Oda Kelch: Erinnerungen an meine Georgstraße

Erin­ne­run­gen an mei­ne Georg­stra­ße” habe ich die­sem Arti­kel als Über­schrift gege­ben. Dazu mei­nen ganz lie­ben Dank an Oda Kelch, die mir ihre auf­ge­schrie­be­nen Kind­heits­er­in­ne­run­gen an “ihre gelieb­te Georg­stra­ße” zur Ver­fü­gung gestellt hat mit der Erlaub­nis, die­sen Wis­sens­schatz für die Leser des “Deich­SPIE­GEL” zu veröffentlichen. 

Erinnerungen an meine Georgstraße

Seit 1847 gibt es Geest­e­mün­de, vom dama­li­gen König Georg V ( Sohn von König Ernst August, vor­mals Her­zog von Cum­ber­land — Sohn Georg III von Eng­land — und sei­ner Gemah­lin Frie­de­ri­ke, Schwes­ter der belieb­ten Köni­gin Lui­se von Preu­ßen ) gegrün­det. Seit 1862 die Eisen­bahn­ver­bin­dung, die “Geest­e­bahn”, nach Bremen.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Und einer von den dort beschäf­tig­ten Loko­mo­tiv­füh­rern war mein Urgroß­va­ter. Er bewohn­te mit sei­ner Fami­lie eine Dienst­woh­nung nahe dem Bahn­hofs­ge­bäu­de, Ecke Ell­horn­stra­ße und war ein­ge­fleisch­ter “Wel­fe”, wie sich die dama­li­gen “Fans” des han­no­ver­schen Königs­hau­ses nannten.

1864 wur­de mein Groß­va­ter Bern­hard Knob­lauch gebo­ren. Zwei Jah­re spä­ter dann die natio­na­le Kata­stro­phe: König­grätz. Das Water­loo für alle “Wel­fen”. Aber spä­ter nahm mein Urgroß­va­ter die preu­ßi­sche Pen­si­on ohne Mur­ren hin. Mit den neu­en Her­ren wur­de vie­les anders. Der Bahn­hof wur­de um etli­ches erwei­tert, und dafür muss­ten die Dienst­woh­nun­gen abge­ris­sen und die Bewoh­ner umge­sie­delt wer­den. Knob­lauchs zogen um in die dama­li­ge Markt­stra­ße, heu­te Ver­de­ner Stra­ße, in Altgeestemünde.

Ihre Nach­barn waren Harz­mey­ers, deren Fami­li­en­ober­haupt der Schuh­ma­cher Her­mann war. Wie vie­le Kin­der jede Fami­lie hat­te und um wel­che Zeit sich das alles abspiel­te, weiß ich nicht. Von Erzäh­lun­gen mei­ner Mut­ter, Groß­mutter, ‑vater, ‑tan­te ist mir ledig­lich bekannt, dass mein Groß­va­ter und der Sohn Her­mann Harz­mey­er enge Freun­de wur­den. Jung-Harz­mey­er lern­te das Schuh­ma­cher-Hand­werk, mein Groß­va­ter das des Uhr­ma­chers. Nach der Leh­re ging er als Gehil­fe für eini­ge Zeit nach Sangershausen.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Als er zurück­kam und sei­nen Freund und Nach­barn begrü­ßen woll­te, stand des­sen Schwes­ter  Hele­ne  im Raum. Nach sei­nem Weg­gang sag­te sie ent­setzt zu ihrer Mut­ter: ” Nee doch, dis­sen swat­ten Dübel!” — Kur­ze Zeit spä­ter waren sie ver­lobt. Das alles spiel­te sich in Geest­e­mün­de ab. Süd­öst­lich davon lag — und liegt heu­te noch — die Gemar­kung Geest­en­dorf, durch die sich die Bre­mer Land­stra­ße hin­zog. Sie war in “Georg­stra­ße” umbe­nannt wor­den ( nach dem letz­ten han­no­ver­schen König ) und soll­te nun bebaut wer­den. Mein Groß­va­ter und sein — mitt­ler­wei­le — Schwa­ger grif­fen zu.  Auch hier­von weiß ich nicht die Zeit. Es muss in den aus­ge­hen­den 1980er Jah­ren gewe­sen sein.

Mein Opa hat­te im Haus Georg­stra­ße 43 einen Laden, in dem er in einem Hin­ter­zim­mer sei­ne Werk­statt und die Fami­lie ihre Wohn­räu­me ein­schließ­lich Küche hat­te. Irgend­wann gab es auch Gas­be­leuch­tung. Die dazu­ge­hö­ri­gen Roh­re waren noch 1944 zu sehen. Da mein Groß­va­ter immer die Nase vorn hat­te, gab es aber bald Elek­tri­zi­tät. Haus­be­sit­zer war sei­ner­zeit noch ein Tier­arzt. Um das Vieh auf dem Hof anzu­bin­den, hat­te er Rin­ge in das Neben­haus Nr. 45 schla­gen las­sen, die von spä­te­ren Gene­ra­tio­nen Mäd­chen zum Seil­sprin­gen benutzt wurden.

Wie kam man auf den Hof, der doch rings­um von Gebäu­den umge­ben war? Wenn man sich das Haus auf alten Fotos ansieht, erkennt man ganz links ein Bar­bier­ge­schäft. Das gab es ursprüng­lich nicht, denn da war die Ein­fahrt zum Hof. Als man die nicht mehr brauch­te, hat man davon einen Laden gemacht.

Wann mein Opa das Haus kau­fen konn­te, weiß ich nicht. Mei­ne Mut­ter und ihre Schwes­ter haben jeden­falls ihre ers­ten Lebens­jah­re noch im Laden ver­bracht. “Von Sporn un Worn kommt Heb­ben von her” — und die Ver­mie­tung der Woh­nun­gen brach­te schon aller­lei ein. Da konn­te man sich selbst einschränken.

Irgend­wann wur­de das Hin­ter­haus gebaut. Zunächst als Wohn­haus, dann als Dru­cke­rei. Bis nach dem Krieg war die “Weser­dru­cke­rei” Inha­ber. Frü­he­re Inha­ber waren u.a. Nieb­ling & Feld­ba­cher, die im Vor­der­haus den klei­nen Laden links vom Ein­gang, also zwi­schen dem gro­ßen Laden und dem Bar­bier hat­ten. Wie lan­ge, das weiß ich nicht. Mei­ne Erin­ne­rung setzt erst ein, als Herr und Frau Birn­baum dort ein Musi­ka­li­en­ge­schäft hat­ten. Das Inter­es­san­tes­te an ihnen war, dass sie nicht in einem gewöhn­li­chen Haus wohn­ten, son­dern hin­ten in Lehe in einem Wochen­end­haus, und bei einer Über­schwem­mung ihre Hüh­ner im Wohn­haus hat­ten. Ich habe es mir ange­se­hen als mein Vater mit mir dahin fuhr.

Anfang des Krie­ges zogen sie aus. Thams & Garfs hat­ten Inter­es­se an unse­rem gro­ßen Laden. Da nahm mein Vater den klei­nen und über­ließ ihnen den ande­ren. Aber ich grei­fe schon vor.

Irgen­wann zogen mei­ne Groß­el­tern in den zwei­ten Stock des Hau­ses. Auf dem Foto steht mei­ne Groß­mutter mit mei­ner Mut­ter (gebo­ren 1896) und mei­ner Tan­te (gebo­ren 1898) auf dem Bal­kon. Aus den Fens­tern gucken die übri­gen Haus­be­woh­ner, denn es war ja vor­her ange­kün­digt wor­den, dass ein Foto­graf kommt. Unten im gro­ßen Haus­ein­gang steht mein Groß­va­ter mit Ange­stell­ten oder Passanten.

Das Haus hat­te zwei Eta­gen mit ins­ge­samt vier Woh­nun­gen. Ganz oben war ein gro­ßer Boden mit etli­chen Boden­kam­mern und einer Wasch­kü­che, die mein Groß­va­ter nach den moderns­ten Gesichts­punk­ten hat­te ein­rich­ten las­sen. Der übri­ge Boden­raum war mit Lei­nen bespannt und dien­te zum Trock­nen. Aller­dings waren auch Zieh­lei­nen von den Bal­kons zum Kon­tor­haus der Dru­cke­rei gespannt zum Trock­nen bei schö­nem Wet­ter. Noch heu­te habe ich das Quiet­schen und das Geräusch der ros­ti­gen Sei­le beim Hin- und Her­zie­hen in den Ohren.

Außer­dem lagen auf dem Boden die Fah­nen. Mei­ne ers­te Erin­ne­rung waren die schwarz-weiß-rote, gro­ße, lan­ge, schwe­re. Spä­ter irgend­wann kam eine klei­ne Haken­kreuz­fah­ne dazu. Und eines Tages gab es nur noch sol­che, aber auch gro­ße. Geflaggt wur­de viel. War auch kein Pro­blem. Nur waren die Mas­ten so schwer, dass nur Män­ner sie bewäl­ti­gen konn­ten. Und für uns Kin­der jedes Mal span­nend. Mein Groß­va­ter und mein Vater haben aber sicher­lich mit den Zäh­nen wegen der Ände­rung zum Haken­kreuz geknirscht. Gesagt haben sie in Gegen­wart von uns Kin­dern nichts — wie eh und je.

Und dann war da oben noch eine Kam­mer. Wir waren ja in Preu­ßen (oder war das woan­ders auch so?). Ob sie jemals dazu gedient hat, Ein­quar­tie­rung auf­zu­neh­men, weiß ich nicht. Ich habe nur in Erin­ne­rung, dass wir ein­mal wel­che hat­ten, ob Sol­da­ten oder “braun”. Ansons­ten spiel­ten wir Kin­der gern dar­in, weil da alte aus­ran­gier­te Möbel stan­den, die so herr­lich rochen, knarr­ten, quietsch­ten und das Fens­ter so schön nied­rig war, und man so weit gucken konnte.

Am schöns­ten war ein alter Bar­bier­stuhl aus dem Nach­lass mei­nes Groß­va­ters Andre­as Kelch. Viel anfan­gen konn­ten wir nicht mit dem Möbel­stück, aber er dreh­te sich wie unser Kla­vier­ho­cker. Dass man sol­che Behau­sung anbot, ver­ste­he ich heu­te nicht. Es fehl­te näm­lich die heu­te selbst­ver­ständ­li­che sani­tä­re Ein­rich­tung. Statt des­sen: Nacht­pott und Waschschüssel.

Der sani­tä­re Stan­dard, den wir heu­te haben, fehl­te sowie­so im Haus. Flie­ßend Kalt­was­ser gab es zwar in jeder Woh­nung. Aber die Klo­setts waren auf dem Bal­kon, bzw. ein Pis­soir für die Läden auf dem Hof. Mei­ne Groß­el­tern hat­ten in ihrer Woh­nung aus einem Zim­mer ein Bade­zim­mer machen las­sen. Das war wohl auch spä­ter sehr nötig, denn mein Groß­va­ter war durch einen Schlag­an­fall halb­sei­tig gelähmt.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Doch erst mal wie­der zurück zur Anfangs­zeit. Bern­hard Knob­lauch hat­te das Haus Georg­stra­ße 43, sein Freund und Schwa­ger — viel­leicht auch noch sein Schwie­ger­va­ter — das Haus Georg­stra­ße 41. Auf jeden Fall aber sei­ne Schwie­ger­mut­ter, Oma Harz­mey­er Tabe­ta, geb. Mahl­stedt aus Gan­der­ke­see, mei­ne Urgroß­mutter. Die hat­te die Hosen an! Ihre Toch­ter, mei­ne Groß­mutter, eben­so. Das war wohl so üblich. Sie waren die See­le vom Gan­zen. Wie hät­ten die Hand­wer­ker es sonst schaf­fen kön­nen? Mein Opa Knob­lauch brach­te zum Bei­spiel häu­fig bei ihm gekauf­te oder repa­rier­te gro­ße Uhren per­sön­lich zu den Kun­den auf das Land, denn er hat­te eine gro­ße Land­kund­schaft. Daher war es auch selbst­ver­ständ­lich, dass er platt schnack­te — und Frau und Toch­ter, die im Laden hal­fen, ebenso.

Das alles ohne eige­nes Fahr­zeug. Er war auf öffent­li­che Trans­port­mit­tel ange­wie­sen und mach­te vie­le Stre­cken zu Fuß. Es gab aber auch Lus­ti­ges: eines Tages kam eine Frau in den Laden und ließ sich ziem­lich kost­spie­li­gen Schmuck vor­le­gen. Als mei­ne Mut­ter dann vor­sorg­lich auf den hohen Preis hin­wies, erwi­der­te sie see­len­ru­hig: “Macht nix, min Mann fohrt dor ja för.”

Heu­te, 2014, wird in den Medi­en immer wie­der auf die ver­gan­ge­nen 100 Jah­re hin­ge­wie­sen und man könn­te glau­ben, sie erzäh­len von der Stein­zeit. Mir dage­gen sind die ver­gan­ge­nen 100 Jah­re wie ges­tern, obwohl ich sie nur zur Hälf­te erlebt habe. Das habe ich mei­ner Mut­ter, mei­nen Groß­el­tern und Tan­ten zu ver­dan­ken. Die konn­ten viel erzäh­len. Irgend­wo in Geest­e­mün­de, in der Georg­stra­ße und “umzu” wohn­ten sie alle, kann­ten sich alle, waren zusam­men zur Schu­le oder in die Tanz­stun­de gegan­gen, hat­ten bei Fräu­lein Block in der Gra­ben­stra­ße (heu­te Ram­sau­er­stra­ße) Weiß­nä­hen gelernt, oder “die fei­ne Küche” bei Lehr­ke, oder hat­ten Wan­de­run­gen mit dem Wan­der­vo­gel gemacht, waren in einem Turn­ver­ein (GTV oder GSC) oder Gesangs­ver­ein oder zog mit dem Wan­der­vo­gel durch die Lande.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Es gab noch kei­ne Teen­ager, aber dafür Back­fi­sche. Und die gin­gen auf der Georg­stra­ße bum­meln (Die Stei­ge­rung war “bür­gern”). Mit 14 Jahr und 7 Wochen ist der Back­fisch aus­ge­kro­chen. Dafür gab es extra Kett­chen mit einem klei­nen Fisch. Zu mei­ner Zeit war das nur noch Erin­ne­rung mei­ner Mut­ter und Tan­ten. Die­se 14/15jährigen trip­pel­ten dann mit ihren Stie­fel­chen und Hin- und Her­bü­del (Pom­pa­dur) die Georg­stra­ße auf und ab, schiel­ten ver­stoh­len zur Sei­te, wo die Pen­nä­ler eben­falls auf und ab schlen­der­ten und ver­mut­lich auch ver­stoh­len zu den jun­gen Damen schiel­ten. Jeden­falls zogen sie hin und wie­der ihre damals übli­chen Schü­ler­müt­zen zum Gruß. Sehr förm­lich! Auf der weib­li­chen Sei­te wur­de die Gegrüß­te sicher­lich rot und ver­le­gen — ver­gaß aber nicht, die Sache ins Notiz­buch einzutragen.

War die Cho­se vor­bei, wur­de unter den Freun­din­nen aus­ge­zählt, wer die meis­ten Grü­ße bekom­men hat­te. Aber nicht nur die Anzahl zähl­te, son­dern auch — und vor allen Din­gen — die Far­be der Müt­zen. Ein­zel­hei­ten weiß ich nicht mehr, aber soviel, dass die wei­ßen den höchs­ten Wert hat­ten. Das waren die Pri­ma­ner (spä­ter Ober­pri­ma­ner). Aber auch die­se Epi­so­den habe ich nicht mehr erlebt.

Mei­ne Erin­ne­rung von der Georg­stra­ße 43, in der ich auf­ge­wach­sen bin, setzt eigent­lich ein mit dem Aus­gu­cken vom Erker­fens­ter mei­ner Groß­el­tern. Das war unge­heu­er viel. Anfang der 1930er Jah­re. Da fuh­ren noch Pfer­de­fuhr­wer­ke durch die Stadt, Rind­vieh wur­de — ich weiß nicht, woher — durch die Stra­ße zum Schlacht­hof getrie­ben. Ein­mal woll­te eine Kuh nicht mit­ma­chen son­dern zog unse­ren Haus­ein­gang und den dahin­ter lie­gen­den Hof und Gar­ten vor. Mein Vater, der den Umgang mit Vie­chern kann­te, brach­te sie dann wie­der zur Her­de zurück.

Dann war da auch ein Stein­koh­len­wa­gen, mit dem die Häu­ser von der Stra­ße her belie­fert wur­den. Und Frau Sche­we an der Ecke Georg- und Ram­sau­er­stra­ße, unse­rem Erker direkt gegen­über, die vom ihrem Kar­ren aus per Liter­maß Gra­nat verkaufte.

Und der Later­nen­mann. Vor unse­rem Haus stand eine alte Later­ne. Wie­so, weiß ich nicht, denn es gab doch nor­ma­ler Wei­se Stra­ßen­be­leuch­tung. Und zu eben die­ser Later­ne kam hin und wie­der ein Later­nen­mann mit einer lan­gen Stan­ge. Was er damit oben an der Later­ne mach­te, weiß ich nicht.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Eben­so schön anzu­se­hen waren die Trau­er­zü­ge. Ach, waren die schön! Eine Kut­sche wie für einen König, aber nicht gol­den son­dern schwarz, mit Kut­scher, und viel Blu­men und Musik­ka­pel­le, die den Trau­er­marsch spiel­te. Opa sang dann immer: “Ach, nun trinkt er kei­nen Rots­pon mehr.” Meis­tens gin­gen vie­le Men­schen mit. Dann schau­kel­te die Men­ge im ein­tö­ni­gen Rhyth­mus immer von links nach rechts und wie­der zurück.

Aber auch moder­ne Fahr­zeu­ge gab es zu sehen: Autos! Wir hat­ten Spaß dar­an, uns die KFZ-Num­mern anzu­se­hen. IA war Ber­lin , die ande­ren weiß ich nicht. Ich glau­be, wir, das heißt unse­re Umge­bung, gehör­ten zu Han­no­ver und war IIIA. Inter­es­san­ter war für mich damals, dass die Wagen sich so ver­än­der­ten. Zum Bei­spiel die Schein­wer­fer oder die Fens­ter oder die Hupen. Wir setz­ten unse­ren Ehr­geiz dar­ein, die Autos mit ihrem Namen zu ken­nen: Opel, Adler, Ford — aber damit war mein Bedarf dann auch gedeckt. Wir hat­ten kein Auto, mein Vater spar­te auf einen VW.

Spä­ter kamen dann die Blau­en Jungs. Die mar­schier­ten mit Gesang durch die Stra­ße, mal in blau, mal in Trai­nings­zeug. Irgend­wo im Süden hat­ten sie einen Trai­nings­platz — und im Nor­den war ihre Kaser­ne. Und hin und wie­der war es auch braun. Ich hat­te immer mei­nen Spaß an den Dane­ben­lau­fen­den, die dann immer “links, links, links zwo drei vier” schrien um eini­ger­ma­ßen Gleich­schritt in die Trup­pe zu kriegen.

Noch konn­te man quer über die Stra­ße zur ande­ren Sei­te lau­fen. Damit war irgend­wann Schluss. Ein Schu­po stand in der Mit­te der Georg­stra­ße, da wo sich die Bucht- und die Ram­sau­er­stra­ße tra­fen, und regel­te den Ver­kehr. Wir Kin­der spiel­ten mit Oma und Opa ein Brett­spiel, das uns die Ver­kehrs­re­geln beibrachte.

Nur frei­tags­nachts war von der neu­en Ord­nung nichts mehr zu spü­ren. Dann beka­men die Arbei­ter von See­becks Werft ihren Lohn. Wer nicht schon am Tor von sei­ner Frau abge­fan­gen wor­den war und mit dem Zug nach Haus fah­ren muss­te, kam auf dem Weg zum Bahn­hof durch die Ram­sau­er­stra­ße, in der es eine Knei­pe gab. Von unse­rem Kin­der­zim­mer­fens­ter aus konn­te man direkt in die Ram­sau­er­stra­ße sehen. Wenn wir in unse­ren Bet­ten lagen, hör­ten wir dann die Grö­le­rei und spä­ter den Krach beim Ver­las­sen des Lokals.

Eines Nachts war es anders, es war kein Frei­tag und kein Sau­ferei­ge­grö­le, es war ein ande­res Gegrö­le und viel, viel Schei­ben­ge­klir­re. Es war, als leg­te sich ein schwe­res Brett über uns. Wir Kin­der ver­such­ten, aus dem Fens­ter zu sehen, wur­den aber von den Eltern zurück­ge­hal­ten. An irgend­wel­che Gesprä­che mit ihnen kann ich mich nicht erin­nern. Es war der 9. Novem­ber 1937. Auch an Rauch­ge­ruch kann ich mich nicht erinnern.

Am nächs­ten Tag fehl­te Hen­ni Horn­berg in der Klas­se. Hen­ni war Jüdin und saß in der Bank­rei­he neben mir auf der ande­ren Sei­te. Ich wuss­te, dass ich nicht mit ihr und sie nicht mit mir spre­chen durf­te. Hat­te es aber den­noch getan. Wir hat­ten eine Leh­re­rin, Fräu­lein Jun­ge, die so war, wie ein Mensch sein muss. Und eine Leh­re­rin ist für alle da. Und so ach­te­te sie immer dar­auf, dass Hen­ni eine Schü­le­rin wie alle ande­ren war. Ob Fräu­lein Jun­ge nicht merk­te, dass ich mit Hen­ni sprach, glau­be ich nicht, denn sie bemerk­te in mei­nem Zeug­nis: “Oda muss bedeu­tend ruhi­ger wer­den.” Aber zu mei­ner Quas­se­lei mit Hen­ni sag­te sie nie was.

Als Hen­ni dann wie­der­kam, frag­te ich sie sofort wegen der Nacht aus, und sie erzähl­te mir, dass man bei ihnen die Schei­ben ein­ge­schla­gen und ihren Vater mit­ge­nom­men hät­te. Ihrer klei­nen Schwes­ter haben sie dann gesagt, dass der Papa bald wie­der­kom­men und Bon­bons mit­brin­gen wür­de. Das war das Letz­te, was ich von Hen­ni weiß. Spä­ter, als ich mal einen Tag nicht in der Klas­se war, sind — so wur­de mir spä­ter erzählt — zwei Män­ner in Män­teln gekom­men und haben sie abge­holt. Da hat Fräu­lein Jun­ge dar­um gebe­ten, dass Hen­ni noch ein Lied für alle singt, weil sie das so gern tat. Als Jüdin durf­te sie zwar kei­ne “deut­schen” Lie­der sin­gen. Aber gegen jüdi­sche Kom­po­nis­ten war nichts ein­zu­wen­den. Also sang sie “Ich hab ein Diw­an­püpp­chen süß und rei­zend wie du” aus einer Ope­ret­te von Paul Abra­ham, das sie auch liebte.

Jah­re spä­ter las ich, dass sie und ihre Fami­lie in Minsk umge­bracht wor­den ist. Mei­ne Mut­ter und ich lasen das zusam­men anläss­lich einer Ver­an­stal­tung. Für mei­ne Mut­ter wur­den vie­le Erin­ne­run­gen wach, und sie erzähl­te mir von jüdi­schen Geschäfts­leu­ten, bei denen sie und die bei ihrem Vater Kun­den gewe­sen waren und wel­che guten Geschäfts­ver­bin­dun­gen man pfleg­te. Als sie zum Bei­spiel in der Kai­ser­zeit ihren ers­ten Faschings­ball hat­te, beriet sie einer der Her­ren. Und Fräu­lein Lieb­mann, deren Geschäft spä­ter ari­siert wur­de, hat­te immer etwas Beson­de­res für sie. Sie wur­de auch umge­bracht. Mei­ne Mut­ter sprach noch jah­re­lang von ihr.

Uns gegen­über, Ecke Ram­sau­er­stra­ße, war Anton Kohn. Mein Groß­va­ter und spä­ter mein Vater stan­den immer mal im gro­ßen Haus­ein­gang um “fri­sche Luft zu schnap­pen”. Da pas­sier­te es häu­fig, dass Herr Kohn sich zu ihnen gesell­te. Wir kauf­ten oft bei ihm, beson­ders in den “wei­ßen Wochen”. Und er war Kun­de von uns. Fräu­lein Lieb­mann natür­lich auch. Eines Tages war sein Geschäft arisiert.

Mei­ne Groß­el­tern hat­ten ein jun­ges Mäd­chen im Haus­halt, das vor­her bei Juden gear­bei­tet hat­te. Natür­lich frag­te mei­ne Mut­ter sie danach aus. Dadurch erfuhr sie etwas über die Sit­ten und konn­te Jah­re spä­ter mir von Milch­ding­tisch und Fleisch­ding­tisch erzäh­len, von koscher und von Rabbi.

Mei­ne Mut­ter hat­te noch inten­si­ver in das jüdi­sche Leben sehen kön­nen. Am 10. Novem­ber 1937 ging sie mit mir zusam­men zur bren­nen­den Syn­ago­ge an der Elbe­stra­ße. Sie brann­te nicht lich­ter­loh, man konn­te sie betre­ten. Ich habe mei­ne Mut­ter nie wie­der so bedrückt gese­hen. Sie wirk­te wie irgend­was Ver­lo­re­nes. Geweint hat sie nicht, auch nicht unter­drückt. Dann trat sie an das Har­mo­ni­um und nahm die ver­kohl­ten Noten­blät­ter in die Hand. Ich glau­be, sie hat mich gar nicht wahr­ge­nom­men — oder war inner­lich froh, mich bei sich zu haben. Vie­le Jah­re spä­ter erzähl­te sie mir, dass sie eine Klas­sen­ka­me­ra­din gehabt hät­te, die sie zu sich, zu ihrer Fami­lie ein­ge­la­den hät­te. Ihr Vater war Kan­tor in der Syn­ago­ge und wohn­te mit sei­ner Fami­lie auch dort. Natür­lich war mei­ne Mut­ter damals der Ein­la­dung gern gefolgt.

Wie man auf dem Bild sehen kann, sind die Häu­ser nicht Wand an Wand gebaut wor­den. Zwi­schen den Häu­ser­wän­den war jeweils ein Sicher­heits­gang wegen even­tu­el­ler Feu­ers­ge­fahr. Das war nicht bei allen Häu­ser­zei­len der Fall. Man­che hat­ten brei­te Gän­ge. Ich glau­be, das waren frü­her Ein­fahr­ten zum Hof gewe­sen — wie bei uns. Auch in der Thee­stra­ße 7, in dem Haus mei­nes Urgroß­va­ters Schmidt, und auch im alten Harz­mey­er­schen Haus war die Ein­fahrt inner­halb des Hau­ses. Von dort gelang­te man ins Trep­pen­haus. Wenn wir nicht erwischt wur­den, spiel­ten wir gern bei schlech­tem Wet­ter in die­sen geschütz­ten Räu­men. Aber das hat­ten die Bewoh­ner nicht so gern, denn wir waren ja nicht lei­se, und mit Roll­schu­hen auf Flie­sen — das macht Krach.

Ein Zwi­schen­gang war am Ende des Hau­ses Georg­stra­ße 45, das spä­ter das Kino “Metro­pol” war. Die­ser Gang war von unse­rem Gar­ten aus über eine Grot­te zu errei­chen. Natür­lich war uns ver­bo­ten, über die­se Grot­te zu stei­gen. Aber natür­lich taten wir es doch. Die Toi­let­ten­fens­ter des Kinos lagen näm­lich zu die­sem Gang hin. Da wäre es doch ein leich­tes gewe­sen, auf die­sem Weg umsonst einen Film sehen zu kön­nen. Ja, wenn unse­re Bei­ne lang genug gewe­sen wären. So blieb uns nur das Zuhö­ren, wenn bei war­men Wet­ter die Fens­ter zu unse­rem Hof geöff­net wur­den. Ver­stan­den haben wir nichts. Nur die Lach­sal­ven und die Musik waren hörbar.

Ich kann mich nicht mehr an ein­zel­ne Geschäf­te erin­nern. Wenn mei­ne Mut­ter und ihre Freun­din­nen in Erin­ne­run­gen kram­ten, kamen oft ganz unter­schied­li­che Fir­men­na­men ins Gespräch, weil ja im Lau­fe der Jah­re die Besit­zer wech­sel­ten. Für uns Kin­der waren meis­tens auch nur die inter­es­sant, bei denen es “sich lohnte”.

Da war denn am nächst­ge­le­ge­nen das Schuh­haus Staf­felt in Georgsta­ße 41. Mein Urgroß­va­ter Her­mann Harz­mey­er war längst tot und sein Sohn — Her­mann H. Harz­mey­er — auch. Der Nach­fol­ger war Hugo Staf­felt. Natür­lich war für uns Kin­der kein Unter­schied, ob Onkel Her­mann oder Staf­felt. Und immer “gab es was zu”. Da ich ange­hal­ten war, nie etwas für mich allein zu erwar­ten, son­dern auch für mei­nen klei­nen Bru­der, den ich “Bibi” (Baby) nann­te, zu bit­ten, mach­ten sich Staf­felts einen Spaß dar­aus, mir alle Klei­nig­kei­ten nur ein­mal zu geben. Und prompt kam dann auch von mir: “Und ein für mein Bibi.”

Georg­stra­ße 39 war das Lebens­mit­tel­ge­schäft von See. Wohl­ge­merkt: zu mei­ner Zeit. Ich glau­be aber, dass da vor­her Duben­horst war. Wir konn­ten das vom Erker sehen. Zwi­schen Georg­stra­ße 39 und 37 war ein brei­ter Gang, durch den wir im Krieg zum dahin­ter­lie­gen­den Bun­ker lie­fen, wenn die Sire­nen heulten.

Georg­stra­ße 37 war — glau­be ich — Leder­wa­ren Reu­sche. Sie mach­ten nach dem Angriff auf der Weser­stra­ße ein Geschäft auf. In dem Haus in der Georg­stra­ße war noch ein Laden. Ich habe noch so Erin­ne­rung an Namen wie Korff oder Jor­dan und an Hüte. Was davon wohin gehört, weiß ich nicht.

Um so bes­ser bleibt mir sicher­lich bis an mein Lebens­en­de Frau Rog­ge in Georg­stra­ße 35. Frau Rog­ge hat­te eine Dro­ge­rie und zwei Söh­ne. Der eine hieß Eilert. Mehr weiß ich nicht von ihm Aber der Name gefiel mir so gut. Ob es einen Herrn Rog­ge gab und wie der ande­re Sohn hieß, weiß ich auch nicht. Aber es gab ja Frau Rog­ge! Wenn sie nichts zu tun hat­te und wir auf der Stra­ße spiel­ten, hat­te sie immer ein lie­bes oder lus­ti­ges Wort für uns. Sie stand dann gern in ihrer Laden­tür, wie ande­re Inha­ber es auch taten. Mir woll­te sie immer ein­re­den, dass ich eigent­lich “Sie­da” hie­ße. Denn als ich gebo­ren wor­den war und mein Vater mich hat sehen wol­len, konn­te er mich nicht im Bett fin­den, weil ich ja so klein war. Als er dann aber doch Erfolg hat­te, soll er erfreut geru­fen haben: “Sieh, da ist sie ja!”. Trotz etli­cher Wie­der­ho­lun­gen habe ich es ihr nicht geglaubt.

Geliebt habe ich sie aber wegen der Sal­mi­ak­pas­til­len. Wir muss­ten dann zu ihr in den Laden kom­men, Zun­ge raus­ste­cken und jeweils an einer Sal­mi­ak­pas­til­le lecken, die sie uns dann mit ande­ren zusam­men zu einem Stern auf unse­ren Hand­rü­cken kleb­te. Noch heu­te esse ich gern Sal­mi­ak­pas­til­len und den­ke dabei an Frau Rog­ge. Was aus ihr gewor­den ist, weiß ich nicht.

Ich glau­be, das Neben­haus war Bet­ten-Helm­ke. Dort wohn­te jeden­falls eine alte Dame mit einem Reh­pin­scher. Wenn die bei­den auf die Stra­ße kamen und wir mit unse­ren Pup­pen­wa­gen dort bereits spa­zier­ten, muss­te das arme Vieh dran glau­ben: es wur­de kut­schiert. Hat ihm wohl auch Spaß gemacht, denn ich kann mich nicht ans Gegen­teil erinnern.

Das war die Sache mit “Effie”, einem klei­nen lang­haa­ri­gen schwarz-wei­ßen Hund, der Fräu­lein Küp­pers gehör­te. Fräu­lein Küp­pers hat­te nicht nur die­se Furie von Hund, son­dern auch ein Mie­der­ge­schäft im Harz­mey­er­schen Haus, zwi­schen Staf­felt und Blu­men­haus Freund. Freund war spä­ter in unse­rem Haus, Staf­felt Ecke Loth­rin­ger- und Schil­ler­stra­ße und Fräu­lein Küp­pers in der Nähe des Hauptbahnhofes.

Was nach Bet­ten­haus Helm­ke kam, weiß ich im Ein­zel­nen nicht mehr. Es waren klei­ne Häu­ser. Und als Läden weiß ich nur noch Schlach­te­rei Bode, Fri­seur von Lie­nen, (hat ver­mut­lich bis Anfang der 20er Jah­re mei­nem Groß­va­ter Andre­as Kelch gehört), “Weser­mün­der Neu­es­te Nach­rich­ten”, Wirt­schaft Morg­ner, Bäcker Lin­de­mann, Fisch­ge­schäft Wes­ter­mann und Uhr­ma­cher (spä­ter Opti­ker) Baier.

Viel­leicht habe ich da was durch­ein­an­der bekom­men. Aber soviel weiß ich: Der Uhr­ma­cher Fried­rich Bai­er hat­te eine Frau Sophie, geb. Schmidt, Toch­ter von Kup­fer­schmied Schmidt aus der Thee­stra­ße. Ihre Schwes­ter war Lina, ihr Nach­bar der Bar­bier Andre­as Kelch. Sie konn­ten zusam­men nicht kom­men, denn er war Thü­rin­ger, sprach ein ande­res Deutsch und war trotz vie­ler Anstren­gun­gen kein Bür­ger Geest­e­mün­des. Und sowas hei­ra­tet man nicht. Aber wer sich nicht zu hel­fen weiß, ist es nicht wert, dass er in Ver­le­gen­heit gerät. Also: er schwän­ger­te sie und so wur­den sie spä­ter mei­ne Großeltern.

Nach die­sem Gebäu­de­kom­plex kam die Kreuz­stra­ße — und damit das Ende mei­ner Erin­ne­run­gen von die­ser Stra­ßen­sei­te. Gegen­über begann es mit dem Eck­haus von Ples­se. Ich weiß dann noch, dass dort auch eine Buch­hand­lung war, in der Fräu­lein Müg­ge arbei­te­te. Danach kam ver­mut­lich Aron­heim, bei dem wir Kin­der gern kauf­ten, weil er wie alle jüdi­schen Geschäf­te bil­lig war.

Ein gro­ßes Haus war Gör­del. Ich mei­ne, mei­ne Mut­ter habe mir erzählt, dass dies renom­mier­te Beklei­dungs­ge­schäft vor der Ari­sie­rung Lieb­mann gehört habe, wo sie so gern kauf­te. Wei­ter gen Süden gab es noch Hüte und Wäsche Bösch. Eins von den bei­den Geschäf­ten gab es noch lan­ge nach dem Krieg. Ich habe dort gern und man­chen Hut gekauft.

Ecke Arndt­stra­ße war eine Gast­wirt­schaft. Den Namen habe ich ver­ges­sen, ich weiß nur, dass dort die Bus­se nach Bever­stedt abfuh­ren. Dann sind mir noch die Geschäf­te von Specht, Nie­mey­er und Becken in Erin­ne­rung, die ja noch lan­ge nach dem Krieg exis­tier­ten. Und die Nord­deut­sche Kre­dit­bank mit ihrem Gie­bel, der mich immer an die nord­deut­sche Renais­sance erin­ner­te. Von unse­rem Kin­der­zim­mer­fens­ter aus habe ich oft den Gro­ßen Bären dar­über ste­hen sehen.

Ecke Thee­stra­ße war Elek­tro­ge­schäft Rei­chelt. Dahin muss­te ich immer mit unse­rer Haus­ge­hil­fin gehen, um den Akku für das Radio auf­la­den zu las­sen, das mein Vater selbst gebas­telt hat­te. Das war immer sehr span­nend für mich, denn ich ver­stand die gan­ze Cho­se nicht. Zuerst konn­ten wir noch ein­fach quer über die Stra­ße lau­fen. Spä­ter, als der Schu­po dort stand, muss­ten wir uns an die Ver­kehrs­re­geln halten.

Dann kam Por­zel­lan-Peter­sen. Auch das war span­nend für mich. Der Inha­ber hieß näm­lich mit Vor­na­men “Mein­hard” — und einen sol­chen Namen hat­te ich noch nie gehört. Ecke Ram­sau­er­stra­ße war das Weiß­wa­ren­ge­schäft (?) Anton Kohn, das spä­ter eben­falls ari­siert wur­de. An der süd­li­chen Ecke der Ram­sau­er­stra­ße stand — und das Gebäu­de steht heu­te noch — die Hirsch­apo­the­ke mit dem gol­de­nen Hirsch auf dem Vor­dach. Anschlie­ßend hat­te Jans­sen sein Por­zel­lan­ge­schäft. Was für Häu­ser und Geschäf­te sich anschlos­sen, weiß ich nicht mehr.

Es war da ein ziem­lich alt­mo­di­sches Wäsche­ge­schäft, Eisen­wa­ren Daetz, irgend­wo auch eine Samen­hand­lung Petrasch, bei der wir Fut­ter für unse­ren Wel­len­sit­tich kauf­ten, und die Spe­di­ti­on Ges­wein, die frü­her auch die Feu­er­wehr stell­te und mit viel Krach mit den Pfer­den durch die Georg­stra­ße saus­te. Was danach kam, weiß ich erst recht nicht. Es gab da noch eine Schmie­de und Bau­ern­häu­ser — aber das war wohl in einer Neben­stra­ße. Auf der gegen­über­lie­gen­den Georg­stra­ßen­sei­te — also der öst­li­chen — gab es Schreib­wa­ren Schwert­fe­ger mit der sin­ni­gen Inschrift am Haus: “Ora et labo­ra”, womit sicher­lich nicht Bene­dicts Män­ner gemeint waren.

Die Häu­ser, die dann in Rich­tung Bucht­stra­ße stan­den, ken­ne ich zum Teil nicht mehr, und die Rei­hen­fol­ge schon gar nicht. Da war das Scho­ko­la­den­ge­schäft von Frau Rook. Scha­de, dass es so etwas Außer­ge­wöhn­li­ches nicht mehr gibt. Mei­ne Mut­ter bat mei­nen Vater häu­fig, ihr von Frau Rook Cognac­boh­nen mit­zu­brin­gen. Mein Vater nahm dann eine Akten­ta­sche mit, damit man nicht erken­nen konn­te, dass er “ein­hol­te”.

Uhr­ma­cher Stu­te war auch  da, ent­we­der auf der öst­li­chen oder west­li­chen Sei­te. Und I.G. Schmidt, der Ofen­händ­ler. Und ein Elek­tro­ge­schäft. Und ein Café oder Eis­ca­fé — öst­lich oder west­lich. Und Scho­cken, das spä­ter Mer­kur wur­de, dann kam Kauf­mann Lüt­h­je, bei dem es lecke­re grü­ne Bon­bons gab und wo man meh­re­re Stu­fen hin­auf­klet­tern musste.

An der Ecke Buch­stra­ße kam dann das Kropp­sche Haus, in dem unten die Geschäf­te Ten­gel­mann, der Bar­bier Pipo­wa­ski und das Schreib­wa­ren­ge­schäft Wolf (Fräu­lein Jul­chen) war. Die bei­den letz­ten Grund­stü­cke wur­den von der Stadt für die Erwei­te­rung der Bucht­stra­ße nach dem Krieg ein­ge­zo­gen. Eben­so erging es unse­rem Neben­grund­stück. Aller­dings woll­te ein Inter­es­sent in den 50er Jah­ren dar­auf ein viel­stö­cki­ges Wohn­haus bau­en. Da hat mei­ne Mut­ter aber schärfs­tens pro­tes­tiert. So ein Koloss hät­te ja alles Licht für die Nach­barn verbannt.

Erinnerungen an meine Georgstraße

Am 18. Sep­tem­ber sind es 70 Jah­re her, dass ein Bom­ben­an­griff der alten Georg­stra­ße den Gar­aus mach­te. Mein Vater hat es nicht mehr erlebt. Er war am 1. Sep­tem­ber gestor­ben. Mein Bru­der war seit August auf einem Inter­nat, mei­ne Groß­el­tern kamen beim Bom­ben­an­griff um, mei­ne Tan­ten und alle übri­gen Ver­wand­ten waren in alle Win­de zer­streut. Mei­ne Mut­ter und ich waren plötz­lich allein.
Lie­be Leser, wenn Ihr mögt, schreibt doch eben­falls Eure Erin­ne­run­gen an Bre­mer­ha­ven auf und sen­det sie mir zu. Ich wür­de sie hier ger­ne ver­öf­fent­li­chen, weil ich glau­be, dass Eure Erin­ne­run­gen nicht in Ver­ges­sen­heit gera­ten sollten.