Kategorie: Bremerhaven damals und heute

Erich Sturk: Erinnerungen an den 18. September 1944 in Bremerhaven

In “Erin­ne­run­gen an den 18. Sep­tem­ber 1944 in Bre­mer­ha­ven” beschreibt Leser Erich Sturk sei­ne Gedan­ken an den ver­hee­ren­den Luft­an­griff, in des­sen Ver­lauf Bom­ber der Roy­al Air Force inner­halb von 20 Minu­ten die heu­ti­gen Bre­mer­ha­ve­ner Stadt­tei­le Mit­te und Geest­e­mün­de fast kom­plett zer­stör­ten. Erich Sturk kann das Erleb­te nicht ver­ges­sen, und es ist ihm ein Her­zens­wunsch, dass sei­ne per­sön­li­chen Erin­ne­run­gen hier im Deich­SPIE­GEL ver­öf­fent­licht werden. 

Erinnerungen an den 18. September 1944

Ich war damals 13 Jah­re alt und wohn­te in mei­nem Eltern­haus in Weser­mün­de-Geest­e­mün­de, Bucht­stra­ße 8–10/Ecke Neu­markt­stra­ße. Weser­mün­de war bis zu die­sem Zeit­punkt im Gegen­satz zu ande­ren Groß­städ­ten von Groß­an­grif­fen der alli­ier­ten Bom­ber ver­schont geblie­ben. Zwar waren im Ver­lau­fe des Krie­ges schon eini­ge Bom­ben gefal­len, aber es han­del­te sich anschei­nend um Not­ab­wür­fe der Bom­ber beim Rück­flug von ihren Einsatzzielen.

Bereits 1940 war eine Stab­brand­bom­be auf unse­re Tisch­ler­werk­statt gefal­len, die das Dach und die Boden­de­cke durch­schlug und auf der Fur­nier­pres­se lie­gen blieb und aus­brann­te, ohne Scha­den anzu­rich­ten, da mein Vater den Feu­er­schein gese­hen hat­te und wir in die Werk­statt lie­fen und die Bom­be mit Lösch­sand abdeck­ten. Grö­ße­re Schä­den wur­den bei die­sen Not­ab­wür­fen in der Schil­ler­stra­ße, in Sur­hei­de und in Nordle­he verursacht.

Ab 1943 wur­den wir älte­ren Schü­ler zu einer Brand­wa­che in den Schu­len außer­halb der Schul­zeit ein­ge­teilt, nach­dem unser Schul­luft­schutz­wart, Herr Mey­er, uns ein­ge­wie­sen und an dem Blind­gän­ger einer Stab­brand­bom­be demons­triert hat­te, wie sie zu löschen war.

Im Herbst 1943 wech­sel­te ich von der All­mers­schu­le in den Auf­bau­zug der Hum­boldt­schu­le und wur­de von der dama­li­gen Kreis­lei­tung der Orts­grup­pe Neu­markt als Mel­der zuge­teilt. Für mich bedeu­te­te es, dass ich mit Stahl­helm und Gas­mas­ke zur Schu­le ging und mich bei Flie­ger­alarm im Büro der Ort­grup­pe ein­zu­fin­den hat­te, das sich in der Max-Died­rich-Stra­ße im Hau­se der Leih­bü­che­rei Hagen befand. Hier­für bekam ich einen Aus­weis, der mir erlaub­te, mich bei Alarm auf den Stra­ßen zu bewe­gen und auf den ich sehr stolz war.

Mein ers­ter gro­ßer Ein­satz fand am 15. Juni 1944 statt, als am Vor­mit­tag ein Flä­chen­bom­bar­de­ment auf den Stadt­teil Geest­e­mün­de erfolg­te. Ich erhielt vom Orts­grup­pen­lei­ter den Auf­trag, die ent­stan­de­nen Schä­den im Bereich der Orts­grup­pe Geest­e­mün­de zu ermit­teln und auf einem Mel­de­block fest­zu­hal­ten. Ich erin­ne­re mich an die unheim­li­che Stil­le, die auf den Stra­ßen herrsch­te und an den Geruch von Gas und Mör­tel­staub, der über dem Stadt­teil lag. Als ich in die Neu­markt­stra­ße kam, sah ich, dass eine Spreng­bom­be unser Haus knapp ver­fehlt hat­te und dass sich auf der Neu­markt­stra­ße ein gro­ßer Bom­ben­trich­ter befand.

Erinnerungen an den 18. September 1944

Die Angriffs­se­rie setz­te sich am 17. und 18. Juni mit Flä­chen­bom­bar­de­ments auf den Stadt­teil Lehe und auf den Fische­rei­ha­fen fort. Nach die­sen Angrif­fen wur­den wir vom Jung­volk aus zu Lösch- und Ber­gungs­ar­bei­ten ein­ge­setzt. Die ört­li­chen Tele­fon­lei­tun­gen bestan­den größ­ten­teils aus Frei­lei­tun­gen, die bei den Angrif­fen zer­stört wur­den, so dass eine Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen den Behör­den und Ein­satz­lei­tun­gen nicht mehr mög­lich war. Wir Jun­gen erhiel­ten den Auf­trag, in Zusam­men­ar­beit mit der Nach­rich­ten-HJ ein pro­vi­so­ri­sches Nach­rich­ten­netz aufzustellen.

Mit einem Hand­wa­gen zogen wir zum Flug­ha­fen Wed­de­war­den und erhiel­ten dort 2 Hand­ver­mitt­lun­gen, 25 Feld­fern­spre­cher und Rol­len mit Tele­fon­ka­beln. Mit dem Mate­ri­al konn­ten wir in den nächs­ten Tagen eine orts­über­grei­fen­de Ver­bin­dung aller wich­ti­gen Stel­len auf­bau­en. Die Ver­mitt­lun­gen befan­den sich in der Bann­dienst­stel­le in der Köper­stra­ße und im HJ-Heim Saar­park, wo wir anschlie­ßend abwech­selnd Ver­mitt­lungs­diens­te leisteten.

Die Angrif­fe auf die Stadt im Juni ver­an­lass­ten die Stadt­ver­wal­tung, die Schu­len zu schlie­ßen und die Schü­ler zu deren Sicher­heit im Rah­men der soge­nann­ten KLV (Kin­der­land­ver­schi­ckung) auf das plat­te Land zu schi­cken. Mit­te Juli 1944 ver­ließ ich mit mei­ner Klas­se, der A IV der Hum­boldt­schu­le, und mit unse­rem Klas­sen­leh­rer, dem Herrn Hage­mann, die Stadt mit einem Son­der­zug in Rich­tung Lüne­bur­ger Heide.

Vom Bahn­hof Bre­mer­vör­de ab ver­lie­ßen an jeder Sta­ti­on die ein­zel­nen Klas­sen den Zug zu ihren zuge­teil­ten Auf­ent­halts­or­ten. Wir ver­lie­ßen den Zug in Lau­en­brück im Kreis Roten­burg (Han) , ver­lu­den unser Gepäck auf einen bereit­ste­hen Acker­wa­gen und mar­schier­ten zu unse­rem Bestim­mungs­ort Stem­men, einem klei­nen Dorf am Ran­de der Lüne­bur­ger Hei­de, wo wir ver­teilt und von den Bau­ern in unse­re Quar­tie­re geführt wurden.

Hier ver­brach­ten wir den Som­mer mit Schul­un­ter­richt in der Dorf­schu­le, Ern­te­hil­fe, Kar­tof­fel­kä­fer- und Buch­eckern­samm­lun­gen und, wenn man Glück hat­te, mit dem Auf­fin­den von abge­wor­fe­nen Reser­ve­tanks der ers­ten Düsen­jä­ger, die zur Flug­ab­wehr auf dem Flug­platz Roten­burg ein­ge­setzt wur­den. Für das Auf­fin­den und Ablie­fern eines Tanks bekam man 10 RM. Nachts hör­te ich die Mäu­se unter mei­nem Bett nagen und die feind­li­chen Flie­ger in Rich­tung Ham­burg über mir brum­men, und wenn das Brum­men zu stark wur­de, weck­te mich der Bau­er, und wir such­ten einen pro­vi­so­ri­schen Split­ter­bun­ker auf, der sich auf dem Hof befand.

Erinnerungen an den 18. September 1944

Nach Ein­brin­gen der Kar­tof­fel­ern­te wur­de uns erlaubt, die Herbst­fe­ri­en zu Hau­se zu ver­brin­gen. Am Sonn­abend, dem 16. Sep­tem­ber 1944, fuh­ren wir gemein­sam mit unse­rem Klas­sen­leh­rer nach Weser­mün­de. Es war ein war­mer, son­ni­ger Herbst­tag, und ich erin­ne­re mich des hei­mat­li­chen Wohl­ge­fühls, das ich beim Ver­las­sen des Bahn­hofs Geest­e­mün­de emp­fand. Ich freu­te mich auf mein gemüt­li­ches Zim­mer zu Hau­se, das ich gegen mei­ne 4.00 qm gro­ße Kam­mer mit Bett und Stuhl beim Bau­ern tau­schen konn­te, und ich war der Hoff­nung, dass nach Ende der Feri­en der Krieg vor­über wäre und ich nicht in die Hei­de zurück müsste.

In die­ser Hoff­nung hat­te ich auch alle Sachen, die mir damals gehör­ten, mit­ge­nom­men und räum­te sie am dar­auf fol­gen­den Sonn­tag in alle Ruhe in mei­nem Zim­mer ein. Abends um halb zehn gab es wie immer Flie­ger­alarm, und wir such­ten den im Hau­se befind­li­chen Luft­schutz­kel­ler auf. Mon­tag, der 18. Sep­tem­ber 1944, war wie­der­um ein schö­ner son­ni­ger Herbst­tag, und ich genoss das Gefühl, zu Hau­se zu sein. Abends, gegen halb zehn, gab es wie üblich Flie­ger­alarm, und wir such­ten zusam­men mit den Haus­be­woh­nern den Luft­schutz­kel­ler auf.

Da unser Haus in der Umge­bung eines der größ­ten und wohl sta­bils­ten Häu­ser in der Umge­bung war, hat­te man in einem Bereich des Kel­lers einen soge­nann­ten „Öffent­li­chen Luft­schutz­raum“ mit Gas­schleu­se, Not­aus­gang, Feld­bet­ten, Che­mi­kal­toi­let­ten und allem not­wen­di­gen Zube­hör ein­ge­rich­tet, der ger­ne von den Anwoh­nern des nahe­lie­gen­den, soge­nann­ten Pasch­vier­tels, in dem sich nur klei­ne Häu­ser befan­den, auf­ge­sucht wur­de. Auch kamen oft Mari­ne­sol­da­ten, die sich in den umlie­gen­den Gast­stät­ten in der Ram­sau­er Stra­ße oder bei Café Reh­mann in der Georg­stra­ße auf­hiel­ten, hier­her. Mein Groß­va­ter war zusam­men mit einem Nach­barn, Herrn Dau­els­berg, als Luft­schutz­wart eingesetzt.

Zuerst ver­lief alles ganz nor­mal, und wir nah­men an, dass der Alarm nur den nach Ber­lin oder Ham­burg über der Deut­schen Bucht ein­flie­gen­den Bom­ber­ver­bän­den galt. Die Män­ner aus dem Hau­se und die Mari­ne­sol­da­ten stan­den im Hof vor der Haus­tür, rauch­ten und unter­hiel­ten sich, und ich stand natür­lich dabei. Die Flak schoss Sperr­feu­er, und als nach kur­zer Zeit der Flak­split­ter­re­gen begann, ging man in den Kel­ler zurück.

Das Brum­men der Flug­zeug­mo­to­ren wur­de jedoch unge­wöhn­lich stark, und nach kur­zer Zeit hör­te man die ers­ten Explo­sio­nen der Luft­mi­nen, die von den Bom­bern abge­wor­fen wur­den, um die Dächer auf­zu­rei­ßen und die Häu­ser für den Ein­satz der Brand­bom­ben vor­zu­be­rei­ten. Die Türen der Gas­schleu­sen wur­den geschlos­sen, und man hör­te die Bom­ben­ein­schlä­ge, wobei der Kel­ler­bo­den erzit­ter­te und das Licht fla­cker­te und erlosch. Frau Mül­ler, die bei uns im Hau­se wohn­te und schwer­hö­rig war, schau­te erschro­cken in unse­re Gesich­ter und frag­te, ob es schlimm sei.

Das nächs­te frem­de Geräusch war das Kla­cken der Stab­brand­bom­ben rings um das Haus und das Rol­len der Ben­zin­ka­nis­ter, die anschei­nend auf dem Dach­bo­den und auf dem Hof gelan­det waren. Nach eini­ger Zeit öff­ne­te mein Vater die Türen der Gas­schleu­se, und ich ging mit ihm auf den Kel­ler­gang hin­aus. Alle Fens­ter der Mie­ter­kel­ler waren von außen hell erleuch­tet, es knis­ter­te und ein star­ker Brand­ge­ruch mach­te sich bemerk­bar. Wir gin­gen in den Schutz­raum zurück und war­te­ten, bis die unab­läs­si­gen Explo­sio­nen nachließen.

Nach­dem es ruhi­ger gewor­den war, ging mein Vater aus dem Schutz­raum, um die Lage zu beur­tei­len. Er kam zurück und sag­te, dass das Haus und die Werk­statt in Flam­men stän­den. Eine Flucht über den Hof sei nicht mög­lich, da das dort gela­ger­te Holz, der Wagen­schup­pen und alle Zaun­pfäh­le brann­ten. Er ging noch ein­mal hin­aus, und ich folg­te ihm in unse­re Woh­nung im ers­ten Ober­ge­schoss. Im Trep­pen­haus, das aus einer höl­zer­nen, mit Lin­ole­um beleg­ten Trep­pe bestand, fie­len bereits bren­nen­de Tei­le bis ins Erd­ge­schoss. Ein Zugang zu den obe­ren Geschos­sen war nicht mehr möglich.

In unse­rer Woh­nung im Wohn­zim­mer war bereits ein gro­ßes Loch in der Decke, aus dem bren­nen­de Tei­le auf den polier­ten Wohn­zim­mer­tisch fie­len. Auto­ma­tisch zog mein Vater den Tisch bei Sei­te, da er es wohl als Tisch­ler­meis­ter nicht mit anse­hen konn­te, wie sein Meis­ter­werk ein Raub der Flam­men wur­de. Er rief mir zu, ich sol­le ver­su­chen, was ich an Wert­sa­chen tra­gen und in den Kel­ler brin­gen könn­te. Ich lief in mein Zim­mer, des­sen Fens­ter kei­ne Glas­schei­ben mehr hat­ten und wo sich die Gar­di­nen im ein­set­zen­den Feu­er­sturm auf­bau­sch­ten. Ich ergriff mei­ne Schul­ta­sche und mei­ne über alles gelieb­te Kod­ak Brow­ny, mei­ne 6 x 9 Foto — Box. Wir mach­ten den Weg noch eini­ge Male und brach­ten die Feder­bet­ten und ande­re wich­ti­ge Uten­si­li­en in den Kel­ler hinunter.

Mein Vater for­der­te die anwe­sen­den Mari­ne­sol­da­ten auf, mit nach oben zu kom­men und ret­ten zu hel­fen. Sie wag­ten sich ein­mal mit uns hin­auf, und plötz­lich waren sie ver­schwun­den. Dann war uns der Weg ver­sperrt, da mein Groß­va­ter wohl die Gefahr des bren­nen­den Trep­pen­hau­ses erkannt hat­te und den öffent­li­chen Luft­schutz­raum räu­men ließ. Die Leu­te kamen uns auf der Kel­ler­trep­pe ent­ge­gen und ver­lie­ßen das Haus zur Neu­markt­stra­ße hin durch die inzwi­schen glas­lo­sen Schau­fens­ter unse­res Möbel­ge­schäf­tes, da eine Flucht durch die Haus­tür über den Hof nicht mög­lich war.

Inzwi­schen hat­te sich der Brand des Trep­pen­hau­ses bis ins Erd­ge­schoss hin­ein aus­ge­brei­tet, und es wur­de daher auch für uns Haus­be­woh­ner die höchs­te Zeit, den Luft­schutz­raum zu ver­las­sen, da uns sonst der Weg ins Freie ver­sperrt sein wür­de. Mein Vater sag­te den fünf alten Damen, sie soll­ten ihre Woll­de­cken umhän­gen, das not­wen­digs­te Hand­ge­päck neh­men und ihm fol­gen. Er führ­te uns eben­falls durch das Möbel­ge­schäft und die zer­bro­che­nen Schau­fens­ter auf die Neu­markts­ra­ße. Von dort aus woll­ten wir ver­su­chen, den Neu­markt zu errei­chen, um in den dort vor­han­de­nen Split­ter­grä­ben Schutz zu finden.

Die Stra­ße war durch den Feu­er­schein der bren­nen­den Häu­ser in ein glut­ro­tes Licht getaucht, es hat­te sich ein Feu­er­sturm ent­facht, der einen Fun­ken­re­gen wie glü­hen­de Schnee­flo­cken vor sich her­trieb. Auf den Geh­we­gen und den Fahr­bah­nen steck­ten die Res­te der aus­ge­brann­ten Stab­brand­bom­ben wie Pil­ze im Wald­bo­den. Die zum Schutz umge­häng­ten Decken fin­gen durch den Fun­ken­re­gen sofort an zu schwe­len, und ich ver­such­te mit der blo­ßen Hand die Flo­cken abzu­schüt­teln. Wir erreich­ten die Split­ter­grä­ben, die in Höhe der Max-Died­rich-Stra­ße aus­ge­ho­ben waren und in die sich schon eine Men­schen­men­ge geflüch­tet hatte.

Wir fan­den einen frei­en Platz und ich half den alten Damen über den Schutz­wall in die Grä­ben zu gelan­gen. Um den Neu­markt her­um brann­ten alle Häu­ser, selbst das Dach des Was­ser­tur­mes stand in hel­len Flam­men. Ab und zu hör­te man star­ke Explo­si­ons­ge­räu­sche, und der Feu­er­sturm wur­de immer stär­ker und nahm einem die Luft zum Atmen. Ich wag­te den Weg zum Feu­er­lösch­teich, der sich hin­ter der Markt­hal­le zur Bül­ken­stras­se hin befand, und tauch­te die Woll­de­cken und Taschen­tü­cher dort ein und brach­te sie mei­ner Fami­lie, damit sie Schutz vor dem Fun­ken­re­gen hat­te und die nas­sen Taschen­tü­cher als Atem­schutz nut­zen konn­te. Immer mehr Men­schen kamen aus den anlie­gen­den Stra­ßen geflüch­tet und such­ten Schutz in den Grä­ben, und der Platz wur­de immer enger.

Das Zeit­ge­fühl war mir ver­lo­ren gegan­gen, und die Nacht schien mir end­los zu sein. Im Mor­gen­grau­en ließ der Feu­er­sturm etwas nach, und mein Vater wag­te den Weg zu unse­rem Haus. Er kam zurück und sag­te uns, es sei alles nie­der­ge­brannt, und wir wür­den ver­su­chen, einen Weg ins Freie zu fin­den. Ich lief noch ein­mal zum Feu­er­lösch­teich und durch­näss­te die Woll­de­cken. Wir häng­ten sie uns um und kro­chen aus den Gräben.

Zur Georg­stra­ße hin war uns der Weg durch die noch immer lodern­den Flam­men abge­schnit­ten, also über­quer­ten wir den Neu­markt in Rich­tung Was­ser­turm und gelang­ten über den Schul­hof der All­mers­schu­le zur Klop­stock­stra­ße und von dort zum Geest­e­mün­der Fried­hof. Hier hat­te der Brand nicht so stark gewü­tet, die Luft wur­de rei­ner, und ich begann, unter der nas­sen Woll­de­cke zu frie­ren. Mein Vater mach­te sich auf den Weg zur Hart­wig­stra­ße, wo mein Groß­va­ter einen Schre­ber­gar­ten besaß. Er kam zurück und sag­te, dass das Gar­ten­haus ste­hen geblie­ben war und wir dort Unter­schlupf fin­den wür­den. Wir bega­ben uns dort­hin und tra­fen dort auf mei­nen Groß­va­ter, der auf irgend­ei­nem Weg dort­hin gelangt war und gera­de Kaf­fee zube­rei­tet hat­te. Erschöpft lie­ßen wir uns nie­der, ich leg­te mich auf den Boden und schlief sofort ein.

Als ich gegen Mit­tag erwach­te, spür­te ich ein star­kes Bren­nen in den Augen und im Magen ein Übel­keits­ge­fühl. Mein Vater hat­te den Vor­mit­tag genutzt, um die Lage zu son­die­ren und hat­te dabei fest­ge­stellt, dass die NSV (Natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Volks­wohl­fahrt)  am Ein­gang des Bür­ger­parks auf dem Gelän­de des Café Roux eine Auf­fang­sta­ti­on mit Feld­kü­che und beleg­ten Bro­ten zur Ver­sor­gung ein­ge­rich­tet hatte.

Die Wie­se vor dem Café an der Hart­wig­stra­ße war vol­ler Men­schen, die in der nun war­men Son­ne mit ihren letz­ten Hab­se­lig­kei­ten lager­ten. Ich such­te eine DRK-Sta­ti­on auf und der anwe­sen­de Arzt stell­te bei mir eine Rauch­ver­gif­tung fest und ver­wies mich zur wei­te­ren Behand­lung an eine DRK-Sta­ti­on, die sich im alten Geest­e­mün­der Rat­haus in der heu­ti­gen Klus­smann­stra­ße befin­den soll­te. Ich mach­te mich am Nach­mit­tag auf den Weg dort­hin, durch die Bis­marck­stra­ße, an rau­chen­den Trüm­mern vor­bei und wur­de dort mit Augen­trop­fen behandelt.

Die dar­auf fol­gen­de Nacht ver­brach­ten wir alle im Gar­ten­haus an der Hart­wig­stra­ße. Am nächs­ten Mor­gen mach­te ich mich mit mei­nem Vater auf den Weg zu unse­rem Haus in der Bucht­stra­ße. Wir woll­ten ver­su­chen, in den Luft­schutz­kel­ler zu gelan­gen, um unse­re Sachen zu ber­gen. Die ein­ge­la­ger­ten Koh­len­vor­rä­te in den Mie­ter­kel­lern hat­ten jedoch Feu­er gefan­gen, der gan­ze Kel­ler glüh­te unter den Trüm­mern, und wir konn­ten nicht in den Schutz­raum vor­zu­drin­gen. Erst am nächs­ten Mor­gen gelang es uns zusam­men mit einem Ein­satz­trupp der Mari­ne, einen Zugang zu schaf­fen, und wir fan­den den Schutz­raum dank der ein­ge­bau­ten Abstei­fun­gen bis auf eine ver­brann­te Tür der Gas­schleu­se unver­sehrt vor.

Erinnerungen an den 18. September 1944

Es herrsch­te noch eine gro­ße Hit­ze dort unten, aber wir konn­ten unser Luft­schutz­ge­päck und die geret­te­ten Feder­bet­ten auf die Stra­ße brin­gen. Zu mei­ner gro­ßen Freu­de fand ich auch mei­ne Kod­ak­box unver­sehrt vor, in der sich noch ein Film befand, und ich mach­te ver­bo­te­ner­wei­se die anlie­gen­den Auf­nah­men von unse­rem Haus und der Umgebung.

Die Mari­ner durch­such­ten auch die Räu­me des öffent­li­chen Schutz­rau­mes und fan­den dort eine Lei­che, die dann als der Nacht­wäch­ter des gegen­über­lie­gen­den Kinos „Metro­pol“ iden­ti­fi­ziert wur­de. Er muss­te sich nach unse­rem Ver­las­sen der Schutz­räu­me dort­hin geflüch­tet haben und war dann dort erstickt. Es war die ers­te Lei­che, die ich mei­nem Leben sah, und es hat mich sehr erschüttert.

Die NSV orga­ni­sier­te die Eva­ku­ie­rung der obdach­lo­sen Ein­woh­ner in die umlie­gen­den Dör­fer und mei­ne Groß­el­tern gelang­ten dadurch in den Ort Hei­ne bei Stub­ben. Mei­ne Fami­lie und ich fan­den dann nach eini­gen Tagen Quar­tier bei einer befreun­de­ten Fami­lie in der Elsäs­ser Stra­ße, bei der wir die nächs­ten vier Jah­re gewohnt haben.
Bre­mer­ha­ven, im Juli 2004 | Erich Sturk

Vie­len Dank an Herrn Erich Sturk, dass er die Leser des Deich­SPIE­GELS an sei­nen Erin­ne­run­gen teil­ha­ben lässt.

Leher Platz — Siegesplatz — Platz der NSDAP — Freigebiet

Der im heu­ti­gen Bre­mer­ha­ven als “Frei­ge­biet” bezeich­ne­te Platz mar­kier­te schon gegen Ende der 1820er Jah­re die nord­öst­li­che Gren­ze Bre­mer­ha­vens. Die Grenz­stra­ße war die letz­te Stra­ße, die zu Bre­mer­ha­ven gehör­te. Sie mün­de­te in den erst im Jah­re 1861 ange­leg­ten “Leher Platz”. Hier ver­ließ die von Bre­mer­ha­ven nach Brem­erle­he füh­ren­de Chaus­see  das Bre­mer­ha­ve­ner Gebiet. An der Han­na­stra­ße begann das han­no­ver­sche Lehe, das nach dem Deut­schen Krieg im Jah­re 1866 preu­ßisch wurde.

Leher Platz – Siegesplatz – Platz der NSDAP – Siegesplatz –Freigebiet

Der Name “Leher Platz” soll­te aber nicht lan­ge bei­be­hal­ten wer­den. Am 3. Novem­ber 1888 wur­de er in “Sie­ges­platz” umge­tauft. Doch schon wesent­lich frü­her, am “Sedan­tag” des Jah­res 1876, wur­de auf die­sem Platz eine Grün­an­la­ge ange­legt, in deren Mit­te ein bron­ze­nes “Sie­ges­denk­mal” errich­tet wur­de. Es war ein Krie­ger­denk­mal, das an den Sieg und an die vier im Deutsch-Fran­zö­si­schen Krieg von 1870/71 gefal­le­nen Söh­ne Bre­mer­ha­vens erin­nern soll­te, die ihre Pflicht­treue im Kampf gegen den Erb­feind mit dem Tod fürs Vater­land bezahl­ten. Im Jah­re 1938 muss­te das Denk­mal, ein Obe­lisk aus rot­brau­nem Gra­nit, der neu­en Tras­se der Stra­ßen­bahn wei­chen. Es wur­de zum Bür­ger­meis­ter-Mar­tin-Don­andt-Platz verbannt.

Steele

Wenn man heu­te ver­ste­hen will, war­um zu jener Zeit im Krieg getö­te­te Sol­da­ten als Hel­den gefei­ert wur­den, muss man weit in die Geschich­te zurück­bli­cken. Wer mag, den lade ich herz­lich ein, sich mit mir auf eine (ober­fläch­li­che) Rei­se in die deut­sche Ver­gan­gen­heit zu begeben:

In den Frei­heits­krie­gen 1813 – 1815 hat­ten vie­le deut­sche Stu­den­ten begeis­tert gegen Napo­le­on mit­ge­kämpft. End­lich, so hoff­ten sie nach dem Sieg über Napo­le­on, end­lich wird sich ihr Wunsch nach einem geein­ten Deutsch­land erfüllen.

Zu ihrer gro­ßen Ent­täu­schung lehn­ten die euro­päi­schen Groß­mäch­te auf dem Wie­ner Kon­gress die Bil­dung eines gro­ßen deut­schen Staa­tes ab. Und die deut­schen Fürs­ten woll­ten über sich kei­nen star­ken deut­schen Kai­ser dul­den. Statt des ersehn­ten Deut­schen Rei­ches gab es nur einen losen “Deut­schen Bund” mit 35 Fürs­ten­tü­mern und vier frei­en Städten.

Vie­le Stu­den­ten gaben sich damit nicht zufrie­den. Sie kämpf­ten für die natio­na­le Ein­heit und tru­gen stolz die schwarz-rot-gol­de­nen Far­ben, die zum Sym­bol deut­scher Ein­heit und Frei­heit wur­den. Die deut­schen Regie­run­gen über­wach­ten Uni­ver­si­tä­ten, zen­sier­ten Zei­tun­gen und Schrif­ten und unter­drück­ten mit Gewalt alle frei­heit­li­chen und natio­na­len Bewegungen.

Wie in ganz Euro­pa lehn­ten sich die Men­schen auch in Deutsch­land gegen die poli­ti­sche und sozia­le Unter­drü­ckung auf. 1848 erreich­ten die Revo­lu­tio­nen auch Ber­lin, weil der preu­ßi­sche König Fried­rich Wil­helm IV. den Bür­gern die ver­spro­che­ne Ver­fas­sung nicht mehr geben wollte.

In Frank­furt am Main soll­te eine gesamt­deut­sche  Natio­nal­ver­samm­lung zusam­men­tre­ten, um einen ein­heit­li­chen deut­schen Staat zu schaf­fen und die­sem eine Ver­fas­sung zu geben. Der König von Preu­ßen soll­te Deut­scher Kai­ser wer­den. Fried­rich Wil­helm IV. lehn­te die ihm ange­tra­ge­ne Kai­ser­kro­ne aber ab. Damit war Schaf­fung eines Deut­schen Rei­ches wie­der gescheitert.

Bis­marck woll­te alle deut­schen Staa­ten in einem Deut­schen Reich ver­ei­nen. Es soll­te aber die “klein­deut­sche Lösung” wer­den, also ein Deut­sches Reich ohne Öster­reich. Preu­ßen soll­te die stärks­te Macht in Deutsch­land werden.

Nach dem Deutsch-Däni­schen Krieg (1864) und dem Deut­schen Krieg (1866) hat­te Bis­marck sein Ziel erreicht. Öster­reich muss­te aus dem Deut­schen Bund aus­tre­ten. Han­no­ver, Kur­hes­sen, die Land­graf­schaft Hes­sen-Hom­burg, Nas­sau, die Freie Reichs­stadt Frank­furt am Main und Schles­wig-Hol­stein wur­den in Preu­ßen ein­ge­glie­dert. In Bre­mer­ha­ven besetz­ten preu­ßi­sche Trup­pen die Forts von Bre­mer­ha­ven. Preu­ßen ist der mäch­tigs­te Staat in Deutsch­land gewor­den und schloss am 18. August 1866 mit den ver­blie­be­nen Staa­ten nörd­lich des Mains den “Nord­deut­schen Bund”.

Schlacht von Sedan

Nach einer von Bis­marck her­bei­ge­führ­ten diplo­ma­ti­schen Kri­se erklär­te Frank­reich im Jah­re 1870 Preu­ßen den Krieg. Die patrio­ti­sche Begeis­te­rung in Deutsch­land war groß, und die Trup­pen der süd­deut­schen Staa­ten Baden, Bay­ern und Würt­tem­berg, die mit Preu­ßen gehei­me Bünd­nis­se geschlos­sen hat­ten,  mar­schier­ten in Frank­reich ein. In der für sie sieg­rei­chen Schlacht von Sedan wur­de der fran­zö­si­sche Kai­ser gefan­gen­ge­nom­men. Mit der Ein­nah­me von Paris durch die deut­schen Trup­pen wur­de der Krieg beendet.

Noch vor Been­di­gung des Krie­ges grün­de­te Bis­marck aus den König­rei­chen Preu­ßen, Bay­ern, Würt­tem­berg und Sach­sen, sechs Groß­her­zog­tü­mern, fünf Her­zog­tü­mern, sie­ben Fürs­ten­tü­mern und den drei Frei­en Han­se­städ­te Ham­burg, Bre­men und Lübeck ein Deut­sches Reich unter der Füh­rung von Preu­ßen. Die süd­deut­schen Staa­ten wil­lig­ten ein, dass der Nord­deut­sche Bund künf­tig den Namen “Deut­sches Reich” tra­gen soll, sein Ober­haupt den Titel “Deut­scher Kaiser”.

Am 18. Janu­ar 1871 war es end­lich soweit. An die­sem Tag fand im Spie­gel­saal des Schlos­ses zu Ver­sailles die fei­er­li­che Pro­kla­ma­ti­on des deut­schen Kai­sers statt. Das deut­sche Volk sah sei­ne natio­na­len Wün­sche als erfüllt an. Und der Sieg über die Fran­zo­sen wur­de vie­ler­orts als Ver­gel­tung für die Knech­tung in der napo­leo­ni­schen Fran­zo­sen­zeit emp­fun­den wor­den sein.

Blut und Begeis­te­rung waren die Zuta­ten, aus denen das neue Kai­ser­reich ent­stand. End­lich Frank­reich besiegt, end­lich ein ein­heit­li­ches deut­sches Reich! Das deut­sche Volk war eupho­risch. Frank­reich wur­de geschla­gen, man hat­te einen Kai­ser und das deut­sche Kai­ser­reich schick­te sich an, zu einer füh­ren­den Indus­trie­macht auf­zu­stei­gen. Die Deut­schen wur­den selbst­be­wusst und über­heb­lich gegen­über ande­ren Natio­nen. Sie waren stolz auf ihren neu­en Staat. Orden und Uni­for­men präg­ten das Straßenbild.

Die Fran­zo­sen muss­ten die unge­heu­re Sum­me von fünf Mil­lio­nen Francs als Ent­schä­di­gung zah­len. In plom­bier­ten Zug­wag­gons wur­den die Sil­ber­mün­zen in das Deut­sche Reich gekarrt — und ent­fes­sel­ten die Wirt­schaft des jun­gen Staa­tes und die Gier sei­ner Bür­ger. Die Zeit der Grün­der (Grün­der­zeit) begann. Und soll­te gut 30 Mona­te spä­ter schon wie­der vor­bei sein. Am 10. Okto­ber 1873 stürz­ten die Akti­en­kur­se, dann stürz­te die Ber­li­ner Quistorp’sche Ver­eins­bank, und schließ­lich tau­mel­ten die Men­schen dem Abgrund entgegen…

Siegesplatz

Einen Natio­nal­fei­er­tag gab es im Deut­schen Kai­ser­reich noch nicht. Als patrio­ti­scher Fei­er­tag wur­de statt des­sen zum Geden­ken an die Kapi­tu­la­ti­on der fran­zö­si­schen Armee nach der Schlacht bei Sedan jedes Jahr am 2. Sep­tem­ber der “Sedan­tag” gefei­ert. Die jähr­li­che Fei­ern am “Sedan­tag” hiel­ten im Volk die Erin­ne­run­gen an die Demü­ti­gung Frank­reichs auf­recht. An die­sem Tag wur­den über­all im Deut­schen Kai­ser­reich an zen­tra­len Plät­zen Sie­ges­denk­mä­ler errich­tet und fei­er­lich ein­ge­weiht. Jede Stadt wett­ei­fer­te unter sich in der Pro­duk­ti­on von Schau­stü­cken und Mahn­fei­ern über den gro­ßen Sieg.

Der “Sedan­tag” wur­de nie zum offi­zi­el­len Fei­er­tag erklärt und nach dem ver­lo­re­nen Ers­ten Welt­krieg am 27. August 1919 abgeschafft.

Siegesplatz

In Bre­mer­ha­ven behielt der “Sie­ges­platz” aber noch bis 1933 sei­nen Namen. Das von Bis­marck so müh­sam errich­te­te Kai­ser­reich gab es längst nicht mehr, und auch die am 9. Novem­ber 1918 aus­ge­ru­fe­nen Wei­ma­rer Repu­blik war schon wie­der in das Dun­kel deut­scher Geschich­te abge­taucht, als der Sie­ges­platz in jenem Jahr umge­tauft wur­de in “Platz der NSDAP”. Die­sen “schö­nen” Namen behielt der Platz bis 1945. Dann ging er mit­samt sei­nen Namens­ge­bern unter. Und trotz des ver­lo­re­nen Krie­ges bekam er – wel­che Iro­nie — sei­nen alten Namen “Sie­ges­platz” zurück.

Im Jah­re 1949 muss­ten die Anwoh­ner aber­mals neue Visi­ten­kar­ten dru­cken las­sen. Die Stadt­vä­ter besan­nen sich, dass es mit dem Sie­gen ja wohl vor­bei war und tauf­ten den “Sie­ges­platz” noch ein­mal um. Zur Erin­ne­rung an die Zeit bis 1888, als der süd­lichs­te Teil von Lehe, das soge­nann­te Frei­ge­biet, als Zoll­aus­land an Bre­mer­ha­ven ange­schlos­sen und von zwei Zoll­häu­sern bewacht war, bekam der Platz sei­nen heu­ti­gen Namen “Frei­ge­biet”.
Quel­len:
Fritz Stern: Gold und Eisen – Bis­marck und sein Ban­kier Bleich­rö­der, Sei­te 208 + 209
Her­bert Kört­ge: Die Stra­ßen­na­men der  See­stadt Bre­mer­ha­ven, Sei­te 88
H. und R. Gab­cke und Kört­ge: Bre­mer­ha­ven frü­her, ges­tern, heu­te, Sei­te 52
Har­ry Gab­cke: Bre­mer­ha­ven in zwei Jahr­hun­der­ten 1827–1918, Sei­te 147
Har­ry Gab­cke: Bre­mer­ha­ven in alten Ansich­ten, Sei­te 38
Gert Schlech­triem: Bre­mer­ha­ven in alten Ansichts­kar­ten, Sei­ten 46, 48, 49
Dr. Hans Heu­mann Unser Weg durch die Geschich­te, Hirsch­gra­ben-Ver­lag
Her­mann Schrö­der: Geschich­te der Stadt Lehe, Sei­ten 540 und 542
Georg Bes­sel: Geschich­te Bre­mer­ha­vens, Sei­ten 451, 509
Rogasch und Scri­ba Die Reichs­grün­dung 1871,
Leben­di­ges Muse­um Online
GEO EPOCHE: Otto von Bis­marck 1815–1898, Sei­ten 92 und 94

 

Die H. F. Kistner Baugesellschaft

Die H. F. Kist­ner Baugesellschaft

Die H. F. Kist­ner Bau­ge­sell­schaft wur­de 1853 gegrün­det. Über ein­hun­dert Jah­re war sie so eng mit der See­stadt ver­knüpft, dass sie wohl noch heu­te jeder Bre­mer­ha­ve­ner Bür­ger kennt. Doch wer war der Fir­men­grün­der? Und wer waren sei­ne Nachfolger?

Die H. F. Kistner Baugesellschaft

Als Hein­rich Fried­rich Kist­ner sich im Jah­re 1842 von sei­nem Hei­mat­ort Hud­des­torf an der Mit­tel­we­ser in das erst 15 Jah­re zuvor gegrün­de­te Bre­mer­ha­ven auf­mach­te, war er gera­de mal 16 Jah­re alt. Eigent­lich woll­te er sich in Bre­mer­ha­ven nicht lan­ge auf­hal­ten. Wie vie­le ande­re Men­schen in jenen Jah­ren, so hat­te auch Hein­rich Fried­rich Kist­ner Auswanderungspläne.

Zunächst aber absol­vier­te der 20-Jäh­ri­ge eine Mau­rer­leh­re bei Mau­rer­meis­ter Jacob Eits. Er schloss sei­ne Aus­bil­dung erfolg­reich ab, ver­lob­te sich mit sei­ner Hen­ri­et­te und woll­te nun schnell mit sei­nen bereits bezahl­ten Tickets nach Rich­mond in die USA. Aber die Umstän­de woll­ten es, dass der Paket­seg­ler sich ohne die jun­gen Leu­te auf die Rei­se mach­te – die Aus­steu­er war nicht fer­tig geworden.

Hein­rich Fried­rich Kist­ner blieb in Bre­mer­ha­ven und leg­te mit 27 Jah­ren sei­ne Prü­fung zum Mau­rer­meis­ter ab. Er erkann­te, dass es hier in der auf­stre­ben­den Hafen­stadt für gute Bau­hand­wer­ker genug Arbeit gab. Als die Gemein­de Lehe ihm das Bür­ger­recht ver­lieh, ver­folg­te Hein­rich Fried­rich sei­ne Aus­wan­de­rungs­plä­ne nicht wei­ter und grün­de­te im Jah­re 1853 in der Leher Post­stra­ße  sei­ne Bau­fir­ma H. F. Kistner.

Die H. F. Kistner Baugesellschaft

Zu sei­nen ers­ten Arbei­ten gehör­ten Häu­ser, die der Werft­be­sit­zer Cla­sen Rick­mers für sei­ne Arbei­ter und Ange­stell­ten in Auf­trag gab sowie das Pri­vat­haus an der Ecke Deich- und Keil­stra­ße für den Kauf­mann Dani­el Claus­sen. Beson­ders gro­ße Auf­merk­sam­keit hat er mit sei­nen Arbei­ten an der Bür­ger­meis­ter-Smidt-Gedächt­nis-Kir­che auf sich gezo­gen. Man lob­te ihn damals, dass er “auch die gefähr­lichs­ten Arbei­ten an dem schlan­ken Turm mit sei­ner kunst­voll durch­bro­che­nen Spit­ze in Ruhe und Beson­nen­heit aus­ge­führt” hat.

Bald hat­te Mau­rer­meis­ter Kist­ner genü­gend Geld zum Bau eines eige­nen Hau­ses ange­spart. Er erstell­te es auf dem Süd­er­feld an der Post­stra­ße und bezog es im Mai 1860 mit sei­ner Frau Hen­ri­et­te und sei­nem am 12.04.1855 gebo­re­nen ältes­ten Sohn Carl. Am 19.07.1860 wur­de Johann, der zwei­te Sohn, gebo­ren. Hein­rich kam am 17.11.1863 als drit­tes Kind hin­zu. Und im Sep­tem­ber 1865 mach­te schließ­lich Theo­dor das Quar­tett voll.

Im Jah­re 1868 erwarb Mau­rer­meis­ter H. F. Kist­ner das an der Ecke Hafen­stra­ße und der spä­te­ren Kist­ner­stra­ße ste­hen­de Haus mit dem Gelän­de der still­ge­leg­ten Zie­ge­lei von Johann Krü­ger. Er bau­te hier wei­te­re Häu­ser hin, aus denen bald eine neue Stra­ße wur­de, die im Mai 1890 auf­grund eines Magis­trats­be­schlus­ses den Namen “Kist­ner­stra­ße” erhielt.

Hafenstraße 52 um 1870

Schließ­lich erwarb der Betrieb H. F. Kist­ner ein zwi­schen der Hafen­stra­ße und dem Geest­edeich bele­ge­nes Gelän­de. Hier­auf bau­te der Mau­rer­meis­ter das Wohn­haus Hafen­stra­ße 58, in das er im Herbst 1870 mit sei­ner Fami­lie ein­zog und bis zu sei­nem Tode bewohn­te. Das Haus ent­wi­ckel­te sich zum Mit­tel­punkt des Betrie­bes und war noch bis lan­ge nach dem Zei­ten Welt­krieg die Zen­tra­le und das Haupt­kon­tor der H. F. Kist­ner Baugesellschaft.

Kon­se­quen­ter­wei­se ver­leg­te Mau­rer­meis­ter Kist­ner im Jah­re 1870 auch sei­nen Fir­men­sitz hier­her in die süd­li­che Hafen­stra­ße, wo sich bereits ande­re Betrie­be der Bau­bran­che (zum Bei­spiel das Holz­sä­ge­werk W. Rog­ge und die Kalk­bren­ne­rei Wilms) mit ihren Lager­plät­zen ange­sie­delt hat­ten. Der Stand­ort war ide­al — die Hafen­stra­ße und die rück­wär­ti­ge Gees­te boten eine her­vor­ra­gen­de Verkehrsanbindung.

In die­sen Jah­ren hat die Fir­ma Kist­ner das Bre­mer­ha­ve­ner Stadt­bild ent­schei­dend mit­ge­prägt. Vie­le Kist­ner­bau­ten erkennt man an den mit tief­ro­ten Zie­geln ver­blen­de­ten Häu­ser­fas­sa­den. Bei­spie­le hier­für sind die Kaser­ne der Matro­sen-Artil­le­rie von 1886 – 1887 und die bei­den Häu­ser an der Hafen­stra­ße Ecke Kist­ner­stra­ße. Auch an dem Aus­bau des Geschäfts- und Wohn­vier­tels an der Kai­ser­stra­ße (heu­ti­ge “alte Bür­ger”) hat­te die H. F. Kist­ner Bau­ge­sell­schaft einen erheb­li­chen Anteil.

Blick von der Hafenstraße in die Kistnerstraße

Auch die Luthe­ri­sche Kreuz­kir­che, die Koch­sche Töch­ter­schu­le, das Mari­en­bad und das Gym­ny­si­um an der Pra­ger Stra­ße (frü­her Grü­ne Stra­ße) gehört zu den vie­len ande­ren Bau­ten, an denen die Fir­ma H. F. Kist­ner vor der Wen­de vom 19. zum 20. Jahr­hun­dert gear­bei­tet hat und die von der Leis­tungs­kraft der H. F. Bau­ge­sell­schaft Zeug­nis ablegten.

Auch die Kreuz­kir­che, das Hafen­haus, das spä­te­re Stadt­haus, ver­schie­de­ne Was­ser­tür­me, die gro­ße Maschi­nen­hal­le des Nord­deut­schen Lloyd, die Leucht­tür­me “Mey­ers Leg­de” und “Evers Sand”, der Aus­bau des Fische­rei­ha­fens in den Jah­ren 1891 bis 1896 und die Erwei­te­rung des Kai­ser­ha­fens mit der Kai­ser­schleu­se in den Jah­ren 1892 bis 1897 blei­ben auf immer mit dem Namen H. F. Kist­ner verbunden.

Die H. F. Kistner Baugesellschaft

Spä­ter als ande­re Unter­neh­mer, die in die­sen Jah­ren schon in ihren statt­li­chen Vil­len an der Hafen­stra­ße wohn­ten, errich­te­te Johann Kist­ner sei­ne heu­te denk­mal­ge­schütz­te Vil­la. Sie wur­de erst im Jah­re 1897 nah an H. F. Kist­ners Lager­platz an der Gees­te gebaut und erhielt die Anschrift “Hafen­stra­ße 50” zuge­teilt. Das prunk­vol­le Gebäu­de mit sei­ner reich ver­zier­ten Fas­sa­de ließ kei­nen Zwei­fel auf­kom­men: Dies ist das Domi­zil eines über­aus erfolg­rei­chen Geschäftsmannes.

16_Hafenstraße 60

Carl Kist­ner indes­sen war Eigen­tü­mer des an der Hafen­stra­ße 60 Ecke Werft­stra­ße bele­ge­nem reprä­sen­ta­ti­ven Wohn­hau­ses. Eine der Woh­nun­gen   war an den Werft­di­rek­tor Max Rind­fleisch, von 1910 bis zu sei­nem Tode 1930 Lei­ter der Schich­au Unter­we­ser AG, ver­mie­tet.  Nach dem Tode von Carl Kist­ner im Jah­re 1918 ging das Gebäu­de zeit­wei­se in den Besitz der Schich­au Unter­we­ser AG über. Wei­te­re lei­ten­de Werft­an­ge­stell­te fan­den in dem Haus eine Woh­nung. Ende der 1960er Jah­re wur­de es abge­ris­sen. Auf dem Grund­stück ent­stand der neue Kistner-Baumarkt.

Patentschrift Kalksandstein

Die Indus­tria­li­sie­rung im 19. Jahr­hun­dert brach­te rie­si­ge Bau­auf­ga­ben mit sich. So war es nicht ver­wun­der­lich, dass man danach such­te, wie man Stei­ne aus Kalk­mör­tel her­stel­len kann.  Schon im Jah­re 1854 press­te der deut­sche Arzt und Natur­wis­sen­schaft­ler Dr. Anton Bern­har­di mit einer höl­zer­nen Hebel­pres­se den ers­ten gehär­te­ten Kalk­mör­tel­stein. Aber die Stei­ne waren nicht fest genug. Es soll­te noch eini­ge Jah­re dau­ern, bis der Bau­stoff­che­mi­ker Dr. Wil­helm Michae­lis im Jah­re 1880 den ers­ten brauch­ba­ren Kalk­sand­stein her­stel­len konn­te. Nun woll­te man die Kalk­sand­stei­ne indus­tri­ell in gro­ßen Men­gen her­stel­len. 1894 wur­de im schles­wig-hol­stei­ni­schen Neu­müns­ter eine aus Eng­land impor­tier­te Pres­se auf­ge­stellt, die drei Arbeits­gän­ge — Fül­len, Pres­sen und Aus­sto­ßen – selb­stän­dig aus­führ­te. Es war der Beginn der indus­tri­el­len Pro­duk­ti­on des Kalk­sand­stei­nes, der sich nun in ganz Deutsch­land als neu­er Bau­stoff eta­blier­te. In den Jah­ren 1898 und 1899 nah­men wei­te­re Wer­ke in Deutsch­land – und damit welt­weit – ihre Arbeit auf.

Briefkopf der Firma H. F. Kistener

Auch H. F. Kist­ner erkann­te die neu­en Mög­lich­kei­ten, die der Kalk­sand­stein bot. Nach­dem er im Jah­re 1895 sei­ne Bau­fir­ma um eine Bau­stoff­hand­lung erwei­ter­te, erwarb er im Jah­re 1904 fol­ge­rich­tig eine Lizenz, um selbst Kalk­sand­stei­ne her­stel­len zu dür­fen. Das soll­te ihn unab­hän­gig von frem­den Lie­fe­ran­ten machen. Die Hart­stein­pres­se und den Dampf­druck­be­häl­ter bestell­ten die Fir­men­in­ha­ber Carl und Hein­rich Kist­ner bei der Maschi­nen­fa­brik Franz Kom­nick in der ost­preu­ßi­schen Han­se­stadt Elbing.

Produktionsprozess im Kalksandsteinwerk

Im glei­chen Jahr ver­kauf­te der Leher Magis­trat an die Fir­ma Kist­ner einen Teil des kom­mu­na­len Lade- und Lösch­plat­zes. Die­ser Platz wur­de erst im Jahr zuvor zwi­schen der Gees­te und der damals bereits aus­ge­bau­ten Werft­stra­ße ange­legt. Er erstreck­te sich von der Aue­mün­dung im Osten und wur­de im Wes­ten vom Grund­stück der Fir­ma Kist­ner begrenzt. Auf die­sem Platz errich­te­te die Fir­ma Kist­ner in den Jah­ren 1903 und 1904 ein Kalk­sand­stein­werk. Die Kapa­zi­tä­ten des Wer­kes waren groß genug, um über den eige­nen Bedarf hin­aus auch die Nach­fra­ge der ande­ren in den Unter­we­ser­or­ten ansäs­si­gen Bau­un­ter­neh­mun­gen zu befriedigen.

Zu jenem Zeit­punkt war der Kalk­sand­stein noch kein von den Bau­ord­nungs­äm­tern aner­kann­tes Bau­ma­te­ri­al. Obwohl Kalk­sand­stei­ne inner­halb einer ver­hält­nis­mä­ßig kur­zen Zeit eine gro­ße Ver­brei­tung gefun­den haben, hat­te man über die Eigen­schaf­ten nur weni­ge oder zum Teil sogar fal­sche Infor­ma­tio­nen. Mit dem Bau­we­sen befass­te Unter­neh­men rich­te­ten an das König­li­che Mate­ri­al­prü­fungs­amt den Wunsch, die Ergeb­nis­se von Kalk­sand­stein­prü­fun­gen zu ver­öf­fent­li­chen und umfas­sen­de Aus­künf­te über die bau­tech­ni­schen Eigen­schaf­ten der Kalk­sand­stei­ne zu ertei­len. So erschien im Jah­re 1908 das Buch “Die Prü­fung und die Eigen­schaf­ten der Kalk­sand­stei­ne”.

Prüfung und Eigenschaften der Kalksandsteine

Das Zen­tral­blatt der Bau­ver­wal­tung berich­te­te  in sei­ner Aus­ga­be Nr. 24 unter der Rubrik “Ver­samm­lung der Ver­ei­ne im Bau­stoff­ge­wer­be” unter ande­rem über die in der Zeit vom 1. bis 12. März 1909 statt­ge­fun­de­ne  Jah­res­haupt­ver­samm­lung des Ver­eins der Kalk­sand­stein­fa­bri­ken. Auf die­ser Ver­samm­lung sei leb­haft über die Angrif­fe geklagt wor­den, die der Kalk­sand­stein von den Zie­ge­lei­be­sit­zern erdul­den muss­te. In meh­re­ren  Fäl­len  habe der  Ver­ein  zur  gericht­li­chen  Kla­ge  schrei­ten müs­sen  und  hier­bei obsie­gen­de  Urtei­le  erzielt.

Verein Kalksandsteinfabriken

Aber H. F. Kist­ner ließ sich nicht beir­ren. Er erkann­te als einer der ers­ten Bau­un­ter­neh­mer an der Unter­we­ser das gro­ße Poten­ti­al die­ses noch rela­tiv jun­gen Bau­stof­fes. Sein Bau­ge­schäft gehör­te zu der Grün­dungs­ge­nera­ti­on der Kalk­sand­stein­in­dus­trie in Deutsch­land. Im Jah­re 1905 gab es in Deutsch­land bereits 209 Kalk­sand­stein­wer­ke, die jähr­lich mehr als eine Mil­li­ar­de Kalk­sand­stei­ne produzierten.

Aller­dings lohn­te sich der Ver­trieb der Stei­ne nur in einem regio­nal begrenz­ten Umfeld einer Fabrik, da die Kos­ten für wei­te Trans­por­te zu hoch waren. So lagen die Fabri­ken über ganz Deutsch­land ver­streut. In Lehe pro­du­zier­te das Bau­ge­schäft H. F. Kist­ner die Kalk­sand­stei­ne. Jähr­lich ver­lie­ßen bis zu 20 Mil­lio­nen Stei­ne  die Fabrik und wur­den in die gesam­te Unter­we­ser­re­gi­on ausgeliefert.

Flussschiffer an der Geestekaje

Den für die Her­stel­lung der Kalk­sand­stei­ne erfor­der­li­chen Sand brach­ten Fluss­schif­fer her­bei. In den Anfangs­jah­ren wur­de als Lösch­platz ein­fach die Ufer­bö­schung benutzt. Spä­ter wur­de unmit­tel­bar neben der Fabrik eine Kaje gebaut. An der wur­de der aus Sand­stedt her­bei­ge­schaff­te Weser­sand per Kran aus dem Schiff gelöscht. Etwa ab 1985 wur­de sämt­li­ches Mate­ri­al per Lkw ange­lie­fert – seit­her ist der Schiffs­an­le­ger ver­waist und auch an der Gees­te die Zeit der Fluss­schif­fer vorbei.

Bremerhaven, Hafenstrasse 44 - 48

Bei der Pro­duk­ti­on der Kalk­sand­stei­ne zeig­te sich die gan­ze Krea­ti­vi­tät des Bau­ge­schäf­tes H. F. Kist­ner. Nach­dem der Nach­bar­be­trieb der Fir­ma Rog­ge in Flam­men auf­ging, sie­del­te die Fir­ma Rog­ge nach Bre­mer­ha­ven um. Wie­der nutz­te die Fir­ma Kist­ner die Gunst der Stun­de und über­nahm einen gro­ßen Teil des Rog­ge­ge­län­des. Wer­be­wirk­sam bebau­te die Fir­ma Kist­ner in den Jah­ren 1905 und 1906 die Grund­stü­cke Hafen­stra­ße 44 – 48 mit Häu­sern voll­stän­dig aus Kalk­sand­stein und las­te­te damit gleich­zei­tig die Pro­duk­ti­ons­ka­pa­zi­tä­ten des Unter­neh­mens aus.

Hinrich-Schmalfeld-Straße, Bremerhaven

In der Fol­ge­zeit bau­te die Fir­ma Kist­ner wei­te­re Kalk­sand­stein­häu­ser. Oft­mals wur­den die Fas­sa­den nicht mehr ver­putzt, son­dern mit roten, gel­ben oder auch blau ein­ge­färb­ten Stei­nen gemau­ert, etwa bei einem Sei­ten­flü­gel des Leher Amts­ge­richts und beim Neu­bau der Indus­trie- und Han­dels­kam­mer Geest­e­mün­de. Immer bestrebt, den Kalk­sand­stein an der Unter­we­ser zu eta­blie­ren, errich­te­te die Fir­ma H. F. Kist­ner wei­te­re archi­tek­to­nisch reprä­sen­ta­ti­ve Bau­ten. In der Gil­de­meis­ter­stra­ße ent­stan­den moder­ne Vil­len aus Kalk­sand­stein und in der Hin­rich-Schmal­feld-Stra­ße wur­de für den Beam­ten- Bau- und Woh­nungs­ver­ein zu Lehe eine gro­ße Wohn­an­la­ge mit die­sem neu­en Bau­ma­te­ri­al gemauert.

Bremerhaven, Hafenstrasse 57

Im Jah­re 1908 errich­te­te die Fir­ma H. F. Kist­ner das Wohn- und Geschäfts­haus Hafen­stra­ße 174 (heu­te: 57) ganz aus Kalk­sand­stein. Am 12. August 1911 brach im Dach­stuhl des Hau­ses ein Feu­er aus, das die Feu­er­wehr aber schnell unter Kon­trol­le bekam und auf den Dach­stuhl begren­zen konn­te. Gleich­wohl wuss­te die Fir­ma Kist­ner den Brand wer­be­wirk­sam zu ver­mark­ten. Noch elf Jah­re spä­ter — im Jah­re 1922 — wur­de in einer Wer­be­an­zei­ge an das Feu­er erin­nert mit dem Hin­weis, dass sämt­li­che aus Kalk­sand­stein gemau­er­ten Gie­bel und Schorn­stei­ne der Hit­ze und der Was­ser­be­strah­lung stand­ge­hal­ten haben.

Fachzeitschrift H. F. Kistner, Baugeschäft

Im Jah­re 1903 konn­te die Fir­ma Kist­ner ihr 50-jäh­ri­ges Betriebs­ju­bi­lä­um fei­ern, und Hein­rich Fried­rich Kist­ner zog sich auf das Alten­teil zurück. 1905 wur­de die als offe­ne Han­dels­ge­sell­schaft ein­ge­tra­ge­ne Fir­ma in eine GmbH umge­wan­delt. Der Fir­men­na­me lau­te­te nun für eine Wei­le “H. F. Kist­ner Bau­ge­schäft G.m.b.H.” und wur­de spä­ter in “H. F. Kist­ner Bau­ge­sell­schaft” geän­dert. Als Hein­rich Fried­rich Kist­ner im Jah­re 1907 im 81. Lebens­jahr starb, über­nah­men die Söh­ne Carl und Hein­rich die Füh­rung der GmbH.

Wie sein Vater hat­te auch Carl eine Aus­bil­dung zum Mau­rer absol­viert und sei­ne Kennt­nis­se auf der Nien­bur­ger Bau­ge­wer­be­schu­le ver­tieft. Als Hos­pi­tant hat er sich auf der Tech­ni­sche Hoch­schu­le Han­no­ver wei­ter qua­li­fi­ziert. Von 1908 bis 1910 beklei­de­te Carl Kist­ner den Pos­ten des Vor­sit­zen­den des am 10.12.1900 in Ber­lin gegrün­de­ten Haupt­ver­ban­des der Kalk­sand­stein­in­dus­trie. Hein­rich erlern­te eben­falls das Mau­rer­hand­werk und ging nach Bux­te­hu­de, um auf der dor­ti­gen Bau­ge­werk­schu­le zu stu­die­ren. Sein Spe­zi­al­ge­biet wur­de der Tiefbau.

Wenn auch das Kistner’sche Kalk­sand­stein­werk flo­rier­te, so blieb doch das Bau­hand­werk der Haupt­ge­schäfts­zweig des Unter­neh­mens. An der Unter­we­ser war die Fir­ma Kist­ner das ers­te Unter­neh­men, das sich mit mit dem Eisen­be­ton­bau befass­te. Zwi­schen 1914 und 1918 lie­fer­te H. F. Kist­ner respek­ta­ble Arbei­ten ab:  Neben der Neu­an­la­ge von Bahn­kör­pern, Bahn­hö­fen und Unter­füh­run­gen in Lehe und Geest­e­mün­de konn­te H. F. Kist­ner auch an sei­ne Arbei­ten am Kran­ken­haus Lehe, am Schlacht- und Vieh­hof, an die Beton­ar­bei­ten des Gas­wer­kes Bre­mer­ha­ven und an die Neu­bau­ten des Leher Gerichts­ge­bäu­des, des Post­ge­bäu­des und des Spar­kas­sen­ge­bäu­des verweisen.

Leher Sparkassengebäude der Weser-Elbe-Sparkasse

Am 12. Novem­ber 1918 starb Carl Kist­ner. Sein Bru­der Hein­rich führ­te das Unter­neh­men fort­an allei­ne wei­ter. Die durch die Kriegs­fi­nan­zie­rung aus­ge­lös­te Gro­ße Infla­ti­on, die im Jah­re 1923 in eine Hyper­in­fla­ti­on mün­de­te, sorg­te für einen Zusam­men­bruch der deut­schen Wirt­schaft und des Ban­ken­sys­tems. 1921 streik­ten in Bre­mer­ha­ven, Geest­e­mün­de und Lehe 1.400 Arbei­ter in 131 Betrie­ben acht Wochen lang für einen höhe­ren Lohn. 1924 streik­ten in den Unter­we­ser­städ­ten die Bau­ar­bei­ter fast aller Betrie­be sie­ben Wochen lang für mehr Lohn. Erst ab Ein­füh­rung der Ren­ten­mark im Novem­ber 1923 wur­den wie­der geord­ne­te Kal­ku­la­tio­nen mög­lich, und das Bau­un­ter­neh­men konn­te zu einer geord­ne­ten Bau­tä­tig­keit übergehen.

In den fol­gen­den Jah­ren bau­te Kist­ner für die Stadt Wohn­bau­ten, die Poli­zei­ka­ser­ne an der Kai­ser­stra­ße und Fun­da­men­te für die neu­en Kran­bah­nen beim Schup­pen G am Kai­ser­ha­fen. Für die nörd­li­chen Kai­ser­hä­fen wur­den Schup­pen und Kajen erstellt. Auch die Grün­dungs- und Eisen­be­ton­ar­bei­ten für das Haupt­ge­bäu­de der AOK und den Bau des Wohn­was­ser­tur­mes in Wuls­dorf  führ­te die Fir­ma Kist­ner aus.

Wohnwasserturm Wulsdorf

Im Jah­re 1924 gaben sich die Städ­te Lehe und Geest­e­mün­de das “Jawort”. Sie führ­ten nun den gemein­sam Namen Weser­mün­de. Im glei­chen Jahr began­nen auch die Bau­ar­bei­ten am Colum­bus­bahn­hof und der dazu­ge­hö­ri­gen Colum­bus­ka­je, an denen die Fir­ma Kist­ner eben­falls maß­geb­lich betei­ligt war. Anschlie­ßend enga­gier­te sich die Fir­ma Kist­ner beim Bau der Anla­ge der gro­ßen Ölbun­ker der Deutsch-Ame­ri­ka­ni­schen Petro­le­um­ge­sell­schaft. Es folg­te die Betei­li­gung am Bau der rie­si­gen Nord­schleu­se, die für die tur­bi­nen­ge­trie­be­nen Schif­fe des Nord­deut­schen Lloyd “Bre­men” und “Euro­pa” gebaut wur­de. Die Grund­stein­le­gung erfolg­te am 3. Mai 1929.

Hafenstraße mit Kaufhaus Ramelow

Als der Nord­deut­sche Lloyd sei­nen Tech­ni­schen Betrieb vom Neu­en Hafen zu den bei­den Kai­ser­docks ver­leg­te, war die Fir­ma Kist­ner wie­der dabei. In den Jah­ren 1934 bis 1936 wur­den eine Kup­fer­schmie­de, eine Schlos­se­rei und Maschi­nen­werk­statt, Lager­schup­pen und Pro­vi­ant­la­ger gebaut. Aber auch aus der Pri­vat­wirt­schaft kamen zahl­rei­che Auf­trä­ge, dar­un­ter das Kauf­haus Rame­low und die Fär­be­rei- und Rei­ni­gungs­an­stalt Mäkler.

In die­ser Pha­se der Pro­spe­ri­tät hat­te der Kist­ner­sche Betrieb einen schwe­ren Ver­lust zu ver­kraf­ten: Am Abend des 19. Dezem­ber 1937 starb Hein­rich Kist­ner, der das Unter­neh­men seit dem Tode sei­nes Bru­ders Carl allei­ne führ­te. “Hei­ni-Meis­ter”, wie ihn vie­le Bre­mer­ha­ve­ner nann­ten, hat in der von sei­nem Vater gegrün­de­ten Fir­ma mehr als 50 Jah­re sei­ne Spu­ren hin­ter­las­sen. Hein­rich Kist­ners  Tod been­de­te die zwei­te Gene­ra­ti­on der H. F. Kist­ner Baugesellschaft.

Es wäre jetzt an dem am 13. Febru­ar 1919 gebo­re­nen Sohn Hein­rich Fried­rich Kist­ner gewe­sen, das Ruder in der Fir­ma zu über­neh­men. Er hat­te bereits sei­ne Gesel­len­prü­fung im Mau­rer­hand­werk erfolg­reich abge­legt und befand sich mit­ten im Stu­di­um zum Bau­in­ge­nieur. Dann aber brach der Zwei­te Welt­krieg aus, und  Hein­rich Fried­rich Kist­ner geriet in rus­si­sche Gefangenschaft.

US-Hospital in Bremerhaven

In den Kriegs­jah­ren beschäf­tig­te die Fir­ma H. F. Kist­ner Bau­ge­sell­schaft gut 2.000 Men­schen. Das Unter­neh­men bau­te in die­ser Zeit ein Mari­ne­la­za­rett, errich­te­te Bun­ker jeder Art und erstell­te in Mit­tel­deutsch­land, in Ost­fries­land, am West­wall und in Ost­eu­ro­pa Industrie‑, Wehr- und Bahnbauten.

Im Zwei­ten Welt­krieg brann­te die Kalk­sand­stein­fa­brik nach einem Bom­ben­an­griff im Sep­tem­ber 1944 aus, ist jedoch zu ins­ge­samt 80 % erhal­ten geblie­ben.  Im Som­mer 1947 wur­de Hein­rich Fried­rich Kist­ner aus der Gefan­gen­schaft ent­las­sen. Er trat sein Erbe an und wur­de Lei­ter der Baugesellschaft.

Beräumungsarbeiten Kalksandsteinwerk

Unter frei­wil­li­ger unent­gelt­li­cher Mit­hil­fe der Ange­stell­ten wur­den die Auf­räu­mungs­ar­bei­ten in gro­ßer Eile durch­ge­führt. So konn­te bereits im März 1948 mit dem Wie­der­auf­bau der Fabrik begon­nen wer­den. Bei den Bau­ar­bei­ten wur­de  der Schorn­stein, der sich bereits vor dem Krieg bedroh­lich geneigt hat­te, weit­ge­hend erneu­ert. Damit die Nach­bar­schaft “weder durch Rauch noch durch sonst irgend­wel­che Gerü­che” (Bau­ak­te) beläs­tigt wür­de, wur­de der aus Kalk­sand­stein gemau­er­te acht­ecki­ge Schlot auf 40 Meter erhöht.

20_Kalksandsteinwerk

Im März 1949 waren die Arbei­ten abge­schlos­sen. Da die Pres­se beim Bom­ben­an­griff nicht zer­stört wur­de, konn­te die Pro­duk­ti­on nun wie­der auf­ge­nom­men wer­den. Drei Mann stell­ten nun täg­lich 10 Stun­den an sechs Wochen­ta­gen Kalk­sand­stei­ne her. Stein für Stein wur­den sie auf Loren gesta­pelt und in einen der sechs Här­te­kes­sel gefah­ren. In dem Kes­sel blie­ben sie etwa acht Stun­den und wur­den unter sehr hohem Druck mit Was­ser­dampf gehär­tet. Danach wur­den die Loren aus dem hei­ßen Kes­sel geholt und ins Frei­la­ger gefah­ren. Dort kühl­te das strah­lend wei­ße Bau­ma­te­ri­al ab. 70 bis 80 Pro­zent der Bre­mer­ha­ve­ner Gebäu­de wur­den nach dem Krieg mit Stei­nen aus der Kalk­sand­stein­fa­brik Kist­ner gebaut.

Brennöfen Kalksandsteinwerk

Mit sei­ner expan­die­ren­den Fir­ma hat­te Hein­rich Fried­rich Kist­ner in der Nach­kriegs­zeit erheb­lich zum Wie­der­auf­bau Bre­mer­ha­vens bei­getra­gen. Eine Men­ge Arbeit war­te­te auf die zeit­wei­se 700 Mit­ar­bei­ter, die Kist­ner in sei­nem Unter­neh­mens­ver­bund beschäf­tig­te: Auf­bau­ar­bei­ten für die pri­va­te Fisch­in­dus­trie, die Hal­len III, IX, XI und XIV im Fische­rei­ha­fen muss­ten wie­der auf­ge­baut wer­den, in Gemein­schafts­ar­beit wur­den neue Fahr­gast­an­la­gen für den Colum­bus­bahn­hof errich­tet und die hei­mi­sche Werft­in­dus­trie war­te­te auf den Wie­der­auf­bau und auf Erweiterungsbauten.

Die H. F. Kistner Baugesellschaft

Auch im Wohn- und Geschäfts­haus­bau ging es wie­der auf­wärts: An die Ecke der Bür­ger­meis­ter-Smidt-Stra­ße zur Lloyd­stra­ße wur­de ein Gebäu­de für J. Hein­rich Kra­mer gestellt und für die Woh­nungs­bau­ge­sell­schaft der Flie­ger­ge­schä­dig­ten bau­te Kist­ner eben­so Häu­ser wie für den Bau- und Spar­ver­ein der Ost­ver­trie­be­nen und für die Städ­ti­sche Woh­nungs­bau­ge­sell­schaft. Auch die Geschäfts­häu­ser von Schütz, W. Schul­te, Bai­er-Thees, J. War­rings, E. A. Mäk­ler, dem Kauf­haus Mer­kur, Pohl & Schrö­der, Joh. Krie­te, Georg Diek­mann, dem Hotel Naber und der Gast­stät­te Schlin­ker tra­gen die Hand­schrift des Bau­ge­schäf­tes Kist­ner. Wei­ter­hin müs­sen die Gebäu­de des Nor­west­deut­schen Ver­la­ges, der Städ­ti­schen Spar­kas­se in Geest­e­mün­de und Bre­mer­ha­ven und der Neu­bau von Wohn­blö­cken für die Nie­der­säch­si­sche Heim­stät­te, des Schiffs­jun­gen­heims, eines Mäd­chen­wohn­hei­mes, eines Kin­der­gar­tens in der Deich­stra­ße und das Gemein­de­haus in Leher­hei­de erwähnt wer­den. Schließ­lich war das Bau­ge­schäft Kist­ner auch am Wie­der­auf­bau des Stadt­thea­ters, der Bür­ger­meis­ter-Smidt-Schu­le, am Neu­bau  eines Hal­len­schwimm­ba­des und am Bau eines 14-stö­cki­gen Hoch­haus beteiligt.

Die H. F. Kistner Baugesellschaft

Hein­rich Fried­rich Kist­ner, der die Lei­tung des Fami­li­en­be­trie­bes ja in sehr jun­gen Jah­ren über­nom­men hat, hat sich von Anfang an um eine betrieb­li­che Sozi­al­ord­nung bemüht. Im Jah­re 1955 erschien sein Buch “Hoher Lohn allein tut es nicht”, in dem er sei­ne Vor­stel­lun­gen einer part­ner­schaft­li­chen Zusam­men­ar­beit mit sei­nen Mit­ar­bei­tern dar­ge­legt hat: “Mei­ne Auf­fas­sung war des­halb die, daß jeder mehr ver­die­nen müs­se, wenn er die betrieb­li­chen Auf­ga­ben in der Betriebs­ge­mein­schaft mit zu lösen ver­such­te, wenn er als Mit­den­ker und Mit­wir­ken­der mit sei­nem bes­ten Wil­len und Kön­nen in auf­ge­schlos­se­ner Wei­se am betrieb­li­chen Gesche­hen aktiv teil­neh­men würde”. 

Ihm war durch sei­ne in der sowje­ti­schen Gefan­gen­schaft gemach­ten Erfah­run­gen klar, dass es ohne Aner­ken­nung der Men­schen­wür­de kei­ne sozia­le Gerech­tig­keit geben kann. So führ­te Hein­rich Fried­rich Kist­ner schon in den 1950er Jah­ren in sei­nem Unter­neh­men eine Leis­tungs­ge­winn­be­tei­li­gung ein. Der Gewinn wur­de monat­lich aus­ge­schüt­tet. Unter den Mit­ar­bei­tern fand der Part­ner­schafts­plan eine gro­ße Zustimmung.

In den 1960er Jah­ren haben Umbau­ten und Moder­ni­sie­run­gen das Äuße­re der Fabrik ver­än­dert. Dazu zähl­te beson­ders der Umbau des Kalk­si­los im Jah­re 1962 und die Anbau­ten zur Hafenstraße.

Den lang­sa­men Nie­der­gang des Tra­di­ti­ons­un­ter­neh­men hat Hein­rich Fried­rich Kist­ner nicht mehr erlebt. Er starb am 3. März 1990. Mit sei­nem Tode ging die Fir­men­lei­tung auf sei­nen Sohn über, der tra­di­ti­ons­ge­mäß auch den Namen Hein­rich Fried­rich Kist­ner trägt. An ihm war es nun, das Schiff, die H. F. Kist­ner Bau­ge­sell­schaft, durch das unru­hig gewor­de­ne Fahr­was­ser zu steuern.

Die H. F. Kistner Baugesellschaft

Weil das Bau­ge­wer­be nach immer grö­ße­ren Kalk­sand­stei­nen ver­lang­te, inves­tier­te das Unter­neh­men in den 1990er Jah­ren rund zwei Mil­lio­nen Mark. So wur­de im März 1992 die 70 Jah­re alte Hand­pres­se (“alter Opa” genannt) aus­ge­mus­tert und zwei neue, halb­au­to­ma­ti­sche Pres­sen ange­schafft. Beim Ein­bau tauf­te Hein­rich Fried­rich Kist­ner die neu­en Pres­sen auf die Namen “Hei­ni” und “Fidi”. Der erfor­der­li­che Dampf, der mit sehr hohem Druck in das Kalk­sand­stein­ge­misch gepresst wur­de, wur­de fort­an nicht mehr mit Koh­le son­dern mit Schwer­öl und Gas erzeugt. Nun hat­te der weit­hin sicht­ba­re Fabrik­schorn­stein sei­ne Funk­ti­on ver­lo­ren Gleich­wohl wur­de er nicht abge­ris­sen. Als sicht­ba­res Erken­nungs­zei­chen der Fir­ma Kist­ner ließ man ihn ste­hen, und so blieb er bis heu­te erhalten.

Bürgermeister-Smidt-Straße Ecke Schifferstraße

Aber trotz der hohen Inves­ti­tio­nen war der Nie­der­gang der Kalk­sand­stein­fa­brik nicht mehr auf­zu­hal­ten. Die Bau­bran­che ver­lang­te nach immer grö­ße­ren For­ma­ten. Zu deren Her­stel­lung wären aber­mals erheb­li­che Inves­ti­tio­nen in den gesam­ten Maschi­nen­park erfor­der­lich gewe­sen. Der der­zei­ti­ge Stand­ort an der Gees­te hat aber längst sei­ne ehe­ma­li­ge Attrak­ti­vi­tät ver­lo­ren. Das Gelän­de war nicht groß genug, um neue Inves­ti­tio­nen auf­zu­neh­men. Man hät­te sich also zusätz­lich nach einem neu­en Stand­ort umse­hen müs­sen. Dabei wur­de die bereits vor­han­de­ne Kapa­zi­tät von 30 Mil­lio­nen Stei­nen im Jahr schon seit Jah­ren nicht mehr aus­ge­schöpft. So wur­den im Jahr 1999 wur­den nur noch fünf Mil­lio­nen Stei­ne aus­ge­lie­fert. Die Geschäfts­füh­rung ver­ein­bar­te mit den letz­ten fünf Pro­duk­ti­ons­mit­ar­bei­tern eine Auf­he­bung der Arbeits­ver­trä­ge und leg­te die Kalk­sand­stein­fa­brik am 31.03.2000 still.

Die H. F. Kistner Baugesellschaft

Die Kalk­sand­stein­fa­brik war der letz­te Indus­trie­be­trieb an der Gees­te, in dem jahr­zehn­te­lang über 60 Mit­ar­bei­ter beschäf­tigt waren – teil­wei­se sogar im Drei-Schicht-Betrieb. Zurück blie­ben nur noch die Erin­ne­run­gen der dama­li­gen Anwoh­ner. So schrieb mir Gün­ter, dass “ein herr­li­chen Duft in der Luft lag… wenn Kist­ner neben­an sei­ne Stei­ne brann­te, eine wun­der­schö­ne Erin­ne­rung für mich, ich habe die­sen Duft noch in der Nase! Ich weiß aller­dings nicht, ob ich jetzt wirk­lich objek­tiv bin, oder ob es nicht viel­leicht auch ein­fach die­se wun­der­schö­ne Erin­ne­rung des Moments war, denn irgend­wie habe ich auch im Hin­ter­kopf die Erin­ne­rung, dass eini­ge die­sen für mich wun­der­schö­nen Duft einen fürch­ter­li­chen Gestank nann­ten! Es ist zu lan­ge her, 1954 bin ich gebo­ren, es wird also ver­mut­lich um die 1960 gewe­sen sein.”

Die H. F. Kistner Baugesellschaft

Nach der Schlie­ßung der Kalk­sand­stein­fa­brik hat die Stadt das Betriebs­ge­län­de im Jah­re 2002 für 1,74 Mil­lio­nen Euro erwor­ben. Das Bau­ge­schäft und der auf dem Kist­ner­ge­län­de ste­hen­de Hob­by­markt wur­den wei­ter betrie­ben. Doch auch der Hob­by­markt hat­te kei­ne Zukunft. In Bre­mer­ha­ven eröff­ne­ten immer grö­ße­re Bau­märk­te. Die Kon­kur­renz um die Kun­den wur­de erdrü­ckend. Im Jah­re 2002 muss­te auch Kist­ners Hob­by­markt auf­ge­ben, und ein Jahr spä­ter schloss der zunächst wei­ter betrie­be­ne Baustoffhandel.

Die H. F. Kistner Baugesellschaft

Das Kern­un­ter­neh­men konn­te sich noch bis zum Jah­re 2005 auf dem Markt behaup­ten. Doch schließ­lich soll­te ein rui­nö­ser Wett­be­werb auf dem Bau die  H. F. Kist­ner Bau­ge­sell­schaft in die Knie zwin­gen. Lan­ge 150 Jah­re präg­te die H. F. Kist­ner Bau­ge­sell­schaft das Bau­ge­sche­hen an der Unter­we­ser. In den Anfangs­jah­ren im Miets­haus­bau, spä­ter auch im Hoch- und Tief­bau. Es gibt wohl kein ande­res Unter­neh­men, das an der bau­li­chen Ent­wick­lung Bre­mer­ha­vens einen ähn­li­chen Anteil hatte.

Seit dem Jah­re 2005 sucht die städ­ti­sche Wirt­schafts­för­de­rung BIS ver­geb­lich einen Käu­fer für das brach lie­gen­de Kist­ner-Gelän­de. Bis auf weni­ge Aus­nah­men sind die dar­auf ste­hen­den Gebäu­de dem Ver­fall preis­ge­ge­ben, unter ande­rem auch die gro­ße stüt­zen­freie Ton­nen­dach­hal­le des ehe­ma­li­gen Pres­sen­hau­ses. Das Lan­des­denk­mal­amt hat in sei­ner Stel­lung­nah­me vom August 2009 die Ton­nen­hal­le als ein kon­struk­ti­ons­ge­schicht­lich inter­es­san­tes Gebäu­de bezeichnet.

Immer wie­der berich­te­ten die Nord­see-Zei­tung und das Sonn­tags­jour­nal von neu­en Ideen zur Nut­zung des Grund­stü­ckes. Wer in den Archi­ven der Zei­tun­gen blät­tert, fin­det, begin­nend im Jah­re 2000, wohl an die 40 Arti­kel. Aber nicht einer der bis­her vor­ge­stell­ten Plä­ne wur­de rea­li­siert. Auch die in Work­shops und Arbeits­grup­pen des Bür­ger­ver­eins und der Stadt­teil­kon­fe­renz Lehe ent­wi­ckel­ten Kon­zep­te und Ideen sol­len bei den ver­ant­wort­li­chen Poli­ti­kern kein Gehör gefun­den haben.

Die H. F. Kistner Baugesellschaft

Viel­mehr sind sich die Bre­mer­ha­ve­ner Poli­ti­ker von SPD und CDU wohl einig, die unter Denk­mal­schutz ste­hen­de Ton­nen­dach­hal­le abzu­rei­ßen. Bleibt die Hoff­nung, dass der Lan­des­denk­mal­pfle­ger die­ses ein­ma­li­ge Indus­trie­denk­mal dau­er­haft zu schüt­zen weiß. Dazu gehört auch, zu ver­hin­dern, dass man die Hal­le mit dem gewölb­ten Dach ein­fach dem Ver­fall preis­gibt und so Tat­sa­chen schafft.

Die jün­ge­ren Poli­ti­ker wer­den die Geschich­te des Tra­di­ti­ons­un­ter­neh­mens H. F. Kist­ner mög­li­cher­wei­se nicht ken­nen. Es wäre schön, wenn die­ser Arti­kel die Ver­ant­wort­li­chen in Ver­wal­tung und Poli­tik wach­rüt­telt und vor Augen führt, wel­ches his­to­ri­sche Klein­od sie ver­nich­ten möch­ten. Schließ­lich hat­te die Leher Gemein­de den Fir­men­grün­der H. F. Kist­ner im August 1853 als voll­wer­ti­gen Bür­ger in ihrer Mit­te auf­ge­nom­men. Im Mai 1890, als Magis­trat und Bür­ger­vor­ste­her-Kol­le­gi­um beschlos­sen, die Stra­ße an der Mei­de mit sei­nem Namen zu bezeich­nen, wur­de ihm erneut höchs­te Ehrung erwiesen.

Ich bedan­ke mich ganz herz­lich bei allen, die mich beim Schrei­ben die­ses Arti­kels unter­stützt haben. Einen beson­de­ren Dank an Herrn Kist­ner, der mir erlaubt hat, das Bild des Fir­men­grün­ders mit sei­ner Ehe­frau hier zu ver­öf­fent­li­chen, an Sabi­ne Funk und Horst-Die­ter Brink­mann für die ein­ge­reich­ten Bil­der, an Jür­gen Wink­ler für sei­ne Hin­wei­se und Infor­ma­tio­nen und an Gün­ter Knieß für die Auf­zeich­nung sei­ner Kind­heits­er­in­ne­run­gen und für die hilf­rei­che Unter­stüt­zung bei mei­nen Recher­chen. Abschlie­ßend lade ich alle Deich­SPIE­GEL-Leser herz­lich ein, ihre eige­nen Erin­ne­run­gen hier als Kom­men­ta­re niederzuschreiben.
Quel­len:
Dr. Georg Bes­sell: Hei­mat­chro­nik der Stadt Bre­mer­ha­ven, Sei­ten 271 ff.
Hein­rich Drö­ge:
Hun­dert Jah­re bau­en – Fest­schrift zum 100-jäh­ri­gen Bestehen
R. S. Hart­mann: Die Part­ner­schaft von Kapi­tal und Arbeit, Sei­ten 218 ff.
H. Buch­artz: Die Prü­fung und die Eigen­schaf­ten der Kalk­sand­stei­ne, Juli­us-Sprin­ger-Ver­lag, Ber­lin, 1908
Her­bert Kört­ge: Die Stra­ßen­na­men der See­stadt Bre­mer­ha­ven, Sei­te 120
Dr. Hart­mut Bickel­mann: Wer­bung durch Anschau­ung, Nie­der­deut­sches Hei­mat­blatt Nr. 567 vom März 1997
Dr. Hart­mut Bickel­mann: Zwi­schen Woh­nen und Arbei­ten, Nie­der­deut­sches Hei­mat­blatt Nr. 586 vom Okto­ber 1998
guh: Die letz­ten Tage der Kalk­sand­stein­ära, Nord­see-Zei­tung vom 18.02.2000
Rai­ner Dons­bach: Nicht dem Ver­fall zuse­hen, Nord­see-Zei­tung vom 29.03.2011
S. Schwan: Neu­er Anlauf für die Kist­ner-Bra­che, Nord­see-Zei­tung vom 10.1.2012
Rai­ner Dons­bach: Denk­mal droht der Abriss, Nord­see-Zei­tung vom 17.09.2015
Rai­ner Dons­bach: Flücht­lin­ge aufs Kist­ner­are­al, Nord­see-Zei­tung vom 13.11.2015
Jür­gen Wink­ler: Kist­ner­ge­län­de – eine unend­li­che Geschich­te,
juwi’s welt
Kalk­sand­stein-Dienst­leis­tung GmbH: Geschich­te der Kalksandsteinindustrie 
Stadt Bre­mer­ha­ven:
Pres­se­mit­tei­lung vom 14.10.2015 
Hup­ke und Mahn | Geschichts­werk­statt Lehe:
Kalk­sand­stein­werk H. f. Kistner
Deut­sche Digi­ta­le Biblio­thek: Bre­mer­ha­ven, Hafen­stra­ße 56, 58, 60, Werftstraße

Am 04.02.2016 schrieb Herr Gus­tav Woh­de zu obi­gem Arti­kel fol­gen­den Kom­men­tar und bat mich, hier zwei Bil­der zu veröffentlichen:

Hal­lo Herr Kistner,
zur Unter­strei­chung des Enga­ge­ment für ihre Mit­ar­bei­ter in obi­gem Arti­kel sen­de ich Ihnen ger­ne einen Nach­ruf in Form eines Zei­tungs­aus­schnit­tes zu. Auf die­sem wird mein Onkel Sieg­fried Lan­ge im Okto­ber 1959 als guter Mit­ar­bei­ter und eben sol­cher Kame­rad von der Lei­tung der Fir­ma Kist­ner und deren Mit­ar­bei­ter ver­ab­schie­det. Er war Beton­fach­ar­bei­ter und 31 Jah­re alt.
Soll­te es Ihnen gelin­gen, eine Erin­ne­rung an mei­nen Onkel zu wecken, den ich nie ken­nen­ler­nen konn­te, wäre ich Ihnen sehr dank­bar für eine Kontaktaufnahme.
Ger­ne sen­de ich Ihnen auch ein Foto von Ihm zu.
Vie­len Dank vor­ab und wei­ter­hin alles Gute.

Die H. F. Kistner Baugesellschaft

Nach­ruf Sieg­fried Lan­ge vom 5. Okto­ber 1959

Siegfried Lange

Datenbank fuer Fischdampfer

Das His­to­ri­sche Muse­um Bre­mer­ha­ven will ein wich­ti­ges Kapi­tel der Stadt­ge­schich­te erfor­schen und sämt­li­che in Geest­e­mün­de und Bre­mer­ha­ven behei­ma­te­te Fische­rei­fahr­zeu­ge in einer Daten­bank erfassen.

Historisches Museum listet Fischdampfer in Datenbank

Das Zen­trum der deut­schen Hoch­see­fi­sche­rei  darf man sicher­lich an der Gees­te suchen, das sich hier ab 1885 mit dem Dampf­an­trieb von Schiff und Win­de ent­wi­ckel­te. Die Fisch­damp­fer hat­ten damals kei­nen eige­nen Hafen und leg­ten des­halb am süd­li­chen Gees­teu­fer an. Das Bus­se­denk­mal am Fuß des öst­li­chen Brü­cken­kop­fes der Alten Geest­e­brü­cke erin­nert an die­se Zeit.

Im Jah­re 1884 erteil­te der Geest­e­mün­der Fisch­groß­händ­ler Fried­rich C. Bus­se, Begrün­der der deut­schen Hoch­see­fi­sche­rei, der Wen­cke-Werft den Auf­trag, für 111.000 Mark den ers­ten deut­schen dampf­be­trie­be­nen Fisch­damp­fer zu bau­en. Der Damp­fer wur­de auf den Namen “Sagit­ta” getauft und am 7. Febru­ar 1885 in Dienst gestellt. Die Deut­sche Fische­rei-Zei­tung nahm davon im Janu­ar 1985 mit einem kur­zen Arti­kel Notiz, und die Fach­welt blieb skep­tisch. Doch die “Sagit­ta” fisch­te so erfolg­reich, dass Fried­rich C. Bus­se ab 1888 zunächst die “Prä­si­dent Her­wig” und danach wei­te­re Fisch­damp­fer bau­en ließ.

Fischerei-Zeitung

Mit dem See­rechts­über­ein­kom­men der Ver­ein­ten Natio­nen wur­den die Hoheits­ge­wäs­ser aus­ge­wei­tet. Außer­dem beka­men alle Staa­ten die Frei­heit, nahe­zu unbe­grenz­ten Fisch­fang zu betrei­ben. Die deut­schen tra­di­tio­nel­len Fang­ge­bie­te waren bald über­fischt und in den 1990er Jah­ren steu­er­te die deut­sche Hoch­see­fi­sche­rei in eine tie­fe Kri­se, von der sie sich nicht wie­der erho­len sollte.

Für die Daten­bank konn­te das His­to­ri­sche Muse­um Bre­mer­ha­ven zunächst auf ein Regis­ter des Han­se­stadt Bre­mi­sche Amtes zurück­grei­fen, in dem alle Fische­rei­fahr­zeu­ge ver­zeich­net sind. Die “Sagit­ta” etwa ist unter der Num­mer 7 ver­merkt. Num­mer 1 ist Kut­ter “Mar­tha”, mit dem die Küs­ten­fi­sche­rei betrie­ben wur­de. Aber auch Auf­zeich­nun­gen eines Fisch­damp­fer-Fans, der akri­bisch sämt­li­che Fische­rei­fahr­zeu­ge mit dem Zei­chen PG für Geest­e­mün­de und BX für Bre­mer­ha­ven auf­ge­zeich­net hat, waren für die Mit­ar­bei­ter des His­to­ri­schen Muse­ums eine ech­te Fundgrube.

1.569 Daten­sät­ze umfasst die Daten­bank  bereits. Auf dem letz­ten deut­schen Sei­ten­traw­ler, dem Muse­ums­schiff “Gera”, kann man sie seit die­ser Sai­son auf­ru­fen und erhält Infor­ma­tio­nen über die Schiffs­na­men, das Kenn­zei­chen, die Eigen­tü­mer, die Bau­werft und das Bau­jahr sowie über den Schiffs­typ und über schiffs- und fische­rei­tech­ni­sche Daten. Die Schiffs­ta­ge­bü­cher der meis­ten Schif­fe exis­tie­ren nicht mehr, aber soweit es noch his­to­ri­sche Infor­ma­tio­nen zu den Schif­fen gibt, wer­den auch die­se in die Daten­bank eingearbeitet.

600 Schiffs­fo­tos hat das Muse­ums­team inzwi­schen aus eige­nen Bestän­den  “aus­ge­gra­ben” und in die Daten­bank ein­ge­pflegt. Um das selbst gesetz­te Ziel, zu jedem Schiff ein Bild zu zei­gen, zu errei­chen, wer­den mitt­ler­wei­le die Archi­ve des Deut­schen Schiff­fahrts­mu­se­ums durch­fors­tet. Und natür­lich wür­de sich das Team im His­to­ri­schen Muse­um sehr über pri­va­tes Foto­ma­te­ri­al freu­en. Wer also Fotos oder auch Berich­te von den in Geest­e­mün­de (PG) oder Bre­mer­ha­ven (BX) behei­ma­te­ten Fische­rei­fahr­zeu­gen hat, wird gebe­ten, mit dem His­to­ri­schen Muse­um Kon­takt aufzunehmen:
His­to­ri­sche Muse­um Bremerhaven
An der Geeste
27570 Bremerhaven
Tele­fon: 0471/30 81 60
info@museumsschiff-gera.de

Quel­len:
Ursel Kikker: “Daten­bank für Fisch­damp­fer”, Nord­see-Zei­tung vom 27.10.2015
wikipedia

Die Geestemünder Eisengießerei und Maschinenfabrik tom Möhlen & Seebeck

Neben der 1876 gegrün­de­ten See­beck-Werft gab es in Bre­mer­ha­ven noch ein wei­te­res Unter­neh­men, das den Namen See­beck im Fir­men­na­men führ­te. Bei einem Spa­zier­gang zum Fried­hof Lehe III wur­de ich auf das ver­las­se­ne Wohn­haus Am Fleeth 1 auf­merk­sam. Neu­gie­rig trat ich näher und sah das stark pati­nier­te Metall­schild, das den Besu­chern einst mit­teil­te, wer hier sein Zuhau­se hat­te: Hans Seebeck.

Hans Seebeck Hauseingang Am Fleeth 1 in Lehe

Zunächst glaub­te ich, dass hier ein Nach­kom­me des am 7. Novem­ber 1845 gebo­re­nen Werft­grün­ders Georg Diet­rich See­beck gewohnt haben mag. Doch bei mei­nen Recher­chen im Inter­net bin ich auf einen ande­ren See­beck gestoßen.

In “Din­glers Poly­tech­ni­sches Jour­nal” aus dem Jah­re 1894 fin­det sich ein Hin­weis, dass tom Möh­len und See­beck  “einen Kes­sel bau­en mit Innen­feue­rung und schräg lie­gen­dem Was­ser­rohr­bün­del (D. R. P. Nr. 71224 vom 4. März 1892) nach Fig. 49. Der Abzug der Rauch­ga­se erfolgt ent­we­der durch ein senk­rech­tes Rauchrohr in die Höhe oder durch eine seit­lich ange­brach­te Rauch­kam­mer. Die unte­re Feu­er­büch­se bil­det den Ver­bren­nungs­raum, in der obe­ren Feu­er­büch­se sind Was­ser­roh­re schräg ange­ord­net, wel­che, um ein leich­te­res Aus­zie­hen der­sel­ben zu ermög­li­chen, oben erwei­tert sind.”

Dampfkessel von tom Moehlen und Seebeck

Auch die Patent­schrift Nr. 140627 des Kai­ser­li­chen Patent­am­tes gibt Aus­kunft, dass es in Geest­e­mün­de ein Unter­neh­men mit der Fir­men­be­zeich­nung “Maschi­nen­fa­brik und Eisen­gie­ße­rei tom Möh­len & See­beck” gege­ben hat. Mit die­ser Patent­schrift vom 24. April 1903 wur­de ein “Ste­hen­der Dampf­kes­sel…” patentiert.

Patent Dampfkessel von tom Moehlen und Seebeck

Schließ­lich habe ich den Namen des Unter­neh­mens tom Möh­len & See­beck noch in vie­len anti­ken Fach­bü­chern fin­den kön­nen. So zum Bei­spiel in der 1883 erschie­nen drit­ten Aus­ga­be des Wer­kes “Die Schiffs­ma­schi­ne”. Ver­fas­ser war der 1904 ver­stor­be­ne lang­jäh­ri­ge Maschi­nen­bau­di­rek­tor der Krupp­schen Ger­ma­nia-Werft Wil­helm Mül­ler. Auf Sei­te 106 ist die Zeich­nung eines “ste­hen­den Feu­er­büchs­kes­sels” abgebildet.

Die Schiffsmaschine

1885 grün­de­te der Kup­fer­schmied Fried­rich August See­beck mit dem Maschi­nen­dre­her Adolph tom Möh­len in der heu­ti­gen Ver­de­ner Stra­ße die “Eisen­gie­ße­rei und Maschi­nen­fa­brik tom Möh­len & Seebeck”.

Die “Eisen­gie­ße­rei und Maschi­nen­fa­brik tom Möh­len & See­beck” wur­de sehr erfolg­reich und über Deutsch­lands Gren­zen hin­aus bekannt. Als die Hin­ter­hof­werk­statt zu klein wur­de, kauf­te das jun­ge Unter­neh­men am süd­öst­li­chen Ende des dama­li­gen Quer­ka­nals in der heu­ti­gen Indus­trie­stra­ße ein Grund­stück mit einem Gleis­an­schluss an die Eisen­bahn­stre­cke Bre­mer­ha­ven-Bre­men. Das Grund­stück wur­de in den Jah­ren 1889 und 1890 mit einer Maschi­nen­fa­brik, einer Eisen­gie­ße­rei und mit einem Wohn­haus bebaut.

Querkanal Geestemünde

Die Auf­trags­bü­cher waren so voll, dass die Fabrik an ihre Kapa­zi­täts­gren­zen stieß und ein wei­te­res Grund­stück an  der  ver­län­ger­ten Indus­trie­stra­ße zwi­schen dem städ­ti­schen  Gas­werk  und  der  Teck­len­borg-Werft hin­zu­pach­ten musste.

Anders als auf dem älte­ren Betriebs­teil, auf dem sich die Gie­ße­rei und der Maschi­nen­bau befand, wur­den auf dem neu­en Gelän­de der Behäl­ter­bau und der Brü­cken- und Eisen­hoch­bau ange­sie­delt. Aber auch auf die­sem Grund­stück stieß das expan­die­ren­de Unter­neh­men an sei­ne Gren­zen, und wei­te­re Grund­stü­cke wur­den hin­zu­ge­pach­tet. Es wur­de ein Dampf­ham­mer und 1913 eine Kran­bahn mit einem elek­tri­schen Lauf­kran investiert.

1927 Maschinenbauhalle

Fried­rich August See­beck und Adolph tom Möh­len wohn­ten in unmit­tel­ba­rer Nähe zur Fabrik, gleich neben der Maschi­nen­bau­werk­statt, in einem in die Fabrik­an­la­gen inte­grier­tes drei­stö­cki­ges Eta­gen­haus. Im Erd­ge­schoss wur­de das Kon­tor ein­ge­rich­tet. Fer­ner war hier der Aus­stel­lungs­raum für die Prä­sen­ta­ti­on der Pro­duk­te unter­ge­bracht. Schließ­lich gab es im Erd­ge­schoss noch einen gro­ßen Saal, in dem sich die zur Gie­ße­rei gehö­ri­ge For­me­rei befand.   Die Eigen­tü­mer bezo­gen jeweils eine Woh­nung in den bei­den Ober­ge­schos­sen. Die­ses Gebäu­de wur­de im Jah­re 1899 durch erwei­tert: Ein drei­stö­cki­ger Anbau wur­de inte­griert und das Kon­tor den ver­än­der­ten Bedin­gun­gen ange­passt und vergrößert.

Briefkopf der Firma tom Möhlen & Seebeck

Nicht nur der 1888 erfolg­te Zoll­an­schluss der Unter­we­ser­or­te trug bis zum Beginn des Ers­ten Welt­krie­ges zu der anhal­tend gute Ent­wick­lung der Fir­ma tom Möh­len & See­beck bei. Mit dem Regie­rungs­an­tritt Kai­ser Wil­helm II. und der Ent­las­sung des Reichs­kanz­lers Bis­marck fand seit etwa Anfang der 1990er Jah­re eine Bele­bung des Schiff­bau­es statt. Zusätz­lich beein­fluss­te der Bau- und Wirt­schafts­boom in den 1890er Jah­ren das Wachs­tum in der Schiffs­bau­in­dus­trie, im Bau­ge­wer­be und auch in der Holz­be­ar­bei­tung nach­hal­tig. So ver­zehn­fach­te sich zwi­schen den Jah­ren 1871 und 1912 die Beför­de­rungs­leis­tung der deut­schen Han­dels­schiff­fahrt auf den Welt­mee­ren. Das Stre­cken­netz der Eisen­bahn ver­län­ger­te sich von 18.876 Kilo­me­ter im Jah­re 1870 auf 63.378 Kilo­me­ter im Jah­re 1913. Der Boom die­ser Jah­re schlug natür­lich auch auf die Zulie­fe­rer­be­trie­be durch. Die Auf­trags­bü­cher der Maschi­nen­fa­bri­ken und Gie­ße­rei­en waren gut gefüllt.

Lehrbuch für Studierende und Ingenieure

Die Anzahl der Beschäf­tig­ten geben Aus­kunft über das Wachs­tum der Fir­ma tom Möh­len & See­beck: Im Jah­re 1892 waren 60 Arbei­ter und 2 Kon­to­ris­ten in der Fir­ma tätig. Im Jah­re 1900 waren es bereits 100 Arbei­ter und 6 Kon­to­ris­ten und Tech­ni­ker. Und ab 1902 bil­de­te sich eine fes­ter Stamm von 100 bis 120 Arbei­ter. Das beding­te natür­lich auch ein Per­so­nal­wachs­tum in der Ver­wal­tung. 1908 beschäf­tig­te der Betrieb ins­ge­samt 12 Ange­stell­te, Tech­ni­ker und Werkführer.

Den anhal­ten­den Auf­wärts­trend bezeu­gen auch die vie­len Paten­te und Gebrauchs­mus­ter-Ein­tra­gun­gen. So gibt etwa die dama­li­ge Fach­zeit­schrift “Glück­auf” in ihrer Aus­ga­be vom 12. August 1911 dar­über Aus­kunft, dass im Reichs­an­zei­ger vom 10. Juli 1911 für tom Möh­len und See­beck eine Gebrauchs­mus­ter­ein­tra­gung für ein Füll­rumpf­ver­schluss bekannt gemacht wurde.

Glückauf

Neben einer drit­ten Dampf­ma­schi­ne gab es im Werk zwei Elek­tro­mo­to­ren, zwei Gene­ra­to­ren und etwa 50 Dreh­bän­ke. Die Fir­ma tom Möh­len & See­beck hat es geschafft. Das mit­tel­stän­di­sche gewor­de­ne Unter­neh­men bekam Auf­trä­ge aus dem gan­zen Deut­schen Reich.  Auch im euro­päi­schen Aus­land war die Fir­ma tom Möh­len & See­beck, die Arma­tu­ren, Dampf­kes­sel, Druck­be­häl­ter, Pum­pen, Krä­ne, Ruder­ma­schi­nen und vie­les mehr pro­du­zier­te,  als leis­tungs­fä­hig und kom­pe­tent bekannt.

Doch mit der vor­ste­hen­den Auf­zäh­lung war der Ange­bots­ka­ta­log noch lan­ge nicht erschöpft. tom Möh­len & See­beck errich­te­te auch Eisen­kon­struk­tio­nen. Stra­ßen- und Eisen­bahn­brü­cken, Anle­ge­pon­tons, Slip­an­la­gen, Schleu­sen­to­re, Ver­la­de­brü­cken und För­der­bän­der und gro­ße Lager- und Mon­ta­ge­hal­len. Es gab wohl nichts Metal­le­nes, was man bei tom Möh­len & See­beck nicht ordern konnte.

Hohenstauffenstrasse

Etwa seit der Wen­de zum 20. Jahr­hun­dert began­nen die Unter­neh­mer, ihre Gewer­be­rei­che von ihren Wohn­be­rei­chen zu tren­nen. Sie zogen nun ein Wohn­um­feld abseits ihrer Fabri­ken vor. Wer es sich leis­ten konn­te, bau­te eine Vil­la und hat­te Dienstpersonal.

Als in Geest­e­mün­de nörd­lich des Holz­ha­fens im Bereich der Hohen­stau­fen­stra­ße ein Vil­len­vier­tel ent­stand, zöger­te Fried­rich A. See­beck nicht lan­ge und ließ sich in der Hohen­stau­fen­stra­ße 10 (spä­ter umnum­me­riert in 25) eine gro­ße Vil­la bau­en. Sie schmieg­te sich an die bereits in den Jah­ren 1907/1908 vom Bre­mer Archi­tek­ten Heinz Stoff­re­gen für den in Eng­land gebo­re­nen Ree­der Edward Richard­son in eng­li­scher Land­haus­ar­chi­tek­tur errich­te­te Vil­la an. Die bei­den anein­an­der gelehn­ten Vil­len völ­lig unter­schied­li­chen Cha­rak­ters bil­de­ten ein für die Hohen­stau­fen­stra­ße unge­wöhn­li­ches Ensemble.

Karte

Fried­rich A. See­becks Vil­la lag mit ihrer Rück­front ziem­lich genau gegen­über der Fir­ma tom Möh­len & See­beck, die sich ja zwi­schen Quer­ka­nal und Indus­trie­stra­ße befand. Nur die Eisen­bahn­tras­se und die heu­ti­ge Elbe­stra­ße trenn­ten Vil­la und Fabrik. Gleich­wohl war das sozia­le und räum­li­che Umfeld in der Hohen­stau­fen­stra­ße ein ganz anderes.

Adolph tom Möh­len such­te sich in die­ser Zeit eben­falls ein Wohn­grund­stück außer­halb des Fabrik­ge­län­des. Er woll­te zurück in sei­nen Geburts­ort Lehe. So ließ er in Spe­cken­büt­tel auf dem Grund­stück Park­stra­ße 20 eben­falls eine gro­ße Vil­la bau­en. Den Ein­zug im Jah­re 1911 erleb­te er aller­dings nicht mehr.

Wasserstandsanzeiger aus dem Jahre 1903

Mit der Über­sie­de­lung See­becks in sei­ne neue Vil­la und dem etwa  zur sel­ben Zeit vor­ge­nom­me­nen Umzug tom Möh­lens in sein gro­ßes Anwe­sen in der Park­stra­ße nahm der Bezug der Unter­neh­mer zu ihrer Fabrik und zu den per­sön­li­chen Lebens­be­rei­chen der Geschäfts­part­ner glei­cher­ma­ßen ab. Die ursprüng­li­che Ein­heit von Woh­nen und Arbei­ten lös­te sich auf.

Nach dem Tode von tom Möh­len kauf­te Fried­rich A. See­beck der Wit­we ihre geerb­ten Fir­men­an­tei­le ab und wur­de Allein­ei­gen­tü­mer. Den Fir­men­na­men änder­te er 1917 um in “Fried­rich A. See­beck”. Aber Ende 1918 starb auch er, und nun führ­te sein Sohn Hans das Unter­neh­men wei­ter. Im Jah­re 1932 erfolg­te eine erneu­te Umfir­mie­rung, das Unter­neh­men hieß nun “Hans See­beck Maschi­nen­bau – Eisen­bau GmbH”.

Turmdrehkran der ehemaligen Rickmers-Werft

Als 1921 Lehe und Bre­mer­ha­ven eine Gas­ge­mein­schaft grün­de­ten, wur­de das im Jah­re 1893 in Betrieb genom­me­ne Leher Gas­werk nicht mehr benö­tigt.  Hans See­beck kauf­te das beim Fried­hof Lehe III gele­ge­ne Grund­stück Fried­hof­stra­ße 38 (spä­ter Am Fleeth 1) mit den dar­auf ste­hen­den Anla­gen und rich­te­te dort sei­ne Maschi­nen­fa­brik ein. Das Gelän­de ver­füg­te über einen direk­ten Gleis­an­schluss an die Eisen­bahn­li­nie Cux­ha­ven-Bre­men und war groß genug, sämt­li­che Betriebs­tei­le des Unter­neh­mens auf­zu­neh­men. Nach Abschluss der erfor­der­li­chen Umbau­ar­bei­ten sie­del­te 1925 der kom­plet­te Betrieb in die Fried­hof­stra­ße um. Hier stan­den den Mit­ar­bei­tern gut belich­te­te Fabrik­hal­len zur Ver­fü­gung, ein zwei­ge­schos­si­ges Ver­wal­tungs­ge­bäu­de ent­stand, ein Pfört­ner­haus, Sozi­al­räu­me und Lager und eine Kraftfahrzeughalle.

Wohnhaus Hans Seebeck

Hans See­beck bezog in der Fried­hofs­stra­ße das frei­ste­hen­de zwei­ein­halb­stö­cki­ge Beam­ten­wohn­haus des Gas­werks. Die elter­li­che Vil­la in der Hohen­stau­fen­stra­ße blieb aber im Fami­li­en­be­sitz. Fried­rich A. See­becks Wit­we wohn­te hier mit einer Schwes­ter von Hans See­beck, der 1968 ver­stor­be­nen Musik­leh­re­rin Anna Marie Seebeck.

Das von See­beck auf­ge­ge­be­ne Pacht­ge­län­de in der Indus­trie­stra­ße über­nahm Mit­te der 1920er Jah­re das Weser­mün­der Gas­werk. Das fir­men­ei­ge­ne Gelän­de am Quer­ka­nal ver­kauf­te Hans See­beck 1925 an den Kon­sum- und Spar­ver­ein Unter­we­ser, der die Anla­gen für sei­ne Spar­te “Koh­len­la­ger” nutz­te. In das Wohn­haus zogen nun Beschäf­tig­te des Kon­sum­ver­eins ein.

Im Mai 1933 lös­ten die Natio­nal­so­zia­lis­ten die Kon­sum­ver­ei­ne auf. Das Gelän­de kam in die Hän­de der But­ter-Absatz-Zen­tra­le Nord­han­no­ver. Die Maschi­nen­bau­hal­le wur­de durch ein gro­ßes Kühl­haus ersetzt. Alle ande­ren Anla­gen wur­den ent­fernt, nur das Wohn­haus und ein Lager­ge­bäu­de blie­ben erhal­ten. 1970 wur­de der gesam­te Kom­plex auf­ge­ge­ben, die But­ter-Absatz-Zen­tra­le zog in das Gewer­be­ge­biet nach Wuls­dorf um. 1986 wur­de das Gelän­de ein­ge­eb­net. Ver­schie­de­ne Super­märk­te, Dis­coun­ter und ein gro­ßer Park­platz beherr­schen nun das Bild.

Hans Seebecks Wohnhaus

Mit dem frü­hen Tod von Hans See­beck im Novem­ber des Jah­res 1945 und dem nicht aus dem Zwei­ten Welt­krieg zurück­ge­kehr­ten Sohn Hans hat­te das Unter­neh­men kei­ne gere­gel­te Nach­fol­ge. Hans See­becks Wit­we Anna (1895 – 1980) über­nahm die Ver­ant­wor­tung und führ­te den Betrieb mit wei­te­ren Geschäfts­füh­rern zu neu­en Erfol­gen. Noch heu­te zeugt der 1956 für die Aus­rüs­tungs­ka­je der Rick­mers-Werft auf der Geest­hel­le gebau­te 35,5 Meter hohe vier­bei­ni­ge Turm­dreh­kran von der Leis­tungs­fä­hig­keit des Unter­neh­mens “Hans See­beck Maschi­nen­bau – Eisen­bau GmbH”. Den­noch geriet der Betrieb gegen Mit­te der 1950er Jah­re in Zah­lungs­schwie­rig­kei­ten. Die Pro­ble­me lös­ten sich durch die Auf­nah­me des Geest­e­mün­der Unter­neh­mers J. Hein­rich Kra­mer als wei­te­rer Gesellschafter.

In einer 300 Qua­drat­me­ter gro­ßen Hal­le fer­tig­te der Boots­bau­un­ter­neh­mer Gus­tav Kuhr seri­en­mä­ßig geschlos­se­ne Ret­tungs­boo­te aus Kunst­stoff. Die Hal­le brann­te im Jah­re 1962 mit allen Boo­ten ab.

1996/1997 wur­de das Gelän­de in Lehe auf­ge­ge­ben und der Betrieb nach Wis­mar ver­la­gert. Von dem ehe­ma­li­gen weit­räu­mi­gen Fir­men­kom­plex beim Leher Fried­hof ist nach einem Groß­brand im August 2002 nicht mehr viel übrig geblie­ben. An der Haus­tür des ver­las­se­nen Wohn­hau­ses zeugt noch ein Klin­gel­schild von sei­nem frü­he­ren Bewoh­ner Hans See­beck. Der roman­ti­sche natur­be­las­se­ne Gar­ten mit sei­nen gro­ßen alten Bäu­men lädt noch heu­te zum Ver­wei­len ein.

In dem ehe­ma­li­gen Ver­wal­tungs­ge­bäu­de  und  dem mit die­sem durch einen gro­ßen Tor­bo­gen  ver­bun­de­nen  Gara­gen­trakt haben die  unter  der  Bezeich­nung  “Rock  Cyklus“  zusam­men­ge­schlos­se­nen Musik­grup­pen seit 1999 ein neu­es Domi­zil gefunden. 
Quel­len:
Dr. Hart­mut Bickel­mann, “Ein ande­rer See­beck”, Nie­derd. Hei­mat­blatt 08/2012
Hart­mut Bickel­mann, “Von Geest­en­dorf nach Geest­e­mün­de”, Sei­ten 209, 211
Har­ry Gab­cke, “Bre­mer­ha­ven frü­her-ges­tern-heu­te”, Sei­ten 68 und 69
Din­glers Poly­tech­ni­sches Jour­nal” aus dem Jah­re 1894, Heft 9 Sei­ten 201, 202

10 000 Nachkriegsfotos für das Historische Museum Bremerhaven

Das His­to­ri­sche Muse­um Bre­mer­ha­ven hat im letz­ten Jahr den foto­gra­fi­schen Nach­lass des Bre­mer­ha­ve­ner Repor­ters und Pres­se­fo­to­gra­fen Georg Rog­ge (1910 Dort­mund — 1975 Bre­mer­ha­ven) erhal­ten. Die Stif­tung umfasst sei­ne kom­plet­te Foto­aus­rüs­tung sowie sein Foto­ar­chiv, bestehend aus 7500 Nega­ti­ven und 2500 Fotoabzügen.

Hochhaus | Historische Museum Bremerhaven

Mit die­ser Samm­lung hat unser Muse­um das visu­el­le Gedächt­nis der Nach­kriegs­zeit erhal­ten. Es han­delt sich um eine ein­ma­li­ge Doku­men­ta­ti­on der Geschich­te Bre­mer­ha­vens und Nord­deutsch­lands von 1945 bis 1960 sowie der Anfän­ge der Pres­se­ge­schich­te nach dem Zwei­ten Welt­krieg“, resü­miert Muse­ums­di­rek­to­rin Dr. Anja Ben­scheidt, die den Nach­lass aus Fami­li­en­be­sitz ent­ge­gen­ge­nom­men hat. Rog­ges Ehe­frau Ger­trud hat­te die Samm­lung ihres Man­nes nach sei­nem Tod auf­be­wahrt.
Georg Rog­ge kam als Auto­di­dakt zum Jour­na­lis­mus und zur Foto­gra­fie. Den gebür­ti­gen Dort­mun­der zog Ende der 1920er Jah­re die See­fahrt nach Bre­mer­ha­ven, und hier schlug er Wur­zeln. Nach Ende des Zwei­ten Welt­kriegs, den er als Sol­dat in Däne­mark ver­brach­te, fand Rog­ge eine Anstel­lung bei den ame­ri­ka­ni­schen Streit­kräf­ten. Par­al­lel dazu begann sei­ne jour­na­lis­ti­sche Tätig­keit, ab 1947 als Lokal­re­dak­teur und Chef­re­por­ter bei der Nord­see-Zei­tung, die seit Sep­tem­ber wie­der erschei­nen durf­te. Der dama­li­ge Chef­re­dak­teur Wal­ter Gong lob­te Rog­ges Prä­zi­si­on und sei­ne „Nase“ für tages­ak­tu­el­le Din­ge, die manch einer nie­mals erwer­ben wür­de. Ein wei­te­rer Plus­punkt für Rog­ge war sei­ne pro­fes­sio­nel­le Kame­ra­aus­rüs­tung und sein eige­nes Foto­la­bor zu Hau­se, bei­des kei­ne Selbst­ver­ständ­lich­keit in der Nach­kriegs­zeit. So war Georg Rog­ge mit sei­ner Kame­ra und sei­nem BMW-Cabrio als „rasen­der Repor­ter“ bekannt, der über­all schnell vor Ort war.

Eisenhower in Bremerhaven

Rog­ge berich­te­te in Wort und Bild über hoch­ran­gi­ge Poli­ti­ker­be­su­che, Film­stars, Schiffs­an­künf­te, Sta­pel­läu­fe, Fes­te, Sport­ver­an­stal­tun­gen und vie­les mehr. Über­re­gio­na­le Beach­tung fan­den bei­spiels­wei­se sei­ne Bericht­erstat­tun­gen zur Spren­gung, Beset­zung und Befrei­ung Hel­go­lands 1947 bis 1952 oder zur Blink-Affä­re 1954. Dane­ben doku­men­tier­te er aber auch foto­gra­fisch die Kriegs­zer­stö­run­gen und den Wie­der­auf­bau der Stadt.
Mit der kon­ser­va­to­ri­schen Siche­rung und der wis­sen­schaft­li­chen Auf­ar­bei­tung der Stif­tung beschäf­tigt sich das Muse­ums­team bereits seit Som­mer letz­ten Jah­res. „Jedes Foto erzählt eine Geschich­te, die wir zu ent­schlüs­seln ver­su­chen. Dafür sind teil­wei­se inten­si­ve Recher­chen not­wen­dig“, erzählt Dr. Anja Benscheidt.

Ab 27. Juni 2015 wer­den eine Aus­wahl der Fotos und die Foto­aus­rüs­tung in einer Son­der­aus­stel­lung mit dem Titel „Die Nach­kriegs­zeit auf Bre­mer­ha­ve­ner Pres­se­fo­tos“ im His­to­ri­schen Muse­um Bre­mer­ha­ven zu sehen sein.
Quel­le:
Pres­se­no­tiz vom 21.05.2015 | His­to­ri­sches Muse­um Bremerhaven

Café National – einst das vornehmste Café an der Unterweser

Lieb­ha­ber des Bre­mer­ha­ve­ner Tra­di­ti­ons­ca­fé Natio­nal konn­ten es nicht län­ger ertra­gen, dass das Café mehr als zwei Jah­re leer stand. Sie schlos­sen sich zu einer Betriebs­ge­sell­schaft zusam­men, moder­ni­sier­ten die Ein­rich­tung und eröff­ne­ten das Café am 19. Mai 2015 wieder. 

Café National

Man schrieb das Jahr 1874. Auf dem Grund­stück an der nörd­li­chen Ecke der Lloyd­stra­ße zur Bür­ger­meis­ter-Smidt-Stra­ße stand ein Wohn­haus mit einem Tabak­la­den im Erd­ge­schoss. Erst mit der Bebau­ung des benach­bar­ten Grund­stü­ckes Lloyd­stra­ße 38 wur­de der Grund­stein für den Beginn der Gas­tro­no­mie an die­ser Ecke gelegt. Her­mann Kap­pen­burg ver­ei­nig­te näm­lich 1898 bei­de Gebäu­de und ver­pach­te­te sie.

Damit begann das “Zeit­al­ter” des Café Natio­nal, das eine gro­ße Zeit vor sich haben soll­te. Ein A. Eulen­stein ließ die Häu­ser im Jah­re 1904 von der Leher Bau­fir­ma Kist­ner zu einem zwei­ge­schos­si­gen Jugend­stilgebäu­de aus­bau­en und mit einem Kon­zert­saal, einer gro­ßen Gale­rie und einem Bal­kon versehen. 

Café National

Als nach meh­re­ren Eigen­tü­mer­wech­sel Ende der 1930er Jah­re Rudolf Wede­mey­er das Café Natio­nal erwarb, war die Zeit des Jugend­stils schon lan­ge vor­bei, und so ließ er die Jugend­stil­fas­sa­de ent­fer­nen. Wie soviel ande­re Bre­mer­ha­ve­ner Gebäu­de über­leb­te auch das Café Natio­nal den Luft­an­griff vom 18. Sep­tem­ber 1944 nicht. Den­noch war es nicht das Ende des Tra­di­ti­ons­ca­fés: 1955 kauf­te Josef Voß­hans das Grund­stück und bau­te das Café wie­der auf.

Café National

Für die Bre­mer­ha­ve­ner war das Café Natio­nal schon immer ein belieb­ter Treff­punkt. Wer im Archiv der Nord­see-Zei­tung blät­tert, wird über­rascht sein, wie viel Lieb­schaf­ten hier began­nen – und heu­te noch bestehen.

Carl Fried­rich etwa lern­te vor dem Ers­ten Welt­krieg sei­ne Bäckers­toch­ter Emma bei einem Schö­ne-Bei­ne-Wett­be­werb im Café Natio­nal ken­nen und lud sie zu einer Tas­se Kaf­fee ein. Die zwei­te Tas­se Kaf­fee muss­te sie zwar selbst bezah­len, den­noch wur­de geheiratet.

Café National

Und im Juli 1944 hat sich die Säug­lings­schwes­ter Ella aus dem St.-Josef-Hospital mit ihrer Freun­din ins Café Natio­nal auf­ge­macht. Das Lokal war voll, aber an einem Tisch waren noch zwei Plät­ze frei. An dem Tisch saßen zwei Mari­ne­sol­da­ten – einer hieß Niko­laus, der Ella einen Monat nach dem Luft­an­griff zur Frau nahm und mit ihr im Jah­re 2004 Dia­man­ten­hoch­zeit fei­ern konnte.

Die Jugend ging damals ger­ne ins Café Natio­nal, hier hat­te man die Mög­lich­keit, ein Mädel ken­nen­zu­ler­nen. Auch der Mari­ne­sol­dat Fried­rich lern­te 1942 sei­ne Loui­se 1942 hier ken­nen und hei­ra­te­te sie zwei Jah­re später.

Es war eine ande­re Zeit damals. Ein Mäd­chen ein­fach auf der Stra­ße anspre­chen, das ging gar nicht. Aber Matro­se Huber­tus hat sich im kal­ten Win­ter 1943 bis über bei­de Ohren in sei­ne Milch­ver­käu­fe­rin Lisa ver­liebt und sie vorm Café Natio­nal ange­spro­chen, um sie  zu einem wär­men­den Getränk ein­zu­la­den. 1943 wur­de in der Kreuz­kir­che gehei­ra­tet und im Jah­re 2008 die Eiser­ne Hoch­zeit gefeiert.

Das Archiv der Nord­see-Zei­tung ist voll von Lie­bes­ge­schich­ten, die im Café Natio­nal ihren Anfang nah­men. Auch in den 1950er Jah­ren, nach­dem das Café wie­der auf­ge­baut war, lern­ten sich hier vie­le “Hei­rats­wil­li­ge” ken­nen. Jür­gen etwa hat bei Irm­traud einen guten Ein­druck hin­ter­las­sen, als sich die bei­den im Jah­re 1963 im Café Natio­nal das ers­te Mal begeg­ne­ten. Als sie ihm im Jah­re 1965 das Jawort gab, hol­te er sie in einem wei­ßen Zwei­spän­ner ab.

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Im Jah­re 2003 über­nahm das Ehe­paar Manue­la und Hei­ko Blanck das Tra­di­ti­ons­ca­fé. Im Win­ter stell­te der Kon­di­tor­meis­ter sei­ne belieb­ten Sah­ne­tor­ten mit Scho­ko­la­de oder Mar­zi­pan her. Beson­ders nach­ge­fragt wur­de die so lecke­re “Him­mels­tor­te”, ein kuli­na­ri­scher Genuss aus Sah­ne, Zimt und Man­deln. Im Som­mer wur­de Fruch­ti­ges ser­viert: Gebäck-Krea­tio­nen mit Oran­gen, Kir­schen, Sta­chel­bee­ren oder Rhabarber.

Ger­ne wur­den die Lecke­rei­en in der ers­ten Eta­ge ver­zehrt. Aus dem run­den “Bal­kon” konn­te man so schön das Gesche­hen in der Fuß­gän­ger­zo­ne beob­ach­ten. Aber dann wur­de in Gast­stät­ten und Restau­rants das Rau­chen ver­bo­ten. Und die ver­kehrs­rei­che Kreu­zung erlaub­te kei­ne Bewir­tung drau­ßen vor dem Lokal. Trotz der lecke­ren Tor­ten und des guten Früh­stück­an­ge­bo­tes blie­ben nun immer mehr Stamm­gäs­te weg. Am 18. Dezem­ber 2011 schloss Ehe­paar Blanck das his­to­ri­sche Café im Erd­ge­schoss des sie­ben­ge­schos­si­gen Gebäu­des Lloyd­stra­ße 34 für immer ab.

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Aber nach einem hal­ben Jahr Leer­stand kamen Olga und Ner­min Sablji­ca und schlos­sen das Café am 6. Juni 2012 wie­der auf. Und der Eigen­tü­mer tat alles für eine erfolg­rei­che Ent­wick­lung. An dem vom Bre­mer­ha­ve­ner Archi­tek­ten Josef Voß­hans erbau­ten Gebäu­de ließ er die Fas­sa­de mit dem rund­um­lau­fen­den Fens­ter­vor­bau ori­gi­nal­ge­treu sanie­ren.  Außer­dem beauf­trag­te er ein Spe­zi­al­un­ter­neh­men damit, den alten Neon­schrift­zug zu erneuern.

Und Olga Sablji­ca stürz­te sich mit Enga­ge­ment in ihre neue Auf­ga­be. Zehn Mit­ar­bei­ter, aus­schließ­lich gut geschul­tes Fach­per­so­nal, hat­te sie für die Bewir­tung ihrer Gäs­te ein­ge­plant. Zunächst star­te­te sie mit “gro­ßem Enthu­si­as­mus und fünf Voll­zeit­kräf­ten”, um “das ältes­te Café der Stadt zur neu­en Blü­te zu brin­gen”. Ein Kon­di­tor­meis­ter bekam die Auf­ga­be, dem guten Ruf als “Tor­ten­pa­ra­dies” gerecht zu wer­den. Elsäs­ser Flamm­ku­chen, Crê­pes und eine Wein­kar­te soll­ten zusätz­li­che Gäs­te anlocken.

Café National

Aber schnell war die Eupho­rie der ers­ten Tage ver­flo­gen, Rea­li­tät mach­te sich breit. Das Som­mer­ge­schäft brach­te nicht die erhoff­ten Umsät­ze, und auch das schlech­te Herbst­ge­schäft trieb Olga Sablji­ca abends bei der Abrech­nung oft­mals die Trä­nen in die Augen. Eine schein­ba­re Umsatz­wen­de im Win­ter mit sehr guten Besu­cher­zah­len und vie­len Stamm­gäs­ten konn­te das Schick­sal des Café Natio­nal nicht abwen­den. Bereits acht Mona­te nach der Neu­eröff­nung ver­ließ auch Olga Sablji­ca das denk­mal­ge­schüt­ze Café und zog ein letz­tes Mal die Tür hin­ter sich zu.

Aus für die gepfleg­te Kaf­fee­haus­kul­tur”, schrieb die Nord­see-Zei­tung dar­auf­hin resi­gniert am 19. Janu­ar 2013. Und der Deich­SPIE­GEL frag­te am glei­chen Tag: “Wo soll man nun sei­nen tra­di­tio­nell gefil­ter­ten Kaf­fee trinken?”

Café National

Ist die alte Kaf­fee­haus­kul­tur tot? Wird der einst­mals von unse­ren Groß­el­tern und Urgroß­el­tern so kost­ba­re und geschätz­te Fil­ter­kaf­fee nur noch als “Lat­te” oder als “cofee to go” in bil­li­gen Papp­be­chern aus­ge­schenkt und schnell über den The­re­sen gereicht, um ihn im Vor­über­ge­hen zu trinken?

Heu­ti­ge Cafés haben mit der Atmo­sphä­re frü­he­rer Kaf­fee­häu­ser nichts gemein­sam, der dama­li­ge Zeit­geist ist längst ver­flo­gen. Nie­mand betritt mehr ein Café, um sich für wenig Geld auf­zu­wär­men. Nie­mand mehr sucht hier einen Dis­kus­si­ons­part­ner, um mit ihm über die Unge­rech­tig­kei­ten die­ser Welt zu diskutieren.

Gesprä­che wer­den längst über Face­book und Co. geführt – auch in Cafés. Zwar trifft man hier auch heu­te noch die schlau­en und ach so gebil­de­ten Leu­te an – auf unbe­que­men Sche­meln kau­ernd schie­ben sie ihre Muf­fins in sich hin­ein, ja nicht den Blick von ihrem smart­phone, ipho­ne oder tablet neh­mend. Ich fin­de, Boris Pofalla trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er im “Cice­ro” so tref­fend schreibt: “Aus einer Ver­wahr­stel­le für Intel­lek­tu­el­le und Bohe­mi­ens sind Aqua­ri­en für digi­ta­le Autis­ten gewor­den.” Und ein paar Absät­ze wei­ter stellt er fest: “Euro­pas Geis­tes­ge­schich­te ist aber nicht denk­bar ohne den besin­nungs­lo­sen Miss­brauch von Kof­fe­in, vom 17. Jahr­hun­dert an bis in die Gegenwart.”

Café National

Nach die­sem klei­nen Exkurs über das Damals und Heu­te nun aber wie­der zurück zu unse­rem Café Natio­nal. Wie ich ein­gangs bereits schrieb, gibt es in Bre­mer­ha­ven eine Hand­voll Lokal­pa­trio­ten, die den alten Treff­punkt Tra­di­ti­ons­ca­fé wie­der­be­le­ben wol­len. Aller­dings wol­len sie das bis­he­ri­ge Kon­zept, mit dem bereits die Vor­päch­ter geschei­tert sind, fort­füh­ren: Mor­gens wird eine klei­ne Früh­stücks­kar­te mit selbst gemach­ten Mar­me­la­den, Cup Cakes und Muf­fins ange­bo­ten. Die Bröt­chen stam­men nicht vom Bäcker son­dern aus der Tief­kühl­tru­he. Ich has­se lang­wei­li­ge Auf­back­bröt­chen. Ich mag sie ein­fach nicht, die­se krü­me­li­gen luft­ge­füll­ten Teig­hül­len, die nach nichts schmecken.

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Mit­tags kann man aus ver­schie­de­nen Sala­ten wäh­len oder eine Sup­pe oder eine Piz­za ordern. Nach­mit­tags füllt man sich den bauch dann mit Flamm­ku­chen, Bruschet­ta und Oli­ven. Mei­ne Güte, wie gäh­nend lang­wei­lig. Und das die gelern­te Patis­siè­re schon mal für Star­koch Eck­art Wit­zig­mann Fein­ge­bäck her­ge­stellt haben soll, das haut mich auch nicht vom Hocker und macht mich ganz gewiss nicht neu­gie­rig auf das Café. Aber Lesun­gen, Rezi­ta­tio­nen, Kaba­rett, Chan­sons…, so machen es ande­re längst erfolg­reich vor, so wür­de auch ich neu­gie­rig wer­den. Und da ich mir an einem Sams­tag Nach­mit­tag nichts Schö­ne­res vor­stel­len kann, als einen guten Kaf­fee trin­ken zu gehen, wür­de ich bestimmt ganz vor­ne in der Schlan­ge stehen.

Café National

Toll fin­de ich, dass ein Kaf­fee eines alt­ehr­wür­di­gen Unter­neh­mens zum Aus­schank kommt. Die Juli­us-Meinl AG, gegrün­det im Jah­re 1862, bürg­te schon in der k.u.k. Mon­ar­chie für Qua­li­tät. Aber bit­te, lie­bes Natio­nal-Team, brüht den Kaf­fee nach her­kömm­li­cher Art auf, und fil­tert ihn.

Ja, ich weiß, bei Fil­ter­kaf­fee denkt man unwill­kür­lich Häkel­deck­chen und Wür­fel­zu­cker und an die Besu­che bei Oma oder bei Schwie­ger­mut­ter, bei denen der Fil­ter­kaf­fee tief­schwarz die Kan­ne ver­ließ und, kaum getrun­ken, den Magen mit Sod­bren­nen mal­trä­tier­te. Aber wenn man einen frisch gemah­le­nen Meinl-Kaf­fee mit nicht mehr kochen­dem Was­ser auf­brüht, rückt der Kaf­fee sei­ne köst­li­chen Inhalts­stof­fe raus und ent­fal­tet ein unver­gess­li­ches Aroma.

Café National

Ach, ich mer­ke es, ich schwei­fe schon wie­der ab. Also retour ins Café Natio­nal. Da kann man sich per Fahr­stuhl in den ers­ten Stock beför­dern las­sen. Eine tol­le Sache für geh­be­hin­der­te Men­schen, die auch mal ger­ne auf die Köp­fe der Bre­mer­ha­ve­ner Bür­ger schau­en möchten.

Ich wün­sche dem Team vom Café Natio­nal jeden­falls viel Glück und erfolg­rei­che Geschäf­te. In der Nacht vom ver­gan­ge­nen Frei­tag auf Sams­tag hat ein gro­ßer Was­ser­scha­den  Euer frisch sanier­tes Café lahm­ge­legt. Das ist sehr ärger­lich, auch wenn Ihr gegen sol­che Ele­men­tar­schä­den ent­spre­chend ver­si­chert seid. Aber ich bin sicher, die­se “klei­ne Stö­rung” wird Euch zwar brem­sen, aber sie wird Euch nicht auf­hal­ten. 
Quel­len:
Nord­see-Zei­tung vom 9.10.2004:  Die Hei­rat war mein Lebens­ret­ter
Nord­see-Zei­tung vom 21.10.2004:  Reden als Rezept für 60 Jah­re Lie­be
Nord­see-Zei­tung vom 4.11.2004: Vor­nehms­tes Café der Unter­we­ser­or­te
Nord­see-Zei­tung vom 2.2.2007: Ein Stück Paris in Bre­mer­ha­ven
Nord­see-Zei­tung vom 3.7.2008: Ange­quatscht, lieb gehabt, durch­ge­hal­ten
Nord­see-Zei­tung vom 9.12.2011: Lie­be erkal­tet. Café Natio­nal schließt
Nord­see-Zei­tung vom 30.5.2012: Neu­es Leben im Natio­nal
Nord­see-Zei­tung vom 19.1.2013: Aus für die gepfleg­te Kaf­fee­haus­kul­tur
Nord­see-Zei­tung vom 28.9.2013: Die schö­nen Bei­ne waren schuld dar­an
Nord­see-Zei­tung vom 8.4.2015: Bräu­ti­gam fuhr mit der Kut­sche vor
Nord­see-Zei­tung vom 9.5.2015:
Lokal­pa­trio­ten bele­ben das “Café National”

Amerikaner in Bremerhaven — Folge 2

Als bri­ti­sche Trup­pen der 51. High­land Divi­si­on am 7. Mai 1945 Weser­mün­de besetz­ten, fan­den sie eine Stadt vor, die einem rie­si­gen Trüm­mer­hau­fen glich. Und eine Bevöl­ke­rung, die gro­ße Not litt. Die kei­ne Lebens­mit­tel hat­ten und deren Woh­nun­gen durch Luft­an­grif­fe zer­stört wurden.

1945-05-07 Einmarsch britischer Truppen in Wesermünde

Am 29. Mai 1945 brach­te ein ame­ri­ka­ni­scher Kriegs­be­richt­erstat­ter sei­ne ers­ten Ein­drü­cke über von Weser­mün­de zu Papier: “Eine vier­tel Mei­le vom Hafen ist die Stadt gänz­lich dem Erd­bo­den gleich­ge­macht.” Die völ­lig zer­stör­ten Stra­ßen­zü­ge waren nicht mehr wie­der­zu­er­ken­nen. Nur die Hafen­an­la­gen wur­den von den Bom­ben der alli­ier­ten Flug­zeu­ge bewusst ver­schont, weil die US-Trup­pen sie als Nach­schub­ha­fen für die Zeit nach Kriegs­en­de benötigten.

Zwar war Weser­mün­de schon am 15., 18. und 24. Juni 1944 Ziel grö­ße­rer alli­ier­ter Bom­ben­an­grif­fe, bei denen über 1.000 Spreng- und Brand­bom­ben nie­der­gin­gen. Aber ihren Höhe­punkt soll­ten die Luft­an­grif­fe am Abend des 18. Sep­tem­ber 1944 errei­chen. Nur 20 Minu­ten dau­er­te der Bom­ben­an­griff, dann waren der Stadt­teil Weser­mün­de-Mit­te zu 97 Pro­zent zer­stört, Geest­e­mün­de zu 75 Pro­zent und Lehe zu 12 Pro­zent. 2670 Gebäu­de waren völ­lig zer­stört, 369 schwer und 1491 leicht beschä­digt. 618 Per­so­nen ver­lo­ren ihr Leben und 30.000 wur­den obdachlos.

1945-05-12 51. Highland Division in Wesermünde

Mit Beginn der Kapi­tu­la­ti­ons­ver­hand­lun­gen im Haupt­quar­tier Mont­go­me­rys began­nen auch im Raum Weser­mün­de Waf­fen­still­stands­ver­hand­lun­gen. Als am 05. Mai 1945 die Wehr­macht in Nord­west­deutsch­land kapi­tu­lier­te, kehr­te auch in Weser­mün­de end­lich die Waf­fen­ru­he ein. Die Men­schen erkann­ten, dass der Krieg ver­lo­ren war und woll­ten den­noch nicht ohne Hoff­nung blei­ben. So emp­fan­den vie­le den von Dudel­sä­cken beglei­te­ten Ein­marsch der 51. High­land Divi­si­on in Weser­mün­de als Befrei­ung von der Nazi-Dik­ta­tur und auch als Erlö­sung von Flie­ger­alarm und Luft­an­grif­fen und von Tod, Angst und Leid.

1945-05-07 letzte Ausgabe der Nordwestdeutschen Zeitung

Nach Kriegs­en­de ver­bot die Mili­tär­re­gie­rung wei­te­re Aus­ga­ben der Nord­west­deut­schen Zei­tung. Am 7. Mai 1945 erschien die letz­te Aus­ga­be der Nord­west­deut­schen Zei­tung. Die bri­ti­sche Mili­tär­be­hör­de gab eine ers­te “Anord­nung für die Bevöl­ke­rung” bekannt:

1. Mit sofor­ti­ger Wir­kung und bis auf Wider­ruf müs­sen alle Zivil­per­so­nen in den Häu­sern blei­ben. Auf Per­so­nen, die die­sem Befehl zuwi­der han­deln, kann ohne Anruf geschos­sen werden.
2. Nach 24 Stun­den wird  die Zivil­be­völ­ke­rung über etwa­igen Nach­laß die­ses Befehls unter­rich­tet werden.
3. Haus­vor­stän­de müs­sen sofort eine Lis­te mit Vor- und Zuna­men, Geburts­da­tum, Geschlecht und Beschäf­ti­gung aller Haus­ein­woh­ner an ihren Haus­tü­ren anbringen.
4. Eine ähn­li­che Lis­te aller Schuß­waf­fen und Muni­ti­on ist von den Haus­vor­stän­den an ihren Haus­tü­ren anzubringen.
5. Das Ver­ber­gen oder Beher­ber­gen von Ange­hö­ri­gen der deut­schen Streit­kräf­te ist eine straf­ba­re Handlung.
6. Per­so­nen, die die­sen Anord­nun­gen zuwi­der han­deln, kön­nen gericht­lich ver­folgt und nach Schul­dig­erklä­rung zu jeder gesetz­li­chen Stra­fe, ein­schließ­lich Todes­stra­fe, ver­ur­teilt werden.

Gegen 17 Uhr über­gab Ober­bür­ger­meis­ter Deli­us die Ver­wal­tung der Stadt bri­ti­schen Offi­zie­ren. Als kur­ze Zeit spä­ter die Stadt der ame­ri­ka­ni­schen Besat­zungs­zo­ne zuge­teilt wur­de, über­ga­ben die Eng­län­der die Stadt am 12. Mai 1945 mit einer Mili­tär­pa­ra­de an die 29. Divi­si­on der Ame­ri­ka­ner. Fort­an führ­te die ame­ri­ka­ni­sche Mili­tär­re­gie­rung die Ver­wal­tung der Stadt, die den Besat­zern als “Port of Embar­ka­ti­on” die­nen soll­te, um die Ver­sor­gung ihrer haupt­säch­lich in Süd­deutsch­land sta­tio­nier­ten Ver­bän­de über den See­weg abwi­ckeln zu können.

1945-05-12 Victoriamarsch 51. Highland Division in Wesermünde

Die Sol­da­ten bezo­gen die Leher Kaser­nen­ge­bäu­de und die Mari­ne­schu­le. Für ihre Offi­zie­re beschlag­nahm­ten die Ame­ri­ka­ner 680 Weser­mün­der Woh­nun­gen und ver­schärf­ten damit die ohne­hin bereits herr­schen­de Woh­nungs­not, was die Bevöl­ke­rung mit gro­ßem Unver­ständ­nis aufnahm.

Ein Groß­teil der Men­schen, die durch den Bom­ben­an­griff im Sep­tem­ber 1944 obdach­los wur­den, konn­ten nur das ret­ten, was sie am Lei­be tru­gen. Selbst ihre Klei­dung war ver­lo­ren, was in Anbe­tracht des bevor­ste­hen­den Win­ters eine Kata­stro­phe war. Auch an Schu­hen fehl­te es, und vie­le Kin­der muss­ten bar­fuß gehen.

Aber mit den Besat­zern kamen auch die ers­ten “Arbeits­plät­ze” wie­der nach Weser­mün­de. Frau­en began­nen Wäsche für die Ame­ri­ka­ner zu waschen. Wer für Sol­da­ten Dienst­leis­tun­gen erbrach­te, konn­te damit rech­nen, dass er mit einem Dan­ke­schön in Form von Ziga­ret­ten, Scho­ko­la­de oder Sei­fe bedacht wur­de. Alles sehr kost­ba­re Güter: Die­se “Ersatz­wäh­rung” konn­te man in den Dör­fern – oder im Stadt­park — gegen Obst, Gemü­se und ande­re Lebens­mit­tel eintauschen.

1947 Vor dem Marinelazarett

Die Ame­ri­ka­ner waren sehr kin­der­lieb und schenk­ten den Kin­dern stän­dig irgend­wel­che Nasche­rei­en wie Hers­hey-Scho­ko­la­de, Can­dies, But­ter­fin­ger-Rie­gel und Eis­creme. In sei­nem Buch “16 Jah­re – 16 Leben, Die ame­ri­ka­ni­sche Sei­te Bre­mer­ha­vens” beschreibt Mar­co Butz­kus hier­zu eine Erinnerung:

Der Sol­dat… kam nach kur­zer Zeit mit einem geschlos­se­nen Last­wa­gen zurück. Er öff­ne­te den Lade­raum und fing damit an, 5‑Li­ter-Dosen an uns Kin­der zu ver­tei­len, das waren bestimmt zwan­zig Stück und dar­in war Eis­creme. Sobald jedoch eines der Kin­der eine der Dosen hat­te, rann­te es damit zum nächs­ten Haus­ein­gang und klin­gel­te. Die ers­te an der Tür erschei­nen­de Per­son bekam die Dose mit den Wor­ten” Schnell esse – Eis­creme” , in die Hand gedrückt. Der Sol­dat schau­te sich das Trei­ben sehr spar­sam an und frag­te dann, war­um das getan wur­de. Die Kin­der erklär­ten ihm, dass sie das nicht auf­be­wah­ren könn­ten, weil die Deut­schen kei­ne Kühl­schrän­ke hät­ten. Der guck­te völ­lig ent­setzt und frag­te wirk­lich, wie wir ohne Kühl­schrank leben könnten.

1951 Ankunft 28. Infantrie Division in Bremerhaven

Vie­le Kin­der trans­por­tier­ten die gewa­sche­ne Wäsche mit einem Hand­kar­ren an die Sol­da­ten zurück. Auch der damals zehn­jäh­ri­ge Wer­ner Mohr lie­fer­te für sei­ne Mut­ter Wäsche aus. Als ein GI sieht, dass der Jun­ge bar­fuß ist, schenkt er ihm Schuh­creme und gibt ihm den Rat, für die Offi­zie­re Schu­he zu putzen.

Spä­ter beginnt Wer­ner, neben sei­ner Tisch­ler­leh­re als Cad­die auf dem Golf­platz der Sta­ging Area Wed­de­war­den zu arbei­ten. Hier schleppt er die Taschen der Gol­fer über den Platz und sam­melt Golf­bäl­le ein und ver­kauft sie. Er ver­dient gut mit die­ser Arbeit: Gera­de 18 Jah­re alt, lässt er sich für 180 Mark einen Maß­an­zug schnei­dern. Wer­ner Mohr hat vie­le Freund­schaft mit ame­ri­ka­ni­schen Sol­da­ten geschlos­sen. Die meis­ten hat er nach dem Abzug der Ame­ri­ka­ner aus den Augen ver­lo­ren, doch eine Freund­schaft hat die Jahr­zehn­te über­dau­ert – und hält bis heu­te an.

1946 Columbus Kai Bremerhaven

Als in den USA bekannt wur­de, dass in Euro­pa vie­le Men­schen hun­gern müs­sen, grün­de­ten am 27.11.1945 ame­ri­ka­ni­sche Wohl­fahrts­ver­bän­de die Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on CARE, und im August 1946 tra­fen die ers­ten CARE-Pake­te in Weser­mün­de ein. Im Okto­ber 1947 kamen in Bre­mer­ha­ven 12.000 Pake­te von Freun­den, Ver­wand­ten und Bekann­ten per Schiff an und ver­sorg­ten ihre Emp­fän­ger mit Kon­ser­ven, Milch­pul­ver, Süßig­kei­ten und Bekleidung.

Für vie­le Kin­der war die von den Ame­ri­ka­nern geför­der­te “Schul­spei­sung” die ein­zi­ge war­me Mahl­zeit am Tag. Für das ers­te Weih­nachts­fest nach dem Krie­ge haben haben sich die Ame­ri­ka­ner etwas Beson­de­res aus­ge­dacht: Etwa 800 Schul­kin­der wur­den zu einer Fei­er ein­ge­la­den und beschenkt. Wer­ner Mohr konn­te ein dickes kana­di­sches Woll­hemd aus­pa­cken. In der Hemd­ta­sche fand er einen Zet­tel mit der Anschrift des Absen­ders aus Illi­nois. Es ent­wi­ckel­te sich eine enge lang­jäh­ri­ge Brieffreundschaft.

Kasernengelaende

Mit der Ankunft der Ame­ri­ka­ner ging es hier wie­der Stück für Stück berg­auf“, erwähn­te eine heu­te 82-Jäh­ri­ge, die in ihrem CARE-Paket schwar­ze Lack­schu­he für ihre Kon­fir­ma­ti­on fand, gegen­über de Nordsee-Zeitung.
Quel­len:
Mar­ti­na Albert: Vom Wäsche­jun­gen bis zum…, Nord­see-Zei­tung vom 10.3.2015
Mar­ti­na Albert: Neu­an­fang in einer zer­stör­ten Stadt,
Nord­see-Ztg. vom 9.1.2015
Har­ry Gab­cke: Bre­mer­ha­ven in zwei Jahr­hun­der­ten , 1919 – 1947, Sei­te 133+134
Mar­co Butz­kus:
16 Jahre–16 Leben, Die ame­ri­ka­ni­sche Sei­te Bre­mer­hav, Sei­te 16
www.schuenemann-verlag.de
www.usarmygermany.com
www.wikipedia.org