Erich Sturk: Erinnerungen an den 18. September 1944 in Bremerhaven

In “Erin­ne­run­gen an den 18. Sep­tem­ber 1944 in Bre­mer­ha­ven” beschreibt Leser Erich Sturk sei­ne Gedan­ken an den ver­hee­ren­den Luft­an­griff, in des­sen Ver­lauf Bom­ber der Roy­al Air Force inner­halb von 20 Minu­ten die heu­ti­gen Bre­mer­ha­ve­ner Stadt­tei­le Mit­te und Geest­e­mün­de fast kom­plett zer­stör­ten. Erich Sturk kann das Erleb­te nicht ver­ges­sen, und es ist ihm ein Her­zens­wunsch, dass sei­ne per­sön­li­chen Erin­ne­run­gen hier im Deich­SPIE­GEL ver­öf­fent­licht werden. 

Erinnerungen an den 18. September 1944

Ich war damals 13 Jah­re alt und wohn­te in mei­nem Eltern­haus in Weser­mün­de-Geest­e­mün­de, Bucht­stra­ße 8–10/Ecke Neu­markt­stra­ße. Weser­mün­de war bis zu die­sem Zeit­punkt im Gegen­satz zu ande­ren Groß­städ­ten von Groß­an­grif­fen der alli­ier­ten Bom­ber ver­schont geblie­ben. Zwar waren im Ver­lau­fe des Krie­ges schon eini­ge Bom­ben gefal­len, aber es han­del­te sich anschei­nend um Not­ab­wür­fe der Bom­ber beim Rück­flug von ihren Einsatzzielen.

Bereits 1940 war eine Stab­brand­bom­be auf unse­re Tisch­ler­werk­statt gefal­len, die das Dach und die Boden­de­cke durch­schlug und auf der Fur­nier­pres­se lie­gen blieb und aus­brann­te, ohne Scha­den anzu­rich­ten, da mein Vater den Feu­er­schein gese­hen hat­te und wir in die Werk­statt lie­fen und die Bom­be mit Lösch­sand abdeck­ten. Grö­ße­re Schä­den wur­den bei die­sen Not­ab­wür­fen in der Schil­ler­stra­ße, in Sur­hei­de und in Nordle­he verursacht.

Ab 1943 wur­den wir älte­ren Schü­ler zu einer Brand­wa­che in den Schu­len außer­halb der Schul­zeit ein­ge­teilt, nach­dem unser Schul­luft­schutz­wart, Herr Mey­er, uns ein­ge­wie­sen und an dem Blind­gän­ger einer Stab­brand­bom­be demons­triert hat­te, wie sie zu löschen war.

Im Herbst 1943 wech­sel­te ich von der All­mers­schu­le in den Auf­bau­zug der Hum­boldt­schu­le und wur­de von der dama­li­gen Kreis­lei­tung der Orts­grup­pe Neu­markt als Mel­der zuge­teilt. Für mich bedeu­te­te es, dass ich mit Stahl­helm und Gas­mas­ke zur Schu­le ging und mich bei Flie­ger­alarm im Büro der Ort­grup­pe ein­zu­fin­den hat­te, das sich in der Max-Died­rich-Stra­ße im Hau­se der Leih­bü­che­rei Hagen befand. Hier­für bekam ich einen Aus­weis, der mir erlaub­te, mich bei Alarm auf den Stra­ßen zu bewe­gen und auf den ich sehr stolz war.

Mein ers­ter gro­ßer Ein­satz fand am 15. Juni 1944 statt, als am Vor­mit­tag ein Flä­chen­bom­bar­de­ment auf den Stadt­teil Geest­e­mün­de erfolg­te. Ich erhielt vom Orts­grup­pen­lei­ter den Auf­trag, die ent­stan­de­nen Schä­den im Bereich der Orts­grup­pe Geest­e­mün­de zu ermit­teln und auf einem Mel­de­block fest­zu­hal­ten. Ich erin­ne­re mich an die unheim­li­che Stil­le, die auf den Stra­ßen herrsch­te und an den Geruch von Gas und Mör­tel­staub, der über dem Stadt­teil lag. Als ich in die Neu­markt­stra­ße kam, sah ich, dass eine Spreng­bom­be unser Haus knapp ver­fehlt hat­te und dass sich auf der Neu­markt­stra­ße ein gro­ßer Bom­ben­trich­ter befand.

Erinnerungen an den 18. September 1944

Die Angriffs­se­rie setz­te sich am 17. und 18. Juni mit Flä­chen­bom­bar­de­ments auf den Stadt­teil Lehe und auf den Fische­rei­ha­fen fort. Nach die­sen Angrif­fen wur­den wir vom Jung­volk aus zu Lösch- und Ber­gungs­ar­bei­ten ein­ge­setzt. Die ört­li­chen Tele­fon­lei­tun­gen bestan­den größ­ten­teils aus Frei­lei­tun­gen, die bei den Angrif­fen zer­stört wur­den, so dass eine Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen den Behör­den und Ein­satz­lei­tun­gen nicht mehr mög­lich war. Wir Jun­gen erhiel­ten den Auf­trag, in Zusam­men­ar­beit mit der Nach­rich­ten-HJ ein pro­vi­so­ri­sches Nach­rich­ten­netz aufzustellen.

Mit einem Hand­wa­gen zogen wir zum Flug­ha­fen Wed­de­war­den und erhiel­ten dort 2 Hand­ver­mitt­lun­gen, 25 Feld­fern­spre­cher und Rol­len mit Tele­fon­ka­beln. Mit dem Mate­ri­al konn­ten wir in den nächs­ten Tagen eine orts­über­grei­fen­de Ver­bin­dung aller wich­ti­gen Stel­len auf­bau­en. Die Ver­mitt­lun­gen befan­den sich in der Bann­dienst­stel­le in der Köper­stra­ße und im HJ-Heim Saar­park, wo wir anschlie­ßend abwech­selnd Ver­mitt­lungs­diens­te leisteten.

Die Angrif­fe auf die Stadt im Juni ver­an­lass­ten die Stadt­ver­wal­tung, die Schu­len zu schlie­ßen und die Schü­ler zu deren Sicher­heit im Rah­men der soge­nann­ten KLV (Kin­der­land­ver­schi­ckung) auf das plat­te Land zu schi­cken. Mit­te Juli 1944 ver­ließ ich mit mei­ner Klas­se, der A IV der Hum­boldt­schu­le, und mit unse­rem Klas­sen­leh­rer, dem Herrn Hage­mann, die Stadt mit einem Son­der­zug in Rich­tung Lüne­bur­ger Heide.

Vom Bahn­hof Bre­mer­vör­de ab ver­lie­ßen an jeder Sta­ti­on die ein­zel­nen Klas­sen den Zug zu ihren zuge­teil­ten Auf­ent­halts­or­ten. Wir ver­lie­ßen den Zug in Lau­en­brück im Kreis Roten­burg (Han) , ver­lu­den unser Gepäck auf einen bereit­ste­hen Acker­wa­gen und mar­schier­ten zu unse­rem Bestim­mungs­ort Stem­men, einem klei­nen Dorf am Ran­de der Lüne­bur­ger Hei­de, wo wir ver­teilt und von den Bau­ern in unse­re Quar­tie­re geführt wurden.

Hier ver­brach­ten wir den Som­mer mit Schul­un­ter­richt in der Dorf­schu­le, Ern­te­hil­fe, Kar­tof­fel­kä­fer- und Buch­eckern­samm­lun­gen und, wenn man Glück hat­te, mit dem Auf­fin­den von abge­wor­fe­nen Reser­ve­tanks der ers­ten Düsen­jä­ger, die zur Flug­ab­wehr auf dem Flug­platz Roten­burg ein­ge­setzt wur­den. Für das Auf­fin­den und Ablie­fern eines Tanks bekam man 10 RM. Nachts hör­te ich die Mäu­se unter mei­nem Bett nagen und die feind­li­chen Flie­ger in Rich­tung Ham­burg über mir brum­men, und wenn das Brum­men zu stark wur­de, weck­te mich der Bau­er, und wir such­ten einen pro­vi­so­ri­schen Split­ter­bun­ker auf, der sich auf dem Hof befand.

Erinnerungen an den 18. September 1944

Nach Ein­brin­gen der Kar­tof­fel­ern­te wur­de uns erlaubt, die Herbst­fe­ri­en zu Hau­se zu ver­brin­gen. Am Sonn­abend, dem 16. Sep­tem­ber 1944, fuh­ren wir gemein­sam mit unse­rem Klas­sen­leh­rer nach Weser­mün­de. Es war ein war­mer, son­ni­ger Herbst­tag, und ich erin­ne­re mich des hei­mat­li­chen Wohl­ge­fühls, das ich beim Ver­las­sen des Bahn­hofs Geest­e­mün­de emp­fand. Ich freu­te mich auf mein gemüt­li­ches Zim­mer zu Hau­se, das ich gegen mei­ne 4.00 qm gro­ße Kam­mer mit Bett und Stuhl beim Bau­ern tau­schen konn­te, und ich war der Hoff­nung, dass nach Ende der Feri­en der Krieg vor­über wäre und ich nicht in die Hei­de zurück müsste.

In die­ser Hoff­nung hat­te ich auch alle Sachen, die mir damals gehör­ten, mit­ge­nom­men und räum­te sie am dar­auf fol­gen­den Sonn­tag in alle Ruhe in mei­nem Zim­mer ein. Abends um halb zehn gab es wie immer Flie­ger­alarm, und wir such­ten den im Hau­se befind­li­chen Luft­schutz­kel­ler auf. Mon­tag, der 18. Sep­tem­ber 1944, war wie­der­um ein schö­ner son­ni­ger Herbst­tag, und ich genoss das Gefühl, zu Hau­se zu sein. Abends, gegen halb zehn, gab es wie üblich Flie­ger­alarm, und wir such­ten zusam­men mit den Haus­be­woh­nern den Luft­schutz­kel­ler auf.

Da unser Haus in der Umge­bung eines der größ­ten und wohl sta­bils­ten Häu­ser in der Umge­bung war, hat­te man in einem Bereich des Kel­lers einen soge­nann­ten „Öffent­li­chen Luft­schutz­raum“ mit Gas­schleu­se, Not­aus­gang, Feld­bet­ten, Che­mi­kal­toi­let­ten und allem not­wen­di­gen Zube­hör ein­ge­rich­tet, der ger­ne von den Anwoh­nern des nahe­lie­gen­den, soge­nann­ten Pasch­vier­tels, in dem sich nur klei­ne Häu­ser befan­den, auf­ge­sucht wur­de. Auch kamen oft Mari­ne­sol­da­ten, die sich in den umlie­gen­den Gast­stät­ten in der Ram­sau­er Stra­ße oder bei Café Reh­mann in der Georg­stra­ße auf­hiel­ten, hier­her. Mein Groß­va­ter war zusam­men mit einem Nach­barn, Herrn Dau­els­berg, als Luft­schutz­wart eingesetzt.

Zuerst ver­lief alles ganz nor­mal, und wir nah­men an, dass der Alarm nur den nach Ber­lin oder Ham­burg über der Deut­schen Bucht ein­flie­gen­den Bom­ber­ver­bän­den galt. Die Män­ner aus dem Hau­se und die Mari­ne­sol­da­ten stan­den im Hof vor der Haus­tür, rauch­ten und unter­hiel­ten sich, und ich stand natür­lich dabei. Die Flak schoss Sperr­feu­er, und als nach kur­zer Zeit der Flak­split­ter­re­gen begann, ging man in den Kel­ler zurück.

Das Brum­men der Flug­zeug­mo­to­ren wur­de jedoch unge­wöhn­lich stark, und nach kur­zer Zeit hör­te man die ers­ten Explo­sio­nen der Luft­mi­nen, die von den Bom­bern abge­wor­fen wur­den, um die Dächer auf­zu­rei­ßen und die Häu­ser für den Ein­satz der Brand­bom­ben vor­zu­be­rei­ten. Die Türen der Gas­schleu­sen wur­den geschlos­sen, und man hör­te die Bom­ben­ein­schlä­ge, wobei der Kel­ler­bo­den erzit­ter­te und das Licht fla­cker­te und erlosch. Frau Mül­ler, die bei uns im Hau­se wohn­te und schwer­hö­rig war, schau­te erschro­cken in unse­re Gesich­ter und frag­te, ob es schlimm sei.

Das nächs­te frem­de Geräusch war das Kla­cken der Stab­brand­bom­ben rings um das Haus und das Rol­len der Ben­zin­ka­nis­ter, die anschei­nend auf dem Dach­bo­den und auf dem Hof gelan­det waren. Nach eini­ger Zeit öff­ne­te mein Vater die Türen der Gas­schleu­se, und ich ging mit ihm auf den Kel­ler­gang hin­aus. Alle Fens­ter der Mie­ter­kel­ler waren von außen hell erleuch­tet, es knis­ter­te und ein star­ker Brand­ge­ruch mach­te sich bemerk­bar. Wir gin­gen in den Schutz­raum zurück und war­te­ten, bis die unab­läs­si­gen Explo­sio­nen nachließen.

Nach­dem es ruhi­ger gewor­den war, ging mein Vater aus dem Schutz­raum, um die Lage zu beur­tei­len. Er kam zurück und sag­te, dass das Haus und die Werk­statt in Flam­men stän­den. Eine Flucht über den Hof sei nicht mög­lich, da das dort gela­ger­te Holz, der Wagen­schup­pen und alle Zaun­pfäh­le brann­ten. Er ging noch ein­mal hin­aus, und ich folg­te ihm in unse­re Woh­nung im ers­ten Ober­ge­schoss. Im Trep­pen­haus, das aus einer höl­zer­nen, mit Lin­ole­um beleg­ten Trep­pe bestand, fie­len bereits bren­nen­de Tei­le bis ins Erd­ge­schoss. Ein Zugang zu den obe­ren Geschos­sen war nicht mehr möglich.

In unse­rer Woh­nung im Wohn­zim­mer war bereits ein gro­ßes Loch in der Decke, aus dem bren­nen­de Tei­le auf den polier­ten Wohn­zim­mer­tisch fie­len. Auto­ma­tisch zog mein Vater den Tisch bei Sei­te, da er es wohl als Tisch­ler­meis­ter nicht mit anse­hen konn­te, wie sein Meis­ter­werk ein Raub der Flam­men wur­de. Er rief mir zu, ich sol­le ver­su­chen, was ich an Wert­sa­chen tra­gen und in den Kel­ler brin­gen könn­te. Ich lief in mein Zim­mer, des­sen Fens­ter kei­ne Glas­schei­ben mehr hat­ten und wo sich die Gar­di­nen im ein­set­zen­den Feu­er­sturm auf­bau­sch­ten. Ich ergriff mei­ne Schul­ta­sche und mei­ne über alles gelieb­te Kod­ak Brow­ny, mei­ne 6 x 9 Foto — Box. Wir mach­ten den Weg noch eini­ge Male und brach­ten die Feder­bet­ten und ande­re wich­ti­ge Uten­si­li­en in den Kel­ler hinunter.

Mein Vater for­der­te die anwe­sen­den Mari­ne­sol­da­ten auf, mit nach oben zu kom­men und ret­ten zu hel­fen. Sie wag­ten sich ein­mal mit uns hin­auf, und plötz­lich waren sie ver­schwun­den. Dann war uns der Weg ver­sperrt, da mein Groß­va­ter wohl die Gefahr des bren­nen­den Trep­pen­hau­ses erkannt hat­te und den öffent­li­chen Luft­schutz­raum räu­men ließ. Die Leu­te kamen uns auf der Kel­ler­trep­pe ent­ge­gen und ver­lie­ßen das Haus zur Neu­markt­stra­ße hin durch die inzwi­schen glas­lo­sen Schau­fens­ter unse­res Möbel­ge­schäf­tes, da eine Flucht durch die Haus­tür über den Hof nicht mög­lich war.

Inzwi­schen hat­te sich der Brand des Trep­pen­hau­ses bis ins Erd­ge­schoss hin­ein aus­ge­brei­tet, und es wur­de daher auch für uns Haus­be­woh­ner die höchs­te Zeit, den Luft­schutz­raum zu ver­las­sen, da uns sonst der Weg ins Freie ver­sperrt sein wür­de. Mein Vater sag­te den fünf alten Damen, sie soll­ten ihre Woll­de­cken umhän­gen, das not­wen­digs­te Hand­ge­päck neh­men und ihm fol­gen. Er führ­te uns eben­falls durch das Möbel­ge­schäft und die zer­bro­che­nen Schau­fens­ter auf die Neu­markts­ra­ße. Von dort aus woll­ten wir ver­su­chen, den Neu­markt zu errei­chen, um in den dort vor­han­de­nen Split­ter­grä­ben Schutz zu finden.

Die Stra­ße war durch den Feu­er­schein der bren­nen­den Häu­ser in ein glut­ro­tes Licht getaucht, es hat­te sich ein Feu­er­sturm ent­facht, der einen Fun­ken­re­gen wie glü­hen­de Schnee­flo­cken vor sich her­trieb. Auf den Geh­we­gen und den Fahr­bah­nen steck­ten die Res­te der aus­ge­brann­ten Stab­brand­bom­ben wie Pil­ze im Wald­bo­den. Die zum Schutz umge­häng­ten Decken fin­gen durch den Fun­ken­re­gen sofort an zu schwe­len, und ich ver­such­te mit der blo­ßen Hand die Flo­cken abzu­schüt­teln. Wir erreich­ten die Split­ter­grä­ben, die in Höhe der Max-Died­rich-Stra­ße aus­ge­ho­ben waren und in die sich schon eine Men­schen­men­ge geflüch­tet hatte.

Wir fan­den einen frei­en Platz und ich half den alten Damen über den Schutz­wall in die Grä­ben zu gelan­gen. Um den Neu­markt her­um brann­ten alle Häu­ser, selbst das Dach des Was­ser­tur­mes stand in hel­len Flam­men. Ab und zu hör­te man star­ke Explo­si­ons­ge­räu­sche, und der Feu­er­sturm wur­de immer stär­ker und nahm einem die Luft zum Atmen. Ich wag­te den Weg zum Feu­er­lösch­teich, der sich hin­ter der Markt­hal­le zur Bül­ken­stras­se hin befand, und tauch­te die Woll­de­cken und Taschen­tü­cher dort ein und brach­te sie mei­ner Fami­lie, damit sie Schutz vor dem Fun­ken­re­gen hat­te und die nas­sen Taschen­tü­cher als Atem­schutz nut­zen konn­te. Immer mehr Men­schen kamen aus den anlie­gen­den Stra­ßen geflüch­tet und such­ten Schutz in den Grä­ben, und der Platz wur­de immer enger.

Das Zeit­ge­fühl war mir ver­lo­ren gegan­gen, und die Nacht schien mir end­los zu sein. Im Mor­gen­grau­en ließ der Feu­er­sturm etwas nach, und mein Vater wag­te den Weg zu unse­rem Haus. Er kam zurück und sag­te uns, es sei alles nie­der­ge­brannt, und wir wür­den ver­su­chen, einen Weg ins Freie zu fin­den. Ich lief noch ein­mal zum Feu­er­lösch­teich und durch­näss­te die Woll­de­cken. Wir häng­ten sie uns um und kro­chen aus den Gräben.

Zur Georg­stra­ße hin war uns der Weg durch die noch immer lodern­den Flam­men abge­schnit­ten, also über­quer­ten wir den Neu­markt in Rich­tung Was­ser­turm und gelang­ten über den Schul­hof der All­mers­schu­le zur Klop­stock­stra­ße und von dort zum Geest­e­mün­der Fried­hof. Hier hat­te der Brand nicht so stark gewü­tet, die Luft wur­de rei­ner, und ich begann, unter der nas­sen Woll­de­cke zu frie­ren. Mein Vater mach­te sich auf den Weg zur Hart­wig­stra­ße, wo mein Groß­va­ter einen Schre­ber­gar­ten besaß. Er kam zurück und sag­te, dass das Gar­ten­haus ste­hen geblie­ben war und wir dort Unter­schlupf fin­den wür­den. Wir bega­ben uns dort­hin und tra­fen dort auf mei­nen Groß­va­ter, der auf irgend­ei­nem Weg dort­hin gelangt war und gera­de Kaf­fee zube­rei­tet hat­te. Erschöpft lie­ßen wir uns nie­der, ich leg­te mich auf den Boden und schlief sofort ein.

Als ich gegen Mit­tag erwach­te, spür­te ich ein star­kes Bren­nen in den Augen und im Magen ein Übel­keits­ge­fühl. Mein Vater hat­te den Vor­mit­tag genutzt, um die Lage zu son­die­ren und hat­te dabei fest­ge­stellt, dass die NSV (Natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Volks­wohl­fahrt)  am Ein­gang des Bür­ger­parks auf dem Gelän­de des Café Roux eine Auf­fang­sta­ti­on mit Feld­kü­che und beleg­ten Bro­ten zur Ver­sor­gung ein­ge­rich­tet hatte.

Die Wie­se vor dem Café an der Hart­wig­stra­ße war vol­ler Men­schen, die in der nun war­men Son­ne mit ihren letz­ten Hab­se­lig­kei­ten lager­ten. Ich such­te eine DRK-Sta­ti­on auf und der anwe­sen­de Arzt stell­te bei mir eine Rauch­ver­gif­tung fest und ver­wies mich zur wei­te­ren Behand­lung an eine DRK-Sta­ti­on, die sich im alten Geest­e­mün­der Rat­haus in der heu­ti­gen Klus­smann­stra­ße befin­den soll­te. Ich mach­te mich am Nach­mit­tag auf den Weg dort­hin, durch die Bis­marck­stra­ße, an rau­chen­den Trüm­mern vor­bei und wur­de dort mit Augen­trop­fen behandelt.

Die dar­auf fol­gen­de Nacht ver­brach­ten wir alle im Gar­ten­haus an der Hart­wig­stra­ße. Am nächs­ten Mor­gen mach­te ich mich mit mei­nem Vater auf den Weg zu unse­rem Haus in der Bucht­stra­ße. Wir woll­ten ver­su­chen, in den Luft­schutz­kel­ler zu gelan­gen, um unse­re Sachen zu ber­gen. Die ein­ge­la­ger­ten Koh­len­vor­rä­te in den Mie­ter­kel­lern hat­ten jedoch Feu­er gefan­gen, der gan­ze Kel­ler glüh­te unter den Trüm­mern, und wir konn­ten nicht in den Schutz­raum vor­zu­drin­gen. Erst am nächs­ten Mor­gen gelang es uns zusam­men mit einem Ein­satz­trupp der Mari­ne, einen Zugang zu schaf­fen, und wir fan­den den Schutz­raum dank der ein­ge­bau­ten Abstei­fun­gen bis auf eine ver­brann­te Tür der Gas­schleu­se unver­sehrt vor.

Erinnerungen an den 18. September 1944

Es herrsch­te noch eine gro­ße Hit­ze dort unten, aber wir konn­ten unser Luft­schutz­ge­päck und die geret­te­ten Feder­bet­ten auf die Stra­ße brin­gen. Zu mei­ner gro­ßen Freu­de fand ich auch mei­ne Kod­ak­box unver­sehrt vor, in der sich noch ein Film befand, und ich mach­te ver­bo­te­ner­wei­se die anlie­gen­den Auf­nah­men von unse­rem Haus und der Umgebung.

Die Mari­ner durch­such­ten auch die Räu­me des öffent­li­chen Schutz­rau­mes und fan­den dort eine Lei­che, die dann als der Nacht­wäch­ter des gegen­über­lie­gen­den Kinos „Metro­pol“ iden­ti­fi­ziert wur­de. Er muss­te sich nach unse­rem Ver­las­sen der Schutz­räu­me dort­hin geflüch­tet haben und war dann dort erstickt. Es war die ers­te Lei­che, die ich mei­nem Leben sah, und es hat mich sehr erschüttert.

Die NSV orga­ni­sier­te die Eva­ku­ie­rung der obdach­lo­sen Ein­woh­ner in die umlie­gen­den Dör­fer und mei­ne Groß­el­tern gelang­ten dadurch in den Ort Hei­ne bei Stub­ben. Mei­ne Fami­lie und ich fan­den dann nach eini­gen Tagen Quar­tier bei einer befreun­de­ten Fami­lie in der Elsäs­ser Stra­ße, bei der wir die nächs­ten vier Jah­re gewohnt haben.
Bre­mer­ha­ven, im Juli 2004 | Erich Sturk

Vie­len Dank an Herrn Erich Sturk, dass er die Leser des Deich­SPIE­GELS an sei­nen Erin­ne­run­gen teil­ha­ben lässt.