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Erich Sturk: Erinnerungen an die Humboldtschule in Geestemünde

Erin­ne­run­gen an die Hum­boldt­schu­le in Geest­e­mün­de” – das ist eine Chro­nik des Auf­bau­zu­ges der Hum­boldt­schu­le des Jahr­gan­ges 1943 – 1947 aus der Feder des ehe­ma­li­gen Schü­lers Erich Sturk. Zunächst erin­nert Erich Sturk an die Pla­nung und an den Bau der Hum­boldt­schu­le in Geest­e­mün­de. Anschlie­ßend erzählt er in beein­dru­cken­der und oft­mals in bedrü­cken­der Wei­se, was er dort als Schü­ler erlebt hat. 

Die Humboldtschule in Geestemünde

Im Jah­re 1924 wur­de von der soge­nann­ten Volks­schul­de­pu­ta­ti­on der Stadt Geest­e­mün­de der Bau einer Volks­schu­le in der Schil­ler­stra­ße in Geest­e­mün­de beschlos­sen. Die­sem Beschluss ging eine Pla­nungs­pha­se vor­aus, die sich bis in die Zeit vor dem 1. Welt­krieg zurück erstreckt. Der Plan begrün­de­te sich auf der Not­wen­dig­keit, die Klas­sen­fre­quenz in den vor­han­de­nen Schu­len Geest­e­mün­des zu sen­ken und gleich­zei­tig das Bil­dungs­an­ge­bot zu erhöhen.

Die lan­ge Pla­nungs­pha­se erklärt sich aus dem Aus­bruch des 1. Welt­krie­ges und der nach­fol­gen­den Infla­ti­on, die den Bau­be­ginn wie­der­um ver­zö­ger­te. Unter der Lei­tung von Stadt­bau­rat Dr. Wil­helm Kunz ent­stan­den die Vor­ent­wür­fe und die Kos­ten­schät­zun­gen. Im Jah­re 1928 konn­te mit den Vor­ar­bei­ten begon­nen wer­den. Die ein­set­zen­de Wirt­schafts­kri­se Ende der zwan­zi­ger Jah­re ver­zö­ger­te den Bau­be­ginn erneut, da die erfor­der­li­chen Gel­der für den Bau der Schu­le von der Stadt nicht auf­ge­bracht wer­den konnten.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Dank der Bewil­li­gung einer bean­trag­ten Staats­hil­fe konn­te die Schu­le im April 1930 durch den dama­li­gen Ober­bür­ger­meis­ter Wal­ter Deli­us der Öffent­lich­keit über­ge­ben wer­den. Unter der Lei­tung von Rek­tor Graue ent­schloss sich das dama­li­ge Schul­kol­le­gi­um, der neu­en Schu­le den Namen Hum­boldt­schu­le zu geben.

Es war von vorn­her­ein beab­sich­tigt, der Volks­schu­le geho­be­ne Bil­dungs­klas­sen für einen mitt­le­ren Bil­dungs­gang anzu­glie­dern. So ent­stan­den 1933 vier geho­be­ne Klas­sen, die soge­nann­ten G‑Klassen. Die Auf­nah­me­be­din­gun­gen für den G‑Zweig und die Leis­tungs­an­for­de­run­gen waren schon damals sehr hoch. Die Wie­der­ho­lung eines Schul­jah­res war aus­ge­schlos­sen, wer die Anfor­de­run­gen nicht erfüll­te, muss­te den Zweig ver­las­sen und zur Volks­schu­le zurückkehren.

Die Humboldtschule in Geestemünde

In der dama­li­gen Stadt Weser­mün­de gab es in den drei­ßi­ger Jah­ren drei Schu­len mit dem G‑Zweig. Die­ses waren in Geest­e­mün­de die Hum­boldt­schu­le, in Mit­te die Pes­ta­loz­zi­schu­le und in Lehe die Kör­ner­schu­le. Die Schü­ler­schaft für die­sen Zweig kam bei der Hum­boldt­schu­le aus den bestehen­den Geest­e­mün­der Volks­schu­len, der Her­mann-Löns-Schu­le, der Alt­geest­e­mün­der Mäd­chen­schu­le, der Neu­markt­schu­le, der All­mers­schu­le und aus dem Volks­schul­zweig der Hum­boldt­schu­le. Gleich­zei­tig stand der Zweig begab­ten Schü­lern aus den Wuls­dor­fer Schu­len und den Schu­len des süd­li­chen Land­krei­ses offen.

Am 15. Dez. 1939 wur­de auf Anord­nung des Reichs­mi­nis­ters für Wis­sen­schaft, Erzie­hung und Volks­bil­dung der G‑Zweig in den soge­nann­ten Auf­bau­zug umge­wan­delt. Das Ziel die­ser Schul­re­form war es, eine Alter­na­ti­ve zu den Ober­schu­len und Gym­na­si­en zu bil­den und den Schul­ab­gän­gern damit bes­se­re Berufs­chan­cen zu bie­ten. Die Vor­aus­set­zun­gen für die­se Plä­ne war ein hoch­qua­li­fi­zier­ter Lehr­kör­per und ein Lehr­plan, der erhöh­te Anfor­de­run­gen an die Fächer Deutsch, Lei­bes­er­zie­hung, Lebens­kun­de , Geschich­te und Musik beinhal­te­te. Im Zuge des dama­li­gen Zeit­geis­tes kam die poli­ti­sche Erzie­hung hinzu.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Für uns Schü­ler der Gebur­ten­jahr­gän­ge 1930/31 waren die Vor­aus­set­zun­gen für die Auf­nah­me in den Auf­bau­zug ein guter Noten­quer­schnitt und sowie eine Emp­feh­lung des Schul­lei­ters als Ver­merk im letz­ten Schul­zeug­nis der Volks­schu­le. Gleich­zei­tig muss­te der Nach­weis über die erfolg­rei­che Teil­nah­me an einem zwei­jäh­ri­gem vor­be­rei­ten­den Eng­lisch­un­ter­richts­kur­sus an der Volks­schu­le erbracht werden.

Im Auf­bau­zug wur­de als Erzie­hungs­form die Koedu­ka­ti­on prak­ti­ziert, d. h. Jun­gen und Mäd­chen wur­den gemein­sam unter­rich­tet. Die­se Form war für uns neu, da die Volks­schu­le nur eine nach Geschlech­tern getrenn­te Erzie­hung kann­te. Der Anteil an Jun­gen und Mäd­chen hielt sich die Waa­ge, die Sitz­plät­ze waren jedoch durch einen Gang getrennt.

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Der Lehr­kör­per des Jah­res 1943 bestand unter der Lei­tung von Rek­tor Graue aus den Damen Rothe (Zwie­bel), Beck­mann (Isa­bel­la), von Zobel (Zo — obel), die Eng­lisch­un­ter­richt erteil­ten, den Damen Mül­ler für Turn­un­ter­richt der Mäd­chen und Pas­sier für Musik, sowie den Her­ren Hage­mann (Ferd) als Klas­sen­leh­rer und Fach­leh­rer für Deutsch, Geschich­te und Erd­kun­de, Bra­se für Raum- und Natur­leh­re und Gabrich als Lei­ter der Leibeserziehung.

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Die vor­ste­hend genann­ten Fächer­be­zeich­nun­gen waren neu und stell­ten eine Ein­deut­schung der Begrif­fe wie Mathe­ma­tik, Phy­sik und Bio­lo­gie usw. dar. Beson­de­rer Wert wur­de auf die Lei­bes­er­zie­hung gelegt, die para­mi­li­tä­ri­schen Cha­rak­ter hat­te. Zu Beginn des Unter­richts muss­te die Klas­se antre­ten und der Klas­sen­äl­tes­te mach­te dem Leh­rer Mel­dung über die Zahl der ange­tre­te­nen Schü­ler und die Begrün­dung der Krank­mel­dun­gen. Ent­spre­chend hart war der Umgangs­ton. Wur­de ein Schü­ler beim Spre­chen mit dem Nach­barn oder bei einer ande­ren Unauf­merk­sam­keit erwischt, muss­te er mit der Auf­for­de­rung “Du robbst, Du Schwein, Du Sau­pe­sel.….” drei Ehren­run­den auf dem Bauch rob­bend um die Turn­hal­le dre­hen. Die glei­che stren­ge Erzie­hung herrsch­te beim Schwimm­un­ter­richt im dama­li­gen Mari­en­bad. Nach dem vor­an­ge­hen­den Duschen wur­de ange­tre­ten und der Kör­per auf Sau­ber­keit kon­trol­liert. Waren die Kri­te­ri­en nicht aus­rei­chend erfüllt, lau­te­te der Spruch “Du hast Dich wohl seit Dei­ner Geburt nicht gewa­schen. Zurück unter die Dusche, marsch, marsch… .”

Musik­un­ter­richt hat­ten wir bei Frau Pas­sier, die sich sehr enga­gier­te. Er fand im Musik­zim­mer der Schu­le statt, wo ein gro­ßer schwar­zer Flü­gel stand. Wenn wir kei­ne Lust zum Sin­gen hat­ten, baten wir Frau Pas­sier, uns den Erl­kö­nig vor­zu­tra­gen. Sie setz­te sich dann an den Flü­gel und sang und spiel­te, und ich habe es als wun­der­vol­le Inter­pre­ta­ti­on in Erinnerung.

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Die Unter­richts­zeit betrug an fünf Tagen der Woche jeweils sechs Ein­hei­ten á 45 Minu­ten und ging von 8.00 — 13.45 Uhr. Bei nächt­li­chen Flie­ger­alarm nach 22.00 Uhr begann der Unter­richt um 9.30 Uhr und die Ein­hei­ten wur­den in Kurz­stun­den umge­wan­delt, wobei die Fächer­kom­bi­na­ti­on bestehen blieb. Aber auch tags­über wur­de der Unter­richt oft durch alli­ier­te Bom­ber­ver­bän­de, die über die Deut­sche Bucht ein­flo­gen, unter­bro­chen, und der Luft­schutz­kel­ler der Schu­le muss­te auf­ge­sucht wer­den. Die Klas­sen­fre­quenz schwank­te dau­ernd, da eini­ge Klas­sen­ver­bän­de der Volks­schu­len erst Ende des Jah­res 1943 bzw. Anfang des Jah­res 1944 aus der Kin­der­land­ver­schi­ckung und den besetz­ten Ost­ge­bie­ten zurück­kehr­ten. Hin­zu kamen Sude­ten­deut­sche und Sie­ben­bür­ger Sach­sen, die dem Ruf “Heim ins Reich” gefolgt waren.

Die schu­li­schen Leis­tun­gen lit­ten auch unter den außer­schu­li­schen Belas­tun­gen durch den Dienst im Jung­volk bzw. im Jung­mä­del­bund mit vie­len Auf­ga­ben wie Spinnstoff‑, Alt­ma­te­ri­al- und Heil­kräu­ter­samm­lun­gen, Stra­ßen­samm­lun­gen für das Win­ter­hilfs­werk, zusätz­li­chen Füh­rer­dienst, Aus­bil­dung im Luft­schutz und Ein­be­ru­fun­gen zu Lehr­gän­gen in die Gebiets­füh­rer­schu­len Dib­ber­sen und Han­kens­büt­tel. In der Vor­weih­nachts­zeit wur­de Spiel­zeug gebas­telt, das an die Kin­der ver­teilt wur­de, deren Väter im Fel­de standen.

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Hin­zu kam ein Dienst als Brand­wa­che in der Schu­le, die tags­über nach Schul­schluss von den jün­ge­ren und nachts von den älte­ren Jahr­gän­gen gestellt wur­de, für mich ein Flug­mo­dell­bau­lehr­gang der Flie­ger-HJ bei dem Modell­bau­leh­rer Ernst Olter­mann in der Mit­tel­stras­se, ein Lehr­gang im Mor­sen, der in der Her­mann-Löns-Schu­le von der Nach­rich­ten-HJ unter Lei­tung eines Offi­ziers des Flug­ha­fens Wed­de­war­den erteilt wur­de und der Hilfs­ein­satz bei den Bom­ben­an­grif­fen in den Jah­ren 1943 und 1944.

Eine beson­de­re Leis­tung stell­te für mich der Dienst als Luft­schutz­mel­der in den Räu­men der Orts­grup­pe Neu­markt dar, zu dem ich abkom­man­diert war. Ich bekam einen Stahl­helm und eine Gas­mas­ke gestellt und muss­te mich bei Flie­ger­alarm auf der Dienst­stel­le der Orts­grup­pe in der Max-Diet­rich-Stra­ße ein­fin­den. Ein Aus­weis erlaub­te mir den Auf­ent­halt auf den Stra­ßen bei Flie­ger­alarm. Den Flä­chen­an­griff mit Spreng­bom­ben auf Geest­e­mün­de am 15. Juni 1944 erleb­te ich in der Dienst­stel­le, und ich muss­te gleich nach dem Angriff los­lau­fen und alle Schä­den im Bereich der Orts­grup­pe fest­stel­len und mel­den. Dabei kam ich mir natür­lich sehr wich­tig und unent­behr­lich vor.

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Das Flä­chen­bom­bar­de­ment wur­de im Juni fort­ge­setzt. Am 17. Juni erfolg­te der Angriff auf den Fische­rei­ha­fen und am 18. Juni der Angriff auf den Stadt­teil Lehe. Nach die­sen Angrif­fen wur­de ich zur Nach­rich­ten-HJ abkom­man­diert, und wir erhiel­ten die Auf­ga­be, das zer­stör­te Tele­fon­netz, das damals noch ein Frei­lei­tungs­netz war, durch Feld­te­le­fo­ne zu erset­zen, damit die Ein­satz­lei­tun­gen mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren konn­ten. Das Mate­ri­al hier­für hol­ten wir mit einem Hand­wa­gen vom Flug­platz Wed­de­war­den und von der Mari­ne­schu­le. Mit Lei­tern, Steig­ei­sen und Kabel­trom­meln aus­ge­stat­tet, ver­leg­ten wir ein pro­vi­so­ri­sches Frei­lei­tungs­netz auf den Stra­ßen, das alle wich­ti­gen Stel­len mit­ein­an­der ver­band. Die Ver­mitt­lung wur­de auf der Bann­dienst­stel­le in der Köper­stra­ße und im HJ-Heim im Saar­park ein­ge­rich­tet, und ich muss­te hier zusam­men mit ande­ren Kame­ra­den Ver­mitt­lungs­diens­te leisten.

Die außer­schu­li­sche Belas­tung, die natür­lich Aus­wir­kun­gen auf die schu­li­schen Leis­tun­gen hat­te, wur­de nicht von allen Kräf­ten des Lehr­kör­pers akzep­tiert. Ich erin­ne­re mich, dass sich unse­re dama­li­ge Eng­lisch­leh­re­rin, Fräu­lein von Zobel, von der Klas­se mit den Wor­ten ver­ab­schie­de­te: “Ich habe mich auf­grund der Faul­heit, die in den Klas­sen des Auf­bau­zu­ges herrscht, zur Volks­schu­le zurück­ver­set­zen lassen.”

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Eine Zäsur in der dama­li­gen Schul­zeit stellt der Beginn der Som­mer­fe­ri­en 1944 dar. Durch die Gefahr der sich meh­ren­den Flie­ger­an­grif­fe ent­schloss sich die Schul­ver­wal­tung, alle Schu­len im dama­li­gen Weser­mün­de zu schlie­ßen und die Kin­der aufs Land zu eva­ku­ie­ren. Für die Klas­sen der Hum­boldt­schu­le war der Raum Schee­ßel — Roten­burg vor­ge­se­hen. Wir ver­lie­ßen Bre­mer­ha­ven in einem Sam­mel­zug unter der Lei­tung unse­res Klas­sen­leh­rers Herrn Hage­mann und der HJ-Zug­be­glei­tung, Stamm­füh­rer Erich Boh­ling, in Rich­tung Roten­burg. Die Fahrt ging über Bre­mer­vör­de — Zeven, und ab Bre­mer­vör­de wur­den die ers­ten Klas­sen an den Bahn­hö­fen ausgesetzt.

Unser Fahrt­ziel war der Ort Lau­en­brück in der Nähe von Schee­ßel am Ran­de der Lüne­bur­ger Hei­de. Hier stand ein Acker­wa­gen bereit, auf den wir unser Gepäck ver­lu­den, und dann mar­schier­ten wir zum 4 km ent­fern­ten Ort Stem­men, einem klei­nen Bau­ern­dorf. Unter der Dorf­lin­de muss­ten wir uns auf­stel­len, und die Bau­ern, die uns auf­neh­men soll­ten, such­ten sich aus unse­ren Rei­hen ihr Pfle­ge­kind aus. Dass sie im Hin­ter­kopf den Gedan­ken an eine Arbeits­kraft hat­ten, wird die Ent­schei­dun­gen bei der Aus­wahl sicher­lich beein­flusst haben.

Ich kam auf einen Hof etwas außer­halb des Ortes, nahe der dama­li­gen Reichs­stra­ße 75. Mein “Zim­mer” war eine klei­ne Kam­mer, in der ein Bett stand und ein Stuhl Platz hat­te, auf den ich mei­nen Kof­fer stel­len konn­te. Nachts hör­te ich die Mäu­se unter mei­nem Bett knab­bern und die alli­ier­ten Bom­ber­ver­bän­de nach Ham­burg flie­gen. Wenn es gar zu sehr brumm­te, weck­te mich der Bau­er, und ich muss­te mich anzie­hen. Waschen konn­te ich mich drau­ßen unter der Pum­pe, der ein­zi­gen Was­ser­stel­le des Hofes, die Toi­let­te war ein Plumps­klo drau­ßen neben dem Schweinestall.

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Sonn­abends ging es abends zusam­men mit den fran­zö­si­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen nach Wüm­me­tal, wo die Wüm­me eine Furt bil­de­te und man im seich­ten Was­ser ein Voll­bad neh­men konn­te. Mei­ne Haus­ge­nos­sen waren der Bau­er und sei­ne Frau, eine mir gleich­alt­ri­ge Toch­ter und drei pol­ni­sche Zivil­ar­bei­ter, die ihre Mahl­zei­ten an einem geson­der­ten Tisch ein­neh­men mussten.

Der Schul­un­ter­richt wur­de wie­der auf­ge­nom­men. Das Dorf besaß eine ein­klas­si­ge Volks­schu­le, und wir teil­ten uns die vor­han­de­nen zwei Klas­sen­räu­me mit der Dorf­ju­gend, die von dem Leh­rer Selig unter­rich­tet wur­de. Turn­un­ter­richt hat­ten wir gemein­sam in Form einer Art Schlacht­ball­spiel, das wir mit einem Medi­zin­ball aus­tru­gen. Herr Hage­mann unter­rich­te­te uns sou­ve­rän in allen Fächern bis auf Eng­lisch. Er fand bewun­derns­wer­ter Wei­se sogar noch die Zeit, uns Unter­richt in Ste­no­gra­phie zu geben. Zum Eng­lisch­un­ter­richt mar­schier­ten wir gemein­sam nach Lau­en­brück, wo Fräu­lein Beck­mann mit ihrer Klas­se unter­ge­bracht war und sie die Mög­lich­keit hat­te, uns nach­mit­tags zu unterrichten.

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Das Dorf lag in der Ein­flug­schnei­se der alli­ier­ten Flie­ger nach Ham­burg und Ber­lin, und wenn tags­über die Bom­ber­ver­bän­de in gro­ßer Höhe mit lan­gen Kon­dens­strei­fen hin­ter sich her­zie­hend das Dorf über­flo­gen, muss­ten wir den im Schul­hof befind­li­chen Split­ter­bun­ker auf­su­chen, wo der Unter­richt fort­ge­setzt wur­de. Meh­re­re Male erleb­ten wir, dass eine von den vier­mo­to­ri­gen Boing Fort­ress abstürz­te und die Besat­zun­gen gefan­gen genom­men wur­den. Anschlie­ßend durch­stö­ber­ten wir die Maschi­nen, schau­ten uns alles an und nah­men ver­bo­te­ner Wei­se Leucht­spur­mu­ni­ti­on der Bord­ka­no­nen an uns. Gott sei Dank ist damit nie etwas ernst­haf­tes pas­siert, obwohl ein­mal bei einem Bau­ern wun­der­sa­mer Wei­se der Koh­le­ofen explodierte.

Neben dem Unter­richt mach­ten wir Ern­te­ein­satz bei den Bau­ern oder wur­den gemein­sam zum Suchen von Kar­tof­fel­kä­fern oder zum Sam­meln von Buch­eckern ein­ge­setzt. Auch such­ten wir in den Wäl­dern nach Reser­ve­ka­nis­tern, die von den neu­er­dings ein­ge­setz­ten Focke Wulf 200, den ers­ten Düsen­jä­gern, bei ihren Abfang­ein­sät­zen abge­wor­fen wurden.

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Der Dienst im Jung­volk trat in den Hin­ter­grund. Wir wur­den zwar dem bestehen­den Jung­zug im Ort ein­ge­glie­dert, aber ein regel­mä­ßi­ger Dienst fand nicht statt. Die Bau­ern­jun­gen, deren Väter meis­tens ein­ge­zo­gen waren, hat­ten genug mit der Ern­te und der Arbeit auf dem Hof zu tun. Nur wenn grö­ße­re Ver­an­stal­tung geplant waren, muss­ten wir in Uni­form teil­neh­men. Ich erin­ne­re mich an einen Bann­ap­pell in Schee­ßel, bei dem der Bann­füh­rer in glü­hen­den Wor­ten den nahe bevor­ste­hen­den End­sieg ankün­dig­te und uns, die Jahr­gän­ge 1930/31 zu einer frei­wil­li­gen Mel­dung zum Dienst in der Waf­fen-SS, Divi­si­on Hit­ler­ju­gend auf­for­der­te. Es muss­te jedoch eine Ein­ver­ständ­nis­er­klä­rung der Eltern bei­gebracht wer­den, die kei­ner von uns erhielt.

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Um die Herbst­fe­ri­en gab es einen Kampf. Die Bau­ern woll­ten uns zur Kar­tof­fel­ern­te dabe­hal­ten, aber wir woll­ten natür­lich nach Hau­se zu unse­ren Eltern. Nach lan­gem Hin — und Her durf­ten wir am 16. Sep­tem­ber nach Weser­mün­de fah­ren. Es gab noch ein Hin­der­nis mit der Bahn, denn am Schal­ter durf­ten kei­ne Fahr­kar­ten aus­ge­ge­ben wer­den, wenn die Fahr­stre­cke mehr als 100 km betrug. Wir umgin­gen die­ses Pro­blem, lös­ten eine Fahr­kar­te bis Roten­burg, fuh­ren dort­hin und lös­ten dort eine Fahr­kar­te nach Weser­mün­de. Die Züge hat­ten einen fla­chen Güter­wa­gen mit einem dar­auf mon­tier­ten leich­ten Flak­ge­schütz hin­ter dem Ten­der und am Ende des Zuges — zur Abwehr feind­li­cher Tief­flie­ger, die oft und ger­ne die fah­ren­den Züge angrif­fen. Nach­dem ich glück­lich zu Hau­se ange­kom­men war, erfolg­te zwei Tage spä­ter, am 18. Sep­tem­ber 1944 der Groß­an­griff alli­ier­ter Bom­ber auf Bre­mer­ha­ven. Unser Haus brann­te nie­der, ich ver­brach­te die Nacht, im Split­ter­gra­ben vor dem Feu­er­sturm geschützt, auf dem Geest­e­mün­der Neumarkt.

Mit Been­di­gung der Herbst­fe­ri­en muss­ten wir nach Stem­men zurück, wenn wir in der Klas­se ver­blei­ben woll­ten. Der Platz auf dem Hof wur­de enger, aus­ge­bomb­te Fami­li­en aus Ham­burg, Bre­men und Weser­mün­de muss­ten auf­ge­nom­men wer­den, und im Janu­ar 1945 erreich­ten die ers­ten Flücht­lings­trecks aus Ost- und West­preu­ßen das Dorf.

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Die Schul­räu­me wur­den beschlag­nahmt und dien­ten nun­mehr einer flä­mi­schen Waf­fen- SS-Ein­heit als Unter­kunft. Herr Hage­mann bewirk­te, dass uns der Club­raum des Dorf­kru­ges vor­mit­tags zur Ver­fü­gung gestellt wur­de, und so fand der Unter­richt nun­mehr bei “Schul­ten Johann” statt. Drau­ßen mar­schier­ten schnei­dig und laut sin­gend die Fla­men vor­bei. Im Saal des Dorf­kru­ges waren die fran­zö­si­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen unter­ge­bracht, die tags­über bei den Bau­ern arbei­te­ten und nachts von einem Volks­sturm­mann im Saal ein­ge­schlos­sen wur­den. Anschlie­ßend kamen sie durch die Fens­ter wie­der her­aus und tra­fen sich im Dorf.

Der Krieg kam näher, und Herr Hage­mann erhielt eine Ein­be­ru­fung zum Volks­sturm. Es gelang ihm jedoch, eine Frei­stel­lung zu erwir­ken. So konn­te der Unter­richt bis zu den Oster­fe­ri­en 1945 fort­ge­setzt wer­den. Neben all den erns­ten Ereig­nis­sen, die die Zeit und die Umstän­de mit sich brach­ten, gab es aber auch schö­ne Erleb­nis­se, an die ich mich ger­ne erinnere.

Zum einen war die­ses das haut­na­he Erle­ben der Natur, das für mich als Stadt­kind ein völ­lig neu­es Gefühl bedeu­te­te. Zum ande­ren war es das Gefühl der Not­ge­mein­schaft, das uns zusam­men­hal­ten ließ.

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In schöns­ter Erin­ne­rung sind mir die win­ter­li­chen Sonn­tag­nach­mit­ta­ge auf der Die­le beim Bau­ern Hoops. Hier kamen wir beim Schein der Petro­le­um­lam­pe mit der Dorf­ju­gend zusam­men. Anne­gret Bäss­mann spiel­te auf dem Akkor­de­on, und wir tanz­ten dazu, wäh­rend die Kühe in den Ver­schlä­gen mit den Ket­ten ras­sel­ten und brumm­ten. Unser schöns­tes Lied war das Lied der KLV, das wohl von Mil­lio­nen Schul­kin­dern in allen Land­ver­schi­ckungs­la­gern des Deut­schen Rei­ches und der angren­zen­den Ost­ge­bie­te gesun­gen wur­de und mit dem ers­ten Vers begann:

 Abends am Lager­feu­er sit­zen wir,
geden­ken der Hei­mat und plau­dern von ihr.
Zu Vater und Mut­ter daheim
kehr’n die Gedan­ken ins Eltern­haus ein. 

Nach den Oster­fe­ri­en wur­de der Schul­un­ter­richt nicht wie­der auf­ge­nom­men. Die Front der eng­li­schen Trup­pen waren unse­rem Auf­ent­halts­ort bedenk­lich nahe gerückt. So ent­schloss sich unser Klas­sen­leh­rer, Herr Hage­mann, mit Unter­stüt­zung von einem ange­reis­ten Vater eines Mit­schü­lers zu einer aben­teu­er­li­chen Heim­rei­se mit drei ver­blie­be­nen Schü­lern. Sein Plan war, mit dem Fahr­rad Bre­mer­vör­de zu errei­chen und dort eine Fahr­ge­le­gen­heit mit dem Zug nach Weser­mün­de zu ergat­tern. Unse­re Polen auf dem Hof hat­ten heim­lich am Radio feind­li­che Pro­pa­gan­da­sen­der abge­hört und dabei ver­nom­men, dass um Bre­mer­vör­de schon Kämp­fe statt­fan­den. Trotz ihrer War­nun­gen schloss ich mich der Grup­pe an.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Wir star­te­ten gegen Mit­tag in Stem­men und fuh­ren über die Land­stra­ßen, die voll­ge­stopft waren mit Pan­zern, Last­wa­gen und Sturm­ge­schüt­zen und den dazu­ge­hö­ri­gen Land­sern. Durch eine Pan­ne am Fahr­rad blieb ich zurück und ver­lor den Anschluss an die Grup­pe. Land­ser hal­fen mir beim Fli­cken des Rades, es wur­de spät, und ich hat­te den Mut ver­lo­ren, Bre­mer­vör­de bei Tages­licht zu errei­chen So ent­schloss ich mich, nach Zeven zu fah­ren. Alle Augen­bli­cke muss­te ich anhal­ten und vom Rad sprin­gen, da Tief­flie­ger in nied­ri­ger Höhe die Land­stra­ßen abflo­gen und auf alles schos­sen, was sich bewegte.

Ich erreich­te jedoch den Bahn­hof von Zeven vor Ein­bruch der Dun­kel­heit und muss­te dort den Luft­schutz­kel­ler auf­su­chen, da Flie­ger­alarm herrsch­te. Plötz­lich ging ein Rau­nen durch den Luft­schutz­raum: “Der Zug kommt!” Alles stürm­te nach drau­ßen, und es gelang mir, einen Platz im Zug zu fin­den. Bei der Ein­fahrt in Bre­mer­vör­de schau­te ich aus dem Fens­ter und sah die Grup­pe mit Herrn Hage­mann auf dem Bahn­steig ste­hen. Um Mit­ter­nacht erreich­te der Zug tat­säch­lich den Haupt­bahn­hof von Wesermünde.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Am 8. Mai 1945 war mit der Kapi­tu­la­ti­on und mit dem Ein­marsch der High­land Divi­si­on in das Stadt­ge­biet der Krieg zu Ende. Die Wirr­nis­se der Zwi­schen­zeit stel­len eine Geschich­te für sich dar und gehö­ren nicht in die­se Chro­nik. Dazu gehört jedoch der Tod unse­res Rek­tors Graue in den letz­ten Kriegs­ta­gen: Er hat­te sich nach Kühr­stedt eva­ku­iert, um dort das Kriegs­en­de abzu­war­ten. Beim Beschuss des Dor­fes durch die Eng­län­der von Beder­ke­sa aus ver­ließ er das schüt­zen­de Haus und wur­de von einer kre­pie­ren­den Gra­na­te töd­lich verletzt.

Das Kriegs­en­de mit dem unglück­li­chen Aus­gang stellt erneut eine Zäsur für die Ent­wick­lung der Schu­le dar. Die Besat­zungs­macht setzt eine Mili­tär­re­gie­rung ein, die wie­der­um kom­mis­sa­risch eine Stadt­ver­wal­tung aus poli­tisch unbe­las­te­ten Leu­ten zusam­men­stellt. Die ers­ten Auf­ga­ben die­ser Ver­wal­tung sind die Rück­füh­rung und Unter­brin­gung der eva­ku­ier­ten Bevöl­ke­rung und deren Ver­sor­gung. Die Ver­wal­tung wird in die Pes­ta­loz­zi­schu­le ein­quar­tiert und nimmt hier ihre Arbeit auf. Die Schu­len blei­ben auf unbe­stimm­te Zeit geschlos­sen, da die Leh­rer­schaft durch die von der Mili­tär­re­gie­rung ein­ge­setz­ten soge­nann­ten Spruch­kam­mern erst auf ihre poli­ti­sche Unbe­denk­lich­keit geprüft wird. Außer­dem sind kei­ne Räum­lich­kei­ten vor­han­den, da die meis­ten Schu­len der Stadt zer­stört sind. Die Aus­sich­ten auf die Zukunft sind unge­wiss, da noch immer die Fest­set­zun­gen des Mor­genthau­pla­nes über die zukünf­ti­ge Neu­ord­nung Deutsch­lands Gül­tig­keit besit­zen. Das Deut­sche Reich ist in Besat­zungs­zo­nen auf­ge­teilt, und die zustän­di­gen Mili­tär­re­gie­run­gen haben hier die Bildungshoheit.

Die Ame­ri­ka­ner begin­nen mit der Umer­zie­hung der deut­schen Jugend, der “Ree­du­ca­ti­on” durch den GYA, den Ger­man Youth Akti­vi­ties und durch die Ein­rich­tung der soge­nann­ten Ame­ri­ka­häu­ser. In die­sen Insti­tu­tio­nen soll bei den Jugend­li­chen ein neu­es Demo­kra­tie­ver­ständ­nis auf­ge­baut werden.

Auf Ver­an­las­sung mei­nes Vaters begin­ne ich eine Tisch­ler­leh­re, aber da die Werk­statt zer­stört ist, ver­brin­ge ich mei­ne Lehr­zeit mit Trüm­mer­be­sei­ti­gung. Als im Herbst 1945 die Schu­len wie­der geöff­net wer­den, bre­che ich die Leh­re ab und keh­re zur Hum­boldt­schu­le zurück. Unse­re Leh­rer­schaft ist fast voll­stän­dig wie­der in alter Beset­zung anwe­send, die “Per­sil­schei­ne” sind erteilt. Hin­zu kom­men neue Lehr­kräf­te aus den ehe­ma­li­gen Mari­ne­schu­len und aus den Schu­len, die zer­stört sind.

Die Lei­tung der Schu­le wird Rek­tor Rabens anver­traut. Unse­re Klas­sen­leh­re­rin wird Frau Dr. Bohm vom Lyze­um Geest­e­mün­de mit dem Fach Deutsch. Geschich­te und Erd­kun­de unter­rich­tet Herr Hage­mann, Mathe­ma­tik Herr Karsch, Eng­lisch Fräu­lein Rothe, Phy­sik und Che­mie Herr Prenz­low und Zeich­nen und Musik das Leh­rer­ehe­paar Bier­mann. Die Klas­sen­fre­quenz schwankt zwi­schen 40 und 50 Schü­lern. Da die Pes­ta­loz­zi­schu­le durch die Stadt­ver­wal­tung und die Ame­ri­can High­school belegt ist, wer­den die Schü­ler die­ser Schu­le auf die Hum­boldt- und Kör­ner­schu­le ver­teilt. Das Kri­te­ri­um für die Umver­tei­lung, wer auf wel­che Schu­le kommt, stellt kurio­ser­wei­se das Vor­han­den­sein einer Stra­ßen­bahn­hal­te­stel­le in der Nähe der Woh­nung dar.

Der Unter­richt gestal­tet sich für den Lehr­kör­per sehr schwie­rig. Die alten Schul­bü­cher dür­fen aus poli­ti­schen Grün­den nicht benutzt wer­den, neue Schul­bü­cher gibt es nicht, Schreib­pa­pier ist eben­falls nicht zu bekom­men. So muss der Unter­richt aus dem Steg­reif gestal­tet wer­den. Die Über­be­le­gung der Schu­le erfor­dert die Ein­füh­rung des Schicht­un­ter­rich­tes, wobei sich die Klas­sen­ver­bän­de abwech­selnd den Unter­richts­raum tei­len. Die Kern­grup­pe unse­res Klas­sen­ver­ban­des erwei­tert sich um die zu uns gewech­sel­ten Schü­ler der Kör­ner- und Pes­ta­loz­zi­schu­le, um Flücht­lin­ge und ehe­ma­li­ge Flak­hel­fer und Militärdienstverpflichtete.

Wich­tigs­ter Teil der Schu­le für uns ist die Schul­spei­sung, die von der Besat­zungs­macht im Lau­fe des Jah­res 1946 ein­ge­führt wird. Aus Mit­teln der Hoo­ver­spei­sung wird in Groß­kü­chen abwech­selnd Erb­sen­sup­pe bezie­hungs­wei­se Milch­sup­pe berei­tet und in Ther­mos­kü­beln an die Schu­len gelie­fert. In der gro­ßen Pau­se erhält jeder Schü­ler hier­von einen soge­nann­ten Schlag. Die­ser Schlag stellt für vie­le Kin­der die Haupt­mahl­zeit des Tages dar. Grund dafür ist die knap­pe Ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung mit Lebens­mit­teln, die im stren­gen und lan­gen Win­ter 19946/47 ihren Tief­punkt erreicht. Ich bin oft mit ande­ren Klas­sen­ka­me­ra­den zum Schul­schluss nach­mit­tags um 16.30 Uhr erneut in der Hoff­nung zur Schu­le gegan­gen, um von den Res­ten des Tages einen Nach­schlag zu erhalten.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Außer­schu­li­sche Ver­pflich­tun­gen gab es auch zu die­ser Zeit. Um einen Anspruch auf Lebens­mit­tel­kar­ten zu erwir­ken, muss­ten Pflicht­stun­den bei der Ent­trüm­me­rung der Stadt nach­ge­wie­sen wer­den. Die­se Pflicht­stun­den wur­den im Klas­sen­ver­band abge­ar­bei­tet. Pflicht war auch der gemein­sa­me Besuch einer Aus­stel­lung der Gräu­el­ta­ten in den KZ’s, die in der Aula der Wil­helm-Raa­be-Schu­le auf­ge­baut war und die mich sehr scho­ckiert hat, und der Besuch meh­re­rer Film­ver­an­stal­tun­gen, die der Ree­du­ca­ti­on die­nen soll­ten. Kei­ne Pflicht, aber all­ge­mein üblich war an Win­ter­aben­den in der Däm­mer­stun­de das Besor­gen von Bun­ker­koh­le von den Zügen am Fische­rei­ha­fen, um daheim ein war­mes Zim­mer zu haben. Die­ses “Besor­gen” galt zu der Zeit als Kava­liers­de­likt und dien­te dem Überleben.

Mit Beginn des neu­en Schul­jah­res 1946 wech­sel­te die Beset­zung unse­res Lehr­kör­pers. Herr Nord­hoff war aus der Kriegs­ge­fan­gen­schaft zurück­ge­kehrt, hat­te sein Spruch­kam­mer­ver­fah­ren hin­ter sich gebracht und wur­de nun unser Klas­sen­leh­rer, der uns in Deutsch, Eng­lisch und Musik unter­rich­te­te. Auch der Turn­un­ter­richt wur­de wie­der auf­ge­nom­men, aber nur im Som­mer, da unse­re Turn­hal­le zer­stört war. Wir muss­ten daher zum Turn­un­ter­richt den Städ­ti­schen Sport­platz im Bür­ger­park auf­su­chen. Da sich für eine Stun­de der lan­ge Anmarsch nicht lohn­te, wur­de der Unter­richt alle 14 Tage auf einen Mitt­woch­vor­mit­tag gelegt und für drei Klas­sen gleich­zei­tig erteilt. Herrn Gabrichs Lieb­lings­sport­art war nun Hand- und Fuß­ball­spiel. Die Asse in die­ser Sport­art, Bagen­da und Gul­bis, stell­ten ihre Mann­schaf­ten auf und spiel­ten, wobei Herr Gabrich schieds­rich­ter­te. Der Rest der Klas­sen wur­de zum Lang­lauf­trai­ning auf die Aschen­bahn rund um den Sport­platz geschickt. Nun weiß ich auch, war­um mir Sport immer ver­hasst war!

Die Humboldtschule in Geestemünde

Mit Anbruch der Weih­nachts­fe­ri­en setz­te der Win­ter mit star­kem Frost und Schnee­fall ein. Der Janu­ar brach­te kla­res Frost­wet­ter mit Ost­wind und Tiefst­tem­pe­ra­tu­ren bis zu ‑18°, das sich bis weit in den März hin­ein hin­zog. Die in der Schu­le vor­han­de­nen Koh­le­vor­rä­te waren auf­ge­braucht, Nach­schub gab es nicht und so konn­te die Schu­le nicht mehr geheizt wer­den. Nach Ablauf der Weih­nachts­fe­ri­en ruh­te der Schul­be­trieb bis auf wei­te­res. Die Ver­tei­lung der Schul­spei­se wur­de fort­ge­setzt, und so gin­gen wir mit unse­rem Blech­napf jeden Mor­gen um 9.30 Uhr auf den Schul­hof, um uns unse­ren Schlag Sup­pe abzuholen.Herr Nord­hoff enga­gier­te sich in selbst­auf­op­fern­der Wei­se und kam jeden Mor­gen mit der Stra­ßen­bahn von Alt­wuls­dorf aus zur Schu­le gefah­ren. Nach­dem wir die Schul­spei­sung emp­fan­gen hat­ten, gin­gen wir mit ihm gemein­sam in den Klas­sen­raum, der Tem­pe­ra­tu­ren unter dem Gefrier­punkt hat­te. In Hut und Man­tel mit auf­ge­schla­ge­nem Kra­gen stand er eine Stun­de an der Schul­ta­fel und gab uns Unter­richt und Haus­auf­ga­ben und berei­te­te uns so auf die bevor­ste­hen­de Abschluss­prü­fung vor, die mit Ablauf des Schul­jah­res im März 1947 statt­fin­den sollte.

Die Hoff­nung auf einen erneu­ten Unter­richts­be­ginn erfüll­te sich nicht. Der Dau­er­frost hielt an, und als Prü­fungs­ter­min wur­de nach meh­re­ren Ver­schie­bun­gen der 20. März 1947 fest­ge­setzt. Prü­fungs­ort soll­te die Zwing­lischu­le in der Lan­gen Stra­ße in Lehe sein, die als eine der ältes­ten Schu­len der Stadt zur Behei­zung noch Koh­le­öfen besaß und so ein Raum für uns geheizt wer­den konn­te. Wer die Koh­le besorgt hat, weiß ich nicht. Aus­ge­rech­net in die­sen Tagen hat­te Tau­wet­ter ein­ge­setzt und die ver­eis­ten Stra­ßen­bahn­schie­nen über­flu­tet, so dass die Stra­ßen­bah­nen nicht fah­ren konn­ten. So tra­fen wir Geest­e­mün­der uns recht­zei­tig am Haupt­bahn­hof und mar­schier­ten gemein­sam über die Stra­ße der Frei­heit, die heu­ti­ge Stre­se­mann­stra­ße, in Rich­tung Lehe.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Wir kamen auf­grund der schlech­ten Fuß­be­klei­dung mit durch­näss­ten Schu­hen dort an und hin­gen unse­re Schu­he und Strümp­fe zum Trock­nen an den rie­si­gen eiser­nen Ofen. Der Prü­fungs­aus­schuss, dem es ähn­lich ergan­gen war, mach­te es eben­so. Als Prü­fungs­aus­schuss unter dem Vor­sitz des Beauf­trag­ten des Sena­tors für Schu­len und Erzie­hung, Schul­rat Zim­mer­mann zeich­ne­ten Rek­tor Rabens, Herr Nord­hoff, Herr Hage­mann, Fräu­lein Rothe, Frau Dr. Bohm und Herr Prenz­low verantwortlich.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Die schrift­li­che Prü­fung begann unter Herrn Rek­tor Rabens in Mathe­ma­tik unter strengs­ter Klau­sur. Wer vor Auf­re­gung zur Toi­let­te muss­te, konn­te die­ses nur in Beglei­tung eines Leh­rers ver­rich­ten. Es folg­ten die ande­ren Prü­fungs­fä­cher. Wer bei einer spä­te­ren Begut­ach­tung durch den Prü­fungs­aus­schuss mit einer Zen­sur zum Guten oder Schlech­ten auf der Kip­pe stand, wur­de münd­lich nach­ge­prüft. Ich muss an die­ser Stel­le für ihr Ver­hal­ten in der münd­li­chen Prü­fung lobend Fräu­lein Rothe erwäh­nen, die sich uns gegen­über loy­al zeig­te und durch ihre Mimik und durch geschick­te Zwi­schen­fra­gen man­che gespann­te Situa­ti­on rettete.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Zur Beloh­nung für die Anstren­gun­gen stand der Klas­se in der Pau­se ein gan­zer Kübel Schul­spei­sung zum Sat­tes­sen bereit. Ent­spannt und in gelo­cker­ter Atmo­sphä­re tra­ten wir in hel­lem Son­nen­schein den Rück­weg nach Hau­se über die Hafen­stras­se an. Die offi­zi­el­le Schul­ent­las­sungs­fei­er fand am 29. März 1947 vor­mit­tags um 11.00 Uhr im Musik­zim­mer der Schu­le statt. Nach­mit­tags tra­fen wir uns noch ein­mal in der Schu­le, um mit Heiß­ge­tränk die bestan­de­ne Prü­fung zu begießen.

Die Humboldtschule in Geestemünde

Rück­bli­ckend möch­te ich noch ein­mal unse­rer Leh­rer­schaft mei­ne Hoch­ach­tung aus­drü­cken, die uns unter wid­rigs­ten Umstän­den ein Bil­dungs­ni­veau ver­mit­telt hat, das den heu­ti­gen schu­li­schen Leis­tun­gen in kei­ner Wei­se nach­steht. Die­ses Wis­sen kam uns in den1950er Auf­bau­jah­ren allen zu Gute und bil­de­te die Basis für unse­re beruf­li­che Kar­rie­re und stell­te für vie­le auch den Grund­stock für den zwei­ten Bil­dungs­weg dar. Ohne jeman­den zurück­zu­stel­len, möch­te ich die ruhi­ge, beson­ne­ne und väter­li­che Art des Herrn Hage­mann erwäh­nen, der uns durch all die schwe­ren Jah­re beglei­te­te und der mit sei­nem ver­steck­ten Humor man­che Eska­la­ti­on ver­mei­den half. Bei Herrn Rek­tor Rabens bewun­de­re ich die Art sei­ner Päd­ago­gik und Dia­lek­tik, mit der er den Unter­richt führ­te und sei­ne Auto­ri­tät zum Aus­druck brach­te. Ich mei­ne, dass er mit die­ser Art auch bei der heu­ti­gen Schul­ju­gend mit Erfolg bestehen könn­te!
Bre­mer­ha­ven, im Juli 1997 | Erich Sturk
Vie­len Dank an Herrn Erich Sturk, dass er die Leser des Deich­SPIE­GELS an sei­nen Erin­ne­run­gen an die Hum­boldt­schu­le teil­ha­ben lässt. 

Historischer Spaziergang durch Geestemündes Schillerstraße

His­to­ri­sche Spa­zier­gän­ge unter der Füh­rung von Rose­ma­rie Blum, Vor­sit­zen­de des Bür­ger­ver­eins Geest­e­mün­de, sind sehr beliebt. Kürz­lich tra­fen sich etwa 70 Leu­te an der Hum­boldt­schu­le, um gemein­sam in der Schil­ler­stra­ße auf Spu­ren­su­che zu gehen.

Humboldtschule in der Schillerstraße

An der Hum­boldt­schu­le ende­te Ende der 1920er Jah­re die Schil­ler­stra­ße. Damals plan­te man den Bau einer Schu­le mit 16 Klas­sen. Im Jah­re 1928 war Bau­be­ginn, und am 30. April 1930 konn­te die neue Schu­le, die im Bau­haus­stil errich­tet wur­de, end­lich ein­ge­weiht werden.

Die Spa­zier­gän­ger muss­ten nicht weit gehen, bis sie sich an der Ecke Schil­ler­stra­ße  zur Georg-See­beck-Stra­ße vor der Knei­pe “Zum Grü­nen Jäger” wie­der ver­sam­mel­ten. Frau Blum wies dar­auf hin, dass es die­se Knei­pe “schon immer gege­ben” habe. Und die angren­zen­den Häu­ser Schil­ler­stra­ße 100 und 102 sol­len rei­che Fisch­kauf­leu­te gebaut haben.

Wei­ter ging es zur Schil­ler­stra­ße 94, ein ehe­ma­li­ger Beam­ten­wohn­block mit einer Brot­fi­lia­le von Eme­lie Turek im Sou­ter­rain. Zwei Häu­ser wei­ter, in der Schil­ler­stra­ße 90, ver­kauf­te Schlach­ter Abels von 1960 bis 1990 sei­ne Fleisch- und Wurstwaren.

Schillerstrasse

Aus alten Adress­bü­chern hat Frau Blum in Erfah­rung gebracht, dass es im Jah­re 1939 in der Schil­ler­stra­ße 33 Gewer­be­trei­ben­de gege­ben hat. Und für das Jahr 1979 hat sie sogar 46 Geschäf­te aus­ge­macht. Heu­te sol­len es nur noch 17 sein. Die Spa­zier­gän­ger erfuh­ren auch, dass vie­le der heu­ti­gen Gebäu­de in der Schil­ler­stra­ße ist nach dem Krieg erstellt wur­den, oft­mals auf den alten Kel­ler­wän­den der Ruinen.

Für alt­ein­ge­ses­se­ne Bre­mer­ha­ve­ner war es sicher­lich auch inter­es­sant zu erfah­ren, dass es an der Fried­rich­stra­ße die Fabrik “Carl zur Wie­den” gab, in der Obst­säf­te her­ge­stellt wur­den. Die Rück­sei­te des Fabrik­ge­län­des grenz­te an die Raabestraße.

Abschlie­ßend beklag­te Frau Blum, dass es auch hier in der Schil­ler­stra­ße zu vie­le Schrott­im­mo­bi­li­en gäbe. Wie in ande­ren Bre­mer­ha­ve­ner Stadt­tei­len ver­sucht auch in Geest­e­mün­de ein Stand­ort­ma­na­ger, mit den Eigen­tü­mern der Schrott­im­mo­bi­li­en ins Gespräch zu kom­men, um gemein­sam nach Lösun­gen zu suchen.
Quel­le:
Jür­gen Rab­bel: Geschichte(n) von Geschäf­ten, Nord­see-Zei­tung vom 02.05.2015

Geestemünde in alten und neuen Ansichten — Teil 10

Geest­e­mün­de in alten und neu­en Ansich­ten — Teil 10

Im Volks­mund gibt es vie­le Gelän­de­be­zeich­nun­gen, die für den Ein­hei­mi­schen eine genaue Orts­an­ga­be dar­stel­len. Die­se oft­mals schon vie­le hun­dert Jah­re alten Bezeich­nun­gen gera­ten lang­sam in Ver­ges­sen­heit. Dar­um ist es wich­tig, die­se alten Flur­be­zeich­nun­gen für unse­re Nach­kom­men zu erhal­ten, sind sie in ihrer Bedeu­tung doch ein Stück Hei­mat und Geschichte.

In Geest­e­mün­de gibt es die Bezeich­nung “Pasch­vier­tel”. Das Wort “Pasch“ soll vom Nie­der­rhein stam­men und setz­te sich auch im nord­deut­schen Sprach­ge­brauch durch. Sei­nen Ursprung fin­det es jedoch in der latei­ni­schen Spra­che. Es stammt von “pascua” ab, was Wei­de oder Wei­de­land bedeu­tet. Wer heu­te durch die mit dich­ten Häu­ser­rei­hen bebau­te Pasch­stra­ße geht, kann sich viel­leicht nicht mehr vor­stel­len, dass die­ses Gebiet ein­mal Wei­de­land gewe­sen sein soll.

Paschviertel

Geest­en­dorf ent­stand wohl aus dem bereits 1139 erst­ma­lig erwähn­ten  Kirch­dorf Ges­ten­thor­pe. Das mit­tel­al­ter­li­che Geest­en­dorf gehör­te zum Amts- und Gerichts­be­zirk Viel­and und befand sich auf dem Geest­rü­cken rund um die Mari­en­kir­che. 1813 leb­ten in Geest­en­dorf 491 Men­schen, noch 1823 sol­len es nur 576 gewe­sen sein. Doch mit der Grün­dung der Stadt Bre­mer­ha­ven und den Häfen kamen immer mehr Men­schen in das ver­schla­fe­ne Geest­en­dorf. Bereits 1858 leb­ten hier 2.296 Ein­woh­ner. Vor allem Arbei­ter und Hand­wer­ker sie­del­ten sich hier an, da in Bre­mer­ha­ven und dem 1845 eben­falls neu ent­stan­den Geest­e­mün­de die Zuzugs­be­din­gun­gen sehr restrik­tiv waren.

Paschviertel

Das Are­al des heu­ti­gen Neu­mark­tes befand sich im Eigen­tum des Amts­ho­fes, dem spä­te­ren Amt Viel­and. Der Amts­hof lag schräg gegen­über der Mari­en­kir­che und war mit ver­schie­de­nen Wohn- und Wirt­schafts­ge­bäu­den bebaut. Auch gehör­ten ein gro­ßer Gar­ten und umfang­rei­che Län­de­rei­en dazu. Die­se erstreck­ten sich im Nor­den bis zur Bucht­stra­ße und wur­den im Osten durch die Bül­ken­stra­ße begrenzt.

1936 Bismarckstrasse

Nach der Grün­dung von Bre­mer­ha­ven und Geest­e­mün­de nahm Geest­en­dorf – wie bereits erwähnt – als Wohn­vor­ort für die bei­den klei­nen Hafen­or­te inner­halb weni­ger Jahr­zehn­te einen erheb­li­chen Auf­schwung. Als Fol­ge hat­te sich die Wohn­be­bau­ung in Geest­en­dorf erheb­lich Rich­tung Osten und Nor­den erwei­tert und Geest­en­dorf wuchs ent­lang der heu­ti­gen Georg­stra­ße all­mäh­lich auf Geest­e­mün­de zu.

1905_Bülkenstrasse

Zur glei­chen Zeit ent­stand für die vie­len Neu­bür­ger auf einem nörd­lich des Geest­en­dor­fer Geest­rü­ckens gele­ge­nen Wei­de­land ein neu­es Wohn­ge­biet, dass man spä­ter in Anleh­nung an die alte Flur­be­zeich­nung den Namen “Pasch­vier­tel” gab. Die­ses von  der Georg­stra­ße, der Bis­marck­stra­ße, der Schil­ler­stra­ße und der Bucht­stra­ße begrenz­te Wohn­ge­biet besteht aus eng bei­ein­an­der lie­gen­den Gas­sen, die in einem leich­ten Bogen ver­lau­fen und von der Bucht­stra­ße schräg ange­schnit­ten wer­den. Das Pasch­vier­tel ent­wi­ckel­te sich zu einem dicht­be­sie­del­ten Orts­teil, der vom alten Geest­en­dor­fer Dorf­kern räum­lich getrennt war.

Mit dem Eisen­bahn­bau und der Erwei­te­rung der Geest­e­mün­der Hafen­an­la­gen wur­de für das Pasch­vier­tel 1856 eine wei­te­re Aus­deh­nung unmög­lich gemacht. Als 1863 der Handelshafen,der Nord­ka­nal und der Quer­ka­nal fer­tig­ge­stellt waren, muss­te die Chaus­see um das neu ent­stan­de­ne Zoll-“Freigebiet” her­um­ge­führt wer­den. Die zwi­schen 1859 und 1862 gebau­te Leher Stra­ße (spä­ter Bis­marck­stra­ße)  und  die  Leher  Chaus­see (spä­ter  Rhein­stra­ße) bil­de­ten die Bebau­ungs­gren­ze für das neue Wohn­vier­tel. Und der 1877 ange­leg­te Holz­ha­fen mach­te klar, dass es für das Pasch­vier­tel kei­ne wei­te­re Aus­deh­nung in nörd­li­cher Rich­tung geben kann.

1912 Buchtstrasse Ecke Keilstrasse

Also wur­de gen Süden wei­ter­ge­baut — zunächst ent­lang der bereits vor­han­de­nen Pasch­stra­ße, Bül­ken­stra­ße und Kur­ze Stra­ße (heu­te Tul­pen­stra­ße) — bis man die Bucht­stra­ße erreich­te. Hier war dann auch wie­der Schluss, denn das  jen­seits der Bucht­stra­ße gele­ge­ne Amts­hof­ge­län­de bil­de­te eine wei­te­re Gren­ze und so wur­de aus dem “Pasch”, ein­ge­zwängt zwi­schen Bucht­stra­ße und Bis­marck­stra­ße,  ein eng begrenz­tes und dicht­be­sie­del­tes Vier­tel mit klei­nen Arbei­ter- und  Hand­wer­ker­häu­sern  vom Typ “Leher Haus“.

Nelkenstraße

Zwi­schen Pasch­stra­ße, Bül­ken­stra­ße und Kur­ze Stra­ße wer­den wei­te­re Stra­ßen gebaut; Anfang der 1860er Jah­re ent­steht die Rosen­stra­ße und Mit­te der 1860er Jah­re die Nel­ken­stra­ße, in der heu­te noch ein paar Gebäu­de des Typ “Leher Haus” erhal­ten sind.

Die Grund­stü­cke waren sehr klein, sie reich­ten nur etwa zehn Meter in die Tie­fe. Dar­aus erga­ben sich Grund­stücks­grö­ßen von maxi­mal 100 Qua­drat­me­ter, oft­mals waren sie sogar noch klei­ner. So waren auch die Wohn­räu­me, jeden­falls gemes­sen an den heu­ti­gen Wohn­ver­hält­nis­sen, recht klein. Häu­fig muss­ten die Gewer­be­trei­ben­den auch ihre Werk­statt in den Woh­nungs­grund­riss ein­pla­nen, da die klei­nen Grund­stü­cke kein zusätz­li­ches Werk­statt­ge­bäu­de zuließen.

Kleingärten

Zwi­schen den Gebäu­den gab es schma­le Gän­ge, die zu den sehr klei­nen Hof­räu­men führ­ten. Die Anla­ge von Haus­gär­ten war in den klei­nen Hin­ter­hö­fen aller­dings nicht mög­lich. Zur Auf­bes­se­rung ihrer gerin­gen Ein­künf­te waren die Bewoh­ner dar­auf ange­wie­sen, in außer­halb gele­ge­nen Klein­gär­ten etwas Gar­ten­bau und auch Klein­vieh­hal­tung zu betrei­ben. Die­se Gär­ten wur­den am Ran­de des Pasch­vier­tels öst­lich der Schil­ler­stra­ße und Rhein­stra­ße ange­legt und zogen sich bis zum Gebiet des heu­ti­gen Haupt­bahn­ho­fes hin. Die Gär­ten ver­schwan­den erst in den 1950er Jahren.

Malergeschäft B. Hayen in der Friedrichstraße Ecke Tulpenstraße

Nur dort, wo irgend­wann ein­mal zwei Grund­stü­cke zusam­men­ge­legt wur­den, konn­ten die Hand­wer­ker und ande­re Gewer­be­trei­ben­de ihre Werk­statt außer­halb des Wohn­rau­mes unter­brin­gen. Nörd­lich der Fried­rich­stra­ße wur­den die Grund­stü­cke im Bebau­ungs­plan vom Anfang der 1850er Jah­re groß­zü­gi­ger ver­mes­sen. Hier konn­te man des­halb auch präch­ti­ge­re Gebäu­de mit grö­ße­rem Wohn­raum erstellen.

Heute gibt es hier auch das Malergeschäft von B. Hayen längst nicht mehr.

So befand sich etwa das Maler­ge­schäft B. Hay­en seit 1888 in dem klei­nen im Grün­der­haus­stil erbau­ten Wohn- und Geschäfts­haus an der Ecke Fried­rich­stra­ße und Tul­pen­stra­ße. Ein ande­res Gebäu­de, dass hier drei­ßig Jah­re lang stand, wur­de abgerissen.

Auch die heu­te noch bestehen­de Bäcke­rei Engel­brecht ent­stand hier zum Anfang des letz­ten Jahr­hun­dert an der Ecke Fried­rich­stra­ße zur Schil­ler­stra­ße in einer bereits vor­han­de­nen Bäckerei.

Bäckerei Engelbrecht in der Schillerstraße Ecke Friedrichstraße

Neben dem Maler­ge­schäft B. Hay­en ent­stan­den im Pasch­vier­tel vie­le ande­re Betrie­be. Max Sieg­hold, spä­te­rer Besit­zer der bekann­ten Sieg­hold-Werft, pach­te­te 1925 in der Nel­ken­stra­ße 2 von Fried­rich Nagel eine Schmie­de und begann sei­nen Betrieb mit einem Lehrling.

Möbelfabrik Schlüter

Pols­ter­meis­ter Lou­is Schlü­ter begann in der Nel­ken­stra­ße in einer klei­nen Werk­statt, bevor er um die Wen­de zum 20. Jahr­hun­dert sei­ne Möbel­fa­brik aufbaute.

Möbelfabrik Schlüter

Für die Tisch­ler­ar­bei­ten stell­te Lou­is Schlü­ter den im Jah­re 1898 gebo­re­nen Tisch­ler­meis­ter Karl Jüch­tern ein. Auch meh­re­re Gesel­len waren in der Möbel­fa­brik beschäftigt.

Möbelfabrik Schlüter

Der Betrieb bestand noch bis weit in die 1970er Jah­re hinein.

Karl Jüch­terns Vater hieß Hein­rich Jüch­tern, der hat­te ein klei­nes Transportunternehmen.

Transportunternehmen Heinrich Jüchtern

Mit sei­nem Pfer­de­fuhr­werk trans­por­tier­te er unter ande­rem das Gepäck der Rei­sen­den von und zum Bre­mer­ha­ve­ner Bahnhof.

1910 | Bierverlag Lehnert

Schräg gegen­über von Engel­brecht befand sich der Bier­ver­lag von Hein­rich Leh­nert, der eigent­lich eine Fleischwaren‑,  Margarine‑,  Bier- und Spi­ri­tuo­sen­groß­hand­lung war. Zwar gibt es das Leh­nert­sche Anwe­sen eben­falls nicht mehr, aber das

2014 | wieder aufgebaute Eckhaus an der Schillerstraße Ecke Raabestraße

Eck­haus wur­de zusam­men mit wei­te­ren Gebäu­den für einen Super­markt der­art wie­der auf­ge­baut, dass optisch eine his­to­ri­sche Ver­bin­dung zum alten Leh­nert­schen Gebäu­de­kom­plex her­ge­stellt wurde.

15. Mai 2014 Paschstrasse Blick Richtung Kreuzstrasse

Über das All­tags­le­ben im Pasch­vier­tel gibt kaum Auf­zeich­nun­gen. Es scheint aber ein Vier­tel gewe­sen zu sein, in dem die wohn­bau­li­chen und auch die hygie­ni­schen Ver­hält­nis­se anspruchs­los waren. Auch die Kana­li­sa­ti­on soll so unzu­rei­chend gewe­sen sein, dass die tie­fer gele­ge­nen Grund­stü­cke bei star­ken Regen­fäl­len unter Was­ser standen.

Paschschule

Dadurch, dass das Amts­hof­ge­län­de für die Geest­en­dor­fer Neu­bau­be­bau­ung eine Gren­ze dar­stell­te, blieb der Cha­rak­ter des Geest­en­dor­fer Orts­kern mit sei­nen alten Bau­ern­häu­sern bis weit ins letz­te Vier­tel des 19. Jahr­hun­derts erhal­ten. Das Pasch­vier­tel bekam sogar eine eige­ne Schu­le. 1863 wur­de in der Schil­ler­stra­ße 14 die Pasch­schu­le gebaut.

25. Mai 2014 | An der Schillerstraße/Ecke Raabestraße wurde im Frühjahr 1863 die neue vierklassige Paschschule bezogen.

1902 bezog die Katho­li­sche Volks­schu­le das Gebäu­de und blieb hier 37 Jah­re – bis zum Ver­bot im Jah­re 1939. Neben 13 wei­te­ren Schu­len wur­de durch den Luft­an­griff im Sep­tem­ber 1944 auch die Pasch­schu­le zerstört.

Kirche

Bei die­sem Angriff wur­de auch die 1911 ein­ge­weih­te Hei­li­ge Herz-Jesu-Kir­che durch Brand­bom­ben erheb­lich beschädigt.

Die alt­ein­ge­ses­se­nen Bewoh­ner Geest­en­dorfs blie­ben also “unter sich”, wäh­ren im Pasch­vier­tel die in Bre­mer­ha­ven und Geest­e­mün­de beschäf­tig­ten Arbei­ter ihre neue Hei­mat fan­den. Aber auch klei­ne­re Hand­werks­be­trie­be wie Bäcke­rei­en, Schlach­te­rei­en, Schus­te­rei­en und Milch­ge­schäf­te oder Koh­len­hand­lun­gen fan­den hier ihr Auskommen.

Bülkenstraße

Das blieb so, bis das Wohn­ge­biet durch den Luft­an­griff am 18. Sep­tem­ber 1944 fast völ­lig zer­stört wur­de und die an Stel­le der einst­mals klei­nen Wohn­häu­ser gebau­ten gro­ßen Wohn­blö­cke dem Vier­tel einen voll­kom­me­nen ande­ren Cha­rak­ter gaben.
Quel­len:
Dr. Hart­mut Bickel­mann, Nie­der­deut­sches Hei­mat­blatt Nr. 757 aus Janu­ar 2013
Daten zur Geschich­te der Katho­li­schen Schu­le…
His­to­ri­sche Bül­ken­stra­ße in neu­em Gewand (pdf-Datei)
Hart­mut Bickel­mann: Von Geest­en­dorf nach Geestemünde,
de.wikipedia.org