Sep­tem­ber 1944: “…ein strah­lend schö­ner und war­mer Spät­som­mer­tag, so recht geeig­net, alles krie­ge­ri­sche Gesche­hen ver­ges­sen zu machen…”, soll­te spä­ter  Hein­rich Klop­pen­burg mit sei­ner Schreib­ma­schi­ne notie­ren. Dass sich an die­sem Tage 206 Lan­cas­ter­bom­ber der Roy­al-Air-Force auf­mach­ten, um Bre­mer­ha­ven kom­plett zu zer­stö­ren, ahn­te nie­mand. Der schreck­li­che Luft­an­griff über­rasch­te wohl alle.

zerbombte Georgstraße 1944

Hein­rich Klop­pen­burg notier­te über die Zeit nach dem Angriff, dass die zur Stadt füh­ren­de Chaus­see mit aus­ge­brann­ten Stab­brand­bom­ben gera­de­zu über­sät war. Die gan­ze Stadt sei eine ein­zi­ge zusam­men­hän­gen­de Brand­stät­te gewe­sen. Stra­ßen­zei­le auf Stra­ßen­zei­le wie­sen nur lee­re Fas­sa­den aus­ge­brann­ter Häu­ser auf. Beson­ders die Haupt­ver­kehrs­stra­ßen, die Georg- und die Bor­ries­stra­ße, sol­len einen trost­lo­sen Anblick gebo­ten haben, da sie vor allem mit ihren grö­ße­ren Bau­ten der Zer­stö­rung rest­los anheim­ge­fal­len seien.

Wiederaufbau

Die Ent­trüm­me­rung der Stadt war eine drin­gen­de Auf­ga­be in der Nach­kriegs­zeit. Durch Auf­ru­fe der Mili­tär­re­gie­rung und durch Ver­ord­nun­gen des Arbeits­am­tes wur­den Män­ner und Frau­en zur Ent­trüm­me­rung her­an­ge­zo­gen. Auch 262 Schü­ler und Schü­le­rin­nen sowie 13 Leh­re­rin­nen und Leh­rer der Hum­boldt­schu­le stell­ten sich für die­sen kräf­te­zeh­ren­den frei­wil­li­gen Arbeits­ein­satz zur Ver­fü­gung. Die Bre­mer­ha­ve­ner lie­ßen sich nicht “klein­krie­gen”, ihr Wil­le, die Ärmel hoch­zu­krem­peln und anzu­pa­cken, war bemer­kens­wert. Nun beginnt auch in Bre­mer­ha­ven die Zeit des soge­nann­ten Wirtschaftswunders.

veränderte Georgstraße

Als am Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges über 50% des Wohn­rau­mes in Weser­mün­de zer­stört waren, hat­ten mehr als 30.000 Men­schen kein Dach mehr über ihren Kopf. Und nach dem Wie­der­auf­bau war die Georg­stra­ße nicht mehr wie­der­zu­er­ken­nen — wie so vie­le Stra­ßen und Städ­te nach dem Krieg.

Georgstraße

Den Ruf einer Ein­kaufs­stra­ße hat die Georg­stra­ße längst ver­lo­ren. Haupt­säch­lich eili­ge Auto­fah­rer rasen acht­los durch die einst so pracht­vol­le Straße.

Georgstraße

Wie immer vie­len Dank an Frau Oda Kelch für Ihre uner­müd­li­che Hil­fe, die­sen Arti­kel zu schreiben.
Quel­len:
Oda Kelch
zum.de

Geestemünde in alten und neuen Ansichten — Teil 6

Eine Serie wid­met der Deich­SPIE­GEL “Geest­e­mün­de in alten und neu­en Ansich­ten”.  Mein ganz beson­de­rer Dank gilt Frau Oda Kelch. Sie hat ihre alten Bil­der und Erin­ne­run­gen auf ihrer Face­book-Sei­te ver­öf­fent­licht, so dass ich Euch heu­te das Bre­mer­ha­ve­ner Haus Georg­stra­ße 43 zei­gen kann.

Geestemünde in alten und neuen Ansichten

Etwa aus dem Jah­re 1904 stammt die­ses Bild mit dem  schö­nen Grün­der­zeit­haus Georg­stra­ße 43 in Geest­e­mün­de. Alle haben sich für den Foto­gra­fen schick gemacht und schmü­cken mit ihrer Anwe­sen­heit stolz die Fas­sa­de. Vom Bal­kon schaut die Urgroß­mutter von Oda Kelch, Hele­ne Knob­lauch mit ihren Kin­dern Ber­tha und Dora her­ab. Hele­ne war mit dem Uhr­ma­cher  Bern­hard Knob­lauch ver­hei­ra­tet, dem Urgroß­va­ter von Oda Kelch, der sich in der Mit­te des Ein­gan­ges pos­tiert hat. Die spä­te­re Eigen­tü­me­rin, Oda Kelch, war zu die­sem Zeit­punkt noch nicht auf der Welt.

Allein, die zufäl­lig vor­über­ge­hen­den Pas­san­ten blei­ben vom Foto­shoo­ting völ­lig unbeeindruckt.

1944 | Eckhaus Georgstraße 45

Inter­es­sant anzu­schau­en auf die­sem Bild sind die Stra­ßen­bahn­glei­se, die es ja heu­te nicht mehr gibt. Und die Dame auf dem Fahr­rad wür­de für das Vehi­kel heu­te sicher­lich nur noch einen Old­ti­mer­preis gewin­nen. Damals aber war das Fahr­rad bestimmt ein Ver­mö­gen wert.

In der Bild­mit­te sieht man das noch vor­han­de­ne mit “Zweig­stel­le” beschrif­te­te Eck­haus Georg­stra­ße 45. Das Haus war ein zu dama­li­ger Zeit so genann­tes “Gesell­schafts­haus”, das neben einem nor­ma­len Gast­stät­ten­be­trieb auch die Aus­rich­tung grö­ße­rer Fes­te ermög­lich­te. Hier wur­den flot­te Tän­ze aufs Par­kett gelegt – die Musik war bis auf den Hin­ter­hof von Uhr­ma­cher Knob­lauch zu hören, wo die klei­nen Mäd­chen dann auch ihre ers­ten Tanz­schrit­te einübten.

1909 | Georgstraße 45

Irgend­wann wur­de das Gebäu­de zum Kino “Metro­pol” umge­baut. Das Fami­li­en­ki­no mit dem Film­vor­füh­rer Her­mann Brink­mann war bei den Geest­e­mün­dern sehr beliebt. Sonn­tags um 14 Uhr gab es hier eine Kin­der­vor­stel­lung. Da stan­den die heu­ti­gen Kult­fil­me Dick und Doof, Pat und Pata­chon und auch Char­lie Chap­lin auf dem Programm.

In den Abend­vor­stel­lun­gen wur­den die komi­schen Fil­me mit Heinz Rüh­mann oder Theo Lin­gen vor­ge­führt. Und auf dem Hin­ter­hof des Nach­bar­hau­ses von Uhr­ma­cher Knob­lauch war­te­ten die Kin­der auf die nächs­te Lach­sal­ve der Zuschau­er. Natür­lich woll­ten die Kin­der auch in das Kino gelan­gen und ver­such­ten, sich durch ein even­tu­ell offen­ste­hen­des Toi­let­ten­fens­ter ein­zu­schmug­geln. Aber es gelang ihnen nie, die Fens­ter waren ein­fach zu hoch.

1944 Haus Georgstraße 43 in Geestemünde

Lei­der über­stand auch das “Geest­e­mün­der Schau­spiel­haus”, Haus Nr.45, die Bom­ben­nacht des 18. Sep­tem­ber 1944 nicht. Und nach dem Krieg bau­te man es auch nicht wie­der auf, statt des­sen wur­de die Gras­hoff­stra­ße verbreitert.

Georgstraße 43 in Geestemünde nach dem Wiederaufbau

Das Haus Nr. 43 jedoch wur­de zwi­schen 1952 und 1954 wie­der auf­ge­baut. Als der Schutt weg­ge­räumt und die Bau­ar­bei­ten abge­schlos­sen waren, erstrahl­te das Haus in neu­em Glanz. Es hat­te ein drit­tes Stock­werk bekom­men, und auch in das Dach­ge­schoss wur­den jetzt Woh­nun­gen ein­ge­baut. Durch den Luft­an­griff haben vie­le Geest­e­mün­der ihr Zuhau­se ver­lo­ren. Und die Nach­kriegs­zeit spül­te auch nach Bre­mer­ha­ven Flücht­lings­fa­mi­li­en, die die ver­lo­re­nen deut­schen Ost­ge­bie­te ver­las­sen muss­ten. So war es not­wen­dig, mög­lichst schnell neu­en Wohn­raum zu schaffen.

2014 Georgstraße in Geestemuende

Nach­dem das “Geest­e­mün­der Schau­spiel­haus” für immer ver­schwand, wird die nun frei­ste­hen­de Gie­bel­wand des Hau­ses Nr. 43 als Wer­be­flä­che ver­ge­wal­tigt. Auch die Stra­ßen­bahn­glei­se sind in der Ver­gan­gen­heit geblie­ben, es gibt nur noch den schwar­zen Asphalt,  über den der Durch­gangs­ver­kehr don­nert. Nur hin und wie­der ist es mög­lich, eine “auto­freie” Lücke für ein Bild zu fin­den.
Noch ein­mal vie­len Dank an Frau Oda Kelch, die mir mit Ihren Bil­dern und Erin­ne­run­gen sehr gehol­fen hat, die­sen Arti­kel zu schreiben.