Streik auch bei den Waggonbauern

Nach dem Ende der zwei­ten Tarif­run­de für die Beschäf­tig­ten im öffent­li­chen Dienst will die Gewerk­schaft Ver­di ver­mut­lich mor­gen oder am Frei­tag  ankün­di­gen, wo und wann es erneut Warn­streiks geben wird. Ohne Eini­gung oder Schlich­tung käme es schließ­lich zum Streik. Dazu müss­te die Gewerk­schaft aller­dings vor­her in einer Urab­stim­mung ihre Mit­glie­der befragen. 

Schon immer in der Geschich­te haben Arbei­ter ver­sucht, ihren For­de­run­gen durch einen Streik Nach­druck zu ver­lei­hen. Mit dem Schlacht­ruf „Wir sind hung­rig!“ sol­len bereits am 4. Novem­ber 1159 v. Chr. die mit dem Bau der Königs­grä­ber in The­ben im Alten Ägyp­ten beschäf­tig­ten Arbei­ter die Arbeit nie­der­ge­legt haben, weil sie seit acht­zehn Tagen nicht ent­lohnt wor­den waren.

Aber so weit muss man gar nicht zurück­schau­en. In sei­ner März­aus­ga­be die­sen Jah­res berich­tet die “Stadt­BILD” über einen lan­gen Streik der Gör­lit­zer Wag­gon­bau­er vor genau hun­dert Jahren:

So etwas hat­te Gör­litz noch nicht erlebt. Die Wag­gon­bau­er streik­ten. Sieb­zehn Wochen lang nahm die Stadt dar­an Anteil, die einen mit Sym­pa­thie für die Arbei­ter die ande­ren mit Unbe­ha­gen über die “unein­sich­ti­gen ProIe­ten”.

Streik in der Görlitzer WaggonfabrikDie orga­ni­sier­te Arbei­ter­be­we­gung war stark gewor­den. Man muss­te mit ihr rech­nen. 1911 hat­te der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Ver­ein in Gör­litz 4511 Mit­glie­der, dar­un­ter 996 Frau­en, und in den Gewerk­schaf­ten hat­ten sich 7568 Werk­tä­ti­ge zusam­men­ge­schlos­sen. Schon Ende 1911 hat­ten die Anstrei­cher in der „Akti­en­ge­sell­schaft zur Fabri­ka­ti­on von Eisen­bahn-Mate­ri­al zu Gör­litz“ mit einem Streik gegen die Sen­kun­gen der Akkord­löh­ne pro­tes­tiert. Anfang 1912 ver­här­te­ten sich die Kon­flik­te. Die gewerk­schaft­lich orga­ni­sier­ten Beschäf­tig­ten ver­lang­ten von der Betriebs­di­rek­ti­on, die Arbeits­zeit von wöchent­lich 58 auf 54 Stun­den zu sen­ken, die Anfangs­löh­ne zu erhö­hen und Ver­tre­ter der Arbei­ter­or­ga­ni­sa­tio­nen zu den Ver­hand­lun­gen der Werk­lei­tung mit dem Arbei­ter­aus­schuss hinzuzuziehen. 

Die Direk­ti­on zeig­te wenig Ent­ge­gen­kom­men. Sie woll­te höchs­tens einer Sen­kung der Arbeits­zeit auf 57 Stun­den zustim­men. In einer Ver­samm­lung im “Kon­zert­haus” lehn­ten die Arbei­ter die­ses Ange­bot als eine Zumu­tung ab. 

Am 2. April 1912 tra­ten 1170 Beschäf­tig­te des Betrie­bes in den Streik. 376 Arbei­ter betei­lig­ten sich nicht. Bei­de Sei­ten setz­ten alle Mit­tel ein, die sich ihnen boten. Die Unter­neh­mer woll­ten zur Abschre­ckung vor jeder­mann bewei­sen, dass sie immer noch unein­ge­schränk­te “Her­ren im Hau­se” waren. Auch den Arbei­tern ging es um mehr als nur um sozia­le Zuge­ständ­nis­se, obwohl ihre Lebens­ver­hält­nis­se beschei­den genug waren. So wie sie gegen das unde­mo­kra­ti­sche Drei­klas­sen­wahl­recht bei den Wah­len zum preu­ßi­schen Land­tag ankämpf­ten, woll­ten sie auch im Betrieb nicht mehr gedul­di­ge Unter­ta­nen blei­ben. Von bos­haf­ten Nadel­sti­chen bis zu rück­sichts­lo­ser Gewalt reich­te die Ska­la der Metho­den, die den Unter­neh­mern zu Gebo­te standen.

Da wur­den den Streik­teil­neh­mern im Hand­um­dre­hen ihre werk­ei­ge­nen Gar­ten­par­zel­len gekün­digt.
Da ver­wei­ger­te man an der Niko­lai­schu­le und an der Cott­bu­ser Schu­le den Kin­dern von Strei­ken­den die unent­gelt­li­chen Lehr­mit­tel. Da beleg­te die Poli­zei Streik­pos­ten mit 15 Mark Geld­stra­fe wegen “Ver­kehrs­be­hin­de­rung”. Und da han­del­te sich der Boh­rer Räh­misch wegen sei­ner deut­li­chen Kri­tik an Streik­bre­chern die Ver­ur­tei­lung zu einem Monat Gefäng­nis ein.

Dage­gen geiz­te die Betriebs­lei­tung nicht mit Geld­zu­wen­dun­gen an “ein­sich­tig” Arbei­ter; an Prä­mi­en für unter­neh­mer­treue Meis­ter und zu Arbeits­ju­bi­lä­en von Beschäf­tig­ten, die außer­halb der Streik­front geblie­ben waren. Beka­men zunächst die ande­ren Gör­lit­zer Betrie­be eine War­nung zu hören, sie sol­len die aus der Wag­gon­fa­brik ent­las­se­nen Arbei­ter gefäl­ligst nicht bei sich beschäf­tig­ten, so folg­te am 22. Juni 1912 die Aus­sper­rung für den gesam­ten Bezirk Niederschlesien. 

Streik in der Görlitzer Waggonfabrik

Nun soll­te das Unter­neh­men Karl Kacz­ma­rek neue Arbeits­kräf­te her­an­schaf­fen. Von den Gewerk­schaf­ten als Streik­bre­cher-Orga­ni­sa­ti­on bekämpft, warb die­se Agen­tur über­all in Deutsch­land hart­ge­sot­te­ne Vögel, die für Geld bereit waren, in bestreik­ten Betrie­ben zu arbei­ten. Bis zu 150 Mann wur­den von aus­wärts geholt und in der Wag­gon­fa­brik ein­ge­setzt. Sie kos­te­ten, die groß­zü­gi­ge Ver­pfle­gung ein­ge­rech­net, je Tag bis zu 15 Mark, wäh­rend die Unter­neh­mer um jeden Pfen­nig Lohn­er­hö­hung (Anfangs­lohn 27 Pfen­nig je Stun­de) mit ihren Arbei­tern feilschten. 

Die “Kacz­ma­reks” spiel­ten sich in den Geschäf­ten und Gast­stät­ten als gro­ße Her­ren auf. Obwohl eini­ge im Schnaps­rausch Fens­ter ein­war­fen und mit Revol­vern und Dol­chen her­um­fuch­tel­ten, sah die Poli­zei kei­nen Grund zum Ein­grei­fen. Selbst den Geschäfts­leu­ten und Gewer­be­trei­ben­den wur­de das zu bunt, und in einer Reso­lu­ti­on stell­ten eini­ge von ihnen fest, dass die Anwe­sen­heit der Kacz­ma­rek-Trup­pe “nicht zuletzt die Geschäfts­welt schwer schä­digt”. Die Strei­ken­den Iie­ßen sich trotz­dem nicht ins Bocks­horn jagen. 

Streik in der Görlitzer Waggonfabrik

Es war eine schwe­re Belas­tungs­pro­be für die Fami­li­en, 17 Wochen Streik durch­zu­hal­ten. Aber es bewähr­te sich die Kraft der Gemein­schaft. Die orga­ni­sier­ten Arbei­ter hal­fen mit Spen­den, so die Ver­bän­de der Metall­ar­bei­ter, die Braue­rei- und Müh­len­ar­bei­ter, der Holz­ar­bei­ter und der Buch­dru­cker. Auch Geschäfts­in­ha­ber und Hand­wer­ker für die ja die Arbei­ter wich­ti­ge und treue Kun­den waren, stan­den den Strei­ken­den ver­ständ­nis­voll und hilfs­be­reit zur Sei­te. Streik­pos­ten bewach­ten die Zufahrt­stra­ßen zum Werk, den Bahn­hof und die Orts­ein­gän­ge. Wie Schat­ten beglei­te­ten sie die Arbeits­kräf­te­wer­ber der Betriebs­lei­tung auf ihren Fahr­ten. So lie­ßen sich man­che Arbeits­su­chen­den davon abhal­ten, aus Unkennt­nis ihren strei­ken­den Gör­lit­zer Kol­le­gen Schwie­rig­kei­ten zu bereiten.

In den engen Arbei­ter­woh­nun­gen, in den Kel­ler­lä­den und an den Stra­ßen­ecken gab es vor allem die­ses Gesprächs­the­ma — nicht nach­zu­ge­ben und die gerech­te Sache durch­zu­set­zen. Arbei­ter­frau­en mit ihren Kin­dern gin­gen zu den Streik­pos­ten, brach­ten ihnen Ver­pfle­gung und spra­chen ihnen Mut zu. 

Karl Würz­burg, der spä­te­re bekann­te Arbei­ter­funk­tio­nar und Ehren­bür­ger der Stadt, war damals gera­de 7 Jah­re alt, als sein Vater streik­te. Er wur­de Augen­zeu­ge, wie berit­te­ne Poli­zei ver­such­te, von der Son­nen­stra­ße her Streik­bre­cher zum Betriebs­tor an der Brun­nen­stra­ße zu beglei­ten, und wie Arbei­ter­frau­en sich mit Holz­pan­ti­nen und Pflas­ter­stei­nen gegen die Ord­nungs­hü­ter zur Wehr setz­ten (sie­he Zeich­nung ganz oben). Fast täg­lich gab es in den vier Gör­lit­zer Zei­tun­gen streit­ba­re Arti­kel über Ereig­nis­se und Aus­sich­ten des Streiks, und die Unter­neh­mer der Wag­gon­fa­brik kamen sel­ten dabei gut weg. Sogar bür­ger­li­che Krei­se rie­ten zum Ein­len­ken, weil sie fürch­te­ten, Unzu­frie­den­heit und Kampf­wil­len könn­ten sich wei­ter aus­brei­ten und das sowie­so
gespann­te sozia­le Kli­ma ver­schlim­mern. Es war ihnen schon fatal genug, dass die Sozi­al­de­mo­kra­tie im Janu­ar bei den Reichs­tags­wah­len den Abge­ord­ne­ten­sitz für den Wahl­kreis GörIitz/Lauban gewon­nen hat­te. So etwas war bis dahin noch nie passiert. 

Streik in der Görlitzer Waggonfabrik

Das Ergeb­nis der Kämp­fe war mager, flüch­tig betrach­tet. Die Wochen­ar­beits­zeit wur­de auf 55 Stun­den gesenkt. Die Grund­löh­ne stie­gen im Durch­schnitt um 3 bis 5 Pfen­ni­ge. Die wöchent­li­che Lohn­zah­lung am Frei­tag wur­de zuge­si­chert, eben­so das Ver­ei­ni­gungs­recht der Arbei­ter. Ver­samm­lun­gen im Betrieb blie­ben ver­bo­ten. Etwa 500 Streik­teil­neh­mer sol­len wie­der ein­ge­stellt wor­den sein. Alle Betei­lig­ten waren um Erfah­rung rei­cher. Die Arbei­ter hat­ten, unter Opfern zwar, ihre Kraft gespürt und Fort­schrit­te durch­ge­setzt. Die Unter­neh­mer hat­ten zur Kennt­nis neh­men müs­sen, dass mit den Herr­schafts­me­tho­den des 19. Jahr­hun­derts nichts mehr aus­zu­rich­ten war. In den Arbei­ter­vier­teln leb­te die Erin­ne­rung an das Jahr 1912 jahr­zehn­te­lang. Unüber­seh­bar hat­te sich auch in Gör­litz gezeigt, dass die “klei­nen Leu­te” eine gro­ße Macht sein können. 

Dr. Ernst Kretz­schmar
Aus: Aller­lei aus AIt-Gör­litz,
Gör­litz­in­for­ma­ti­on 1988

(Die Gör­lit­zer, damals im Lesen “zwi­schen
den Zei­len” geübt, ent­deck­ten im
Text aktu­el­le Bezüge) 

Quel­le für Text und Bil­der: “Stadt­BILD März 2012” mit freund­li­cher Geneh­mi­gung vom Stadt­BILD-Ver­lag, Gör­litz.

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